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Stadionatmosphäre. Das Estadio Pedro Bidegain im Stadtteil Nueva Pompeya ist nur die vorübergehende Heimat San Lorenzos.

© Jorge Osuna

Fußball-Lieder: Die Meistersinger von Buenos Aires

Sie gelten als die kreativsten Fußballfans, ihre Lieder werden in Stadien von England bis Italien kopiert. Die Anhänger des Vereins San Lorenzo ziehen ihre Kraft aus der Tradition – und aus einem schmerzhaften Verlust.

Pascal Deppe scheint ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Blonde Haare, Fünftagebart, Niedersachse, in einer festen Beziehung, kaum Hobbys, wie er sagt. Er wohnt in Leipzig und hat dort lange im Rathaus gearbeitet, einer Institution der Gewöhnlichkeit. Gut, da wäre eine Sache: Wochenends dreht Deppe durch.

Er steht dann mitten in der Nacht auf, freitags, samstags oder sonntags, je nachdem wie 11 800 Kilometer entfernt die argentinische Fußballliga ihre Spiele terminiert. Deppe schaltet den Laptop an, seine Freundin schläft tief und fest neben ihm. Das Spiel beginnt.

Pascal Deppe war in Fußballstadien auf der ganzen Welt, in Marokko, Uruguay und Italien, 570 Stadien hat er gesehen, 1400 Spiele. Eine Mannschaft hat es ihm dabei so angetan, dass seine Freundin nun nachts aufwacht, wenn er durchs Zimmer schreit: „Gooooooooool!“

Diego Maradona hätte gern für San Lorenzo gespielt

Deppe liebt den Fußballverein Club Athlético San Lorenzo de Almagro, beheimatet in Buenos Aires, Argentinien. Deppe sagt, er sei außerhalb Argentiniens vielleicht deren größter Fan. Für San Lorenzo reicht er Urlaub ein, über San Lorenzo schreibt er täglich mit seinen argentinischen Freunden bei WhatsApp, wegen San Lorenzo schaltet er, wenn er nachts beim Bezahlsender Dazn die Spiele guckt, die Stimme des Moderators aus. Weil er im Hintergrund die Fans singen hören will.

„Die besten der Welt“, sagt Deppe.

Eins haben Fußballfans weltweit gemein. Sie denken gern, sie seien die lautesten, wildesten, lustigsten. Die San Lorencistas denken das auch, nur haben sie Beweise: Unter jedes neue Video, das sie von sich singend bei YouTube hochladen, schreiben Fans von anderen Klubs, dass sie San Lorenzo bewundern. „Wir singen eure Lieder in Madrid.“ Oder: „Ich bin Tottenham-Fan, aber so was habe ich noch nie gesehen.“ Und sogar Diego Maradona, der Hunderte Tribünen vom Rasen aus erlebt hat, schreibt in seiner Biografie: „Für mich sind die San-Lorenzo-Fans die genialsten der Welt. Ich hätte gern für den Verein gespielt.“ Sätze eines Mannes, der für die Boca Juniors auflief – San Lorenzos Erzrivalen.

„Was können wir tun, wenn wir so schwach sind?“

220 Millionen Euro für den Brasilianer Neymar, eine WM, die jetzt in Russland stattfindet, wo Oppositionelle weggesperrt werden. Die nächste folgt in Katar, mehr als 1000 nepalesische Arbeiter sind bereits tot, gestorben auf den WM-Baustellen. Der Fußball, hört man in diesen Tagen oft, habe den Bezug zum Alltag der Menschen verloren.

Und es stimmt ja. Die Fans der Bundesligisten protestieren gegen Montagsspiele, aber niemand hört ihnen zu. „Was können wir tun, wenn wir so schwach sind? Wir investieren jeden Tag Stunden, jedes Jahr Monate und schließlich Jahre eines Lebens in etwas, über das wir keine Kontrolle haben“, schreibt Nick Hornby in „Fever Pitch“, dem Fußballroman. Was können wir tun? Vielleicht nach Argentinien blicken, auf diesen Klub, dessen Superkraft nicht ein Mäzen ist, sondern Gesang. Dessen Trademark nicht teure Spieler oder Trainer sind, sondern Fans. Im modernen Fußball ist das eine ganze Menge.

Buenos Aires, ein Freitagabend Ende Mai. Der Regen fällt auf erhitzte Straßen, die Luft riecht nach Teer. Gabriel steuert seinen Fiat nach Nueva Pompeya, dem Stadtteil, in dem San Lorenzo derzeit seine Spiele austrägt. Er hat schwarze Haare und ein schmales Gesicht, mit etwas Fantasie erinnert er an einen Raben, das Maskottchen San Lorenzos. Gabriel ist nervös. Auf die popular local, die Tribüne der San-Lorenzo-Ultras, dürfen eigentlich nur Mitglieder des Klubs, keine Journalisten. Es wechseln nun, vor dem Stadion, 500 Argentinische Pesos, knapp 16 Euro, den Besitzer und die Welt sieht schon anders aus.

„Ich komme aus dem Stadtviertel Boedo …“

San-Lorenzo-Fans feiern ihre Mannschaft bei jedem Spiel.
San-Lorenzo-Fans feiern ihre Mannschaft bei jedem Spiel.

© Jorge Osuna

Gabriel klettert die steilen Stufen der Tribüne hoch. Die Trommel wummert, in der Nähe bläst jemand in eine Trompete. Lange Stoffbahnen in Blau und Rot wiegen sich im Wind, Regen pappt Gabriel die schwarzen Haare an den Kopf, er zieht sich die Kapuze über, schlüpft zwischen den dicht stehenden Fans hindurch und umarmt seine Freunde: Juan Manuel, Juan Cruz, Diego, Antonella. Die Gruppe nennt sich „Escuela de Tablones“, die Schule der Tribünen. „Weil die anderen von uns noch was lernen können“, sagt Gabriel.

Im Stadion pfeift der Schiedsrichter das Spiel an, Gabriel und die Mädels und Jungs, mehr Jungs als Mädels, stimmen ein Lied an. Sie schwingen dabei ihre Arme über dem Kopf, als wären sie bei einem Rap-Konzert. Gabriel lächelt und zeigt auf seinen Freund Juan Manuel. „Den Song hat er erfunden!“ Der Gesang schwillt vom melodischen Liedchen zu einem Chor der Massen, bis schließlich das ganze Stadion singt: „Vengo del Barrio de Boedo …“. Auf Deutsch: „Ich komme aus dem Stadtviertel Boedo …“

2011 entdeckte Juan Manuel die Melodie des Songs in der Schallplattensammlung seines Vaters. „Bad Moon Rising“ hieß die Platte von Creedence Clearwater Revival. Die Töne krochen in seinen Kopf und setzten sich fest. Er dichtete das Lied um und tippte seine Version in die WhatsApp-Gruppe der „Escuela de Tablones“. Die anderen waren begeistert.

2011 geschah auf dem Feld das Unwahrscheinliche

So läuft das immer: Einer hat eine Idee, dann treffen sie sich, spielen das Lied mit Instrumenten ein, schnippeln den Text zurecht und drehen ein Video von sich, singend. Das Video geht dann an die Fans der popular local, die es einüben: auf dem Weg zur Arbeit, bei der Arbeit, zu Hause. Beim nächsten Spiel singen sie es im Stadion.

Damals, 2011, stand San Lorenzo kurz vor dem Abstieg in die zweite Liga. Es brauchte einen Sieg im letzten Spiel gegen die Newell’s Old Boys aus Rosario, doch zur Halbzeit lag das Team bereits 0:2 zurück. Da stimmten Juan Manuel und die Jungs „Vengo del Barrio de Boedo“ an, schrien immer lauter, 45 Minuten lang, völlig ekstatisch – während auf dem Feld das Unwahrscheinliche geschah.

San Lorenzo schoss drei Tore, verhinderte den Abstieg und Juan Manuels Lied wurde zur Hymne. Aufnahmen von diesem Tag zeigen einen blinden Fan, der weinend im Stadion steht, in der Hand ein Radio, auf den Lippen eine Zeile des Lieds: „Ich schwöre dir, wir werden bei dir sein, auch in den schlechtesten Momenten.“

„Vengo del Barrio de Boedo“ ist so eingängig, dass bald passierte, was die San-Lorenzo-Anhänger schon kannten: Fans in ganz Südamerika kopierten es, vor der WM 2014 in Brasilien schrieb jemand einen Text, der auf die argentinische Nationalmannschaft passte. Tausende blau-weiß Gekleidete trugen das Lied nach Rio. Ein berühmt gewordenes YouTube-Video zeigt eine Mall, in der ein paar Brasilianer Argentinier ärgern. Die stehen plötzlich auf, es werden immer mehr, und singen ihr Lied, das in der Zeile gipfelt: „Maradona es mas grande que Pelé.“

Sie erfinden immer wieder Songs, die um die Welt gehen

Während der WM hören auch europäische Fans das Lied. Über die Stadien von Salerno, Bari und Neapel kommt Juan Manuels Song nach Italien. Bald hört man ihn auch in Spanien, England und Deutschland. Die Fans des SC Freiburg zum Beispiel dichten ihn um: „Sport-Club Freiburg, wir sind daaa, jedes Spiel und jedes Jaaahr, trotz Bullen und Kommerz, für dich schlägt unser Herz, drum singen wir in jedem Stadion …“. Juan Manuel erinnert sich: „Jeden Tag war das Lied woanders, wie ein Virus, der die Welt ansteckte. Mich hat das gefreut, nicht geärgert.“

Immer wieder gelingt Escuela de Tablones dieses Kunststück: Songs erfinden, die um die Welt gehen. Zum Repertoire zählen Abwandlungen von Bonnie Tylers „It’s a Heartache“, Oasis’ „Wonderwall“ und Enrique Iglesias’ „Duele el Corazón“. Letzere erlangte zwei Millionen Klicks bei YouTube und rief weltweit Nachahmer auf den Plan. Und dann war da noch die San-Lorenzo-Version des Gassenhauers „Despacito“ von Luis Fonsi. Sieben Millionen Mal schauten sich Menschen das Video auf YouTube an; in Südkorea, Spanien, Portugal, Italien, Brasilien, Uruguay und Ecuador sangen Kurven ihre eigene Version ein.

„Wir sind es gewohnt, dass unsere Songs sich verbreiten“, sagt Gabriel. Sogar daraus haben sie ein Lied gemacht: „Wir sind die Band, der die ganze Welt zuhört.“ Zwar sei das Klauen von Songs in Argentinien verpönt. „Aber bei uns machen alle eine Ausnahme.“

Die Fans haben einen gewaltigen Verlust erlitten

Heimatlose. Hier, an der Avenida la Plata in Boedo, stand einst das Stadion der San Lorencistas. In der Nähe wurde der Tango erfunden.
Heimatlose. Hier, an der Avenida la Plata in Boedo, stand einst das Stadion der San Lorencistas. In der Nähe wurde der Tango erfunden.

© Marius Buhl

Wer einmal im Stadion von Borussia Dortmund war, den haben vielleicht Lautstärke und Wucht der Lieder der Südtribüne eingeschüchtert. Wer in Bremen war, den hat bestimmt die Loyalität der Fans beeindruckt. Und wer bei West Ham in England war, der musste lachen, als die Fans den Gegner anbrüllten: „You’re nothing special, we lose every week.“

Laut, loyal, lustig – das sind die San-Lorenzo-Fans ebenfalls. Aber sie haben auch einen gewaltigen Verlust erlitten, der sich bis heute in ihren emotionalen Liedern entlädt.

„Ich komme aus Boedo, dem Viertel der Murgas und des Karnevals …“, singt Juan Manuel. Die Murgas, erklärt er, seien Bands, die zum Karneval in den ärmeren Stadtvierteln auftreten, mit Becken und Trommeln, und dabei Popsongs mit politischen Texten unterlegen. Zu Zeiten der Militärdiktatur waren die Murgas verboten, weil die Karnevalisten sich gegen die Machthaber richteten. Noch heute singen die San-Lorenzo-Fans leidenschaftlich gegen den argentinischen Präsidenten Mauricio Macri. Und noch heute kämpfen sie gegen die Folgen der Militärdiktatur: San Lorenzo wurde damals aus seinem Viertel, dem Paradies, vertrieben.

Es gibt einen Mann, der gut von dieser Demütigung erzählen kann. In der „Bar San Lorenzo“, mitten in Boedo, schüttet sich Wirt Walter Kaffee in einen Pappbecher und tritt an die Fensterfront. Walter sieht ein bisschen aus wie Diego Maradona, nur trauriger. Drinnen hängen Wimpel, Flaggen, Poster, alle in Blau und Rot, draußen ziehen Menschen vorbei. Die Kneipe ist leer. Früher hätten hier nach einem Sieg wie gestern die Menschen getanzt und getrunken. Heute ist Walter allein. Blickt er über die Straße vor seiner Kneipe, die Avenida la Plata, hinweg, sieht er den Grund für diese Veränderung. Dort, wo mal das Stadion stand, aus dem die Fans in seine Kneipe strömten, steht heute ein Supermarkt.

Die Junta riss das Stadion ab, der Verein stand vor dem Kollaps

1979 regierte in Argentinien eine Militärjunta, die das Land herunterwirtschaftete. Auch der Klub San Lorenzo litt finanziell, was Diktator Jorge Rafael Videla zum Anlass nahm, den Verein zu attackieren. Er zwang den Klub, die Heimat in Boedo aufzugeben und das Stadiongrundstück zu verkaufen. Der Verein wehrte sich eine Weile, als die Drohungen schlimmer wurden, gab er das Grundstück für einen Spottpreis her. Die Junta riss das Stadion ab und verschacherte die Fläche – wie zum Hohn – für damals acht Millionen Dollar an den Supermarktriesen Carrefour, der darauf die erste argentinische Filiale errichtete.

Das heimatlose San Lorenzo stieg in der Folge als erster der fünf großen Klubs Argentiniens in die zweite Liga ab. Die Fans der anderen Mannschaften begannen zu singen: „Wir suchten euer Stadion, fanden aber nur Obst und Gemüse.“ Die Heimspiele musste der Verein künftig in den Stadien der Rivalen austragen. San Lorenzo stand vor dem Kollaps.

„Man muss sich das so vorstellen“, sagt Kneipier Walter. „Angela Merkel lässt das Stadion in Dortmund abreißen, der Verein steigt ab und muss seine Spiele zukünftig auf Schalke austragen. Würden die Fans hingehen?“

Walter gründete das „Café Bar San Lorenzo“. Heute klafft gegenüber der Bar eine Wunde. Wo sich das Stadion befand, steht nun ein Supermarkt.
Walter gründete das „Café Bar San Lorenzo“. Heute klafft gegenüber der Bar eine Wunde. Wo sich das Stadion befand, steht nun ein Supermarkt.

© Marius Buhl

Die San-Lorenzo-Fans gingen hin. Zum ersten Zweitligaspiel 1982 im Stadion von River Plate strömten 75 000 und hüllten die Ränge in Blau und Rot. Im Schnitt kamen mehr Fans zu den Zweitligaspielen San Lorenzos als zu jedem Erstligisten. Der Verein kehrte in die erste Liga zurück und baute 1991, da war Argentinien wieder demokratisch, ein provisorisches neues Stadion. Allerdings nicht mehr in Boedo, dort stand ja der Supermarkt; sondern in Nueva Pompeya, einem Stadtteil, mit dem die San Lorencistas nichts anfangen konnten, und auf einem Grundstück, das an die „Villa 1-11-14“ grenzt, einen der ärmsten Slums der Stadt. Immer wieder kommt es vor Spielen seitdem zu Messerstechereien, Schlägereien, Schießereien.

Deppe hat sich seinen Verein nicht ausgesucht

Heimspiele sind für San-Lorenzo-Fans bis heute ein Wagnis. Sie parken nah beim Stadion und gehen dann zügig mit gesenkten Köpfen zum Einlass. Familien finden den Weg dorthin immer seltener, beim Spiel am Vortag blieben einige Plätze leer, weil es nachts stattfand. „Noch gefährlicher“, sagt Walter.

Die meisten zieht es trotzdem immer wieder hin. Nick Hornby schreibt in seinem Fußballroman „Fever Pitch“: „Nur wenige von uns haben sich ihren Verein ausgesucht, er wurde ihnen gegeben.“ So war das auch bei dem Deutschen Pascal Deppe. Während eines Argentinienbesuchs ging er zum ersten Mal ins Stadion. San Lorenzo spielte gegen Huracán, der größte Rivale neben den Boca Juniors. Deppe hörte die Fans, sah die Flaggen, und irgendetwas ergriff von ihm Besitz. „Wie bei einem riesigen Konzert war das. Nur dass bei einem Konzert jeder für sich tanzt, im Stadion aber alle zusammen.“

Auf der Tribüne lernte er Gabriel und Juan Manuel kennen, doch niemand fragte ihn, was er arbeite oder wer er sei. Auch er weiß bis heute nicht, was seine Freunde zwischen den Spielen machen oder wie es zu Hause läuft. „Es klingt blöd“, sagt er, „aber viele Fans dort haben nicht viel. Fußball ist alles, San Lorenzo trägt sie durchs Leben.“

„Wir kehren zurück, es ist wahr“

Zu lange halten sie sich jedoch nicht vor den Toren der Arena auf, sie liegt in einer gefährlichen Ecke von Buenos Aires.
Zu lange halten sie sich jedoch nicht vor den Toren der Arena auf, sie liegt in einer gefährlichen Ecke von Buenos Aires.

© Marius Buhl

Diese Bedingungslosigkeit fehlt ihm in Deutschland. „Hier wollen die Zuschauer gegen den DFB protestieren und hören auf zu singen. Das gäbe es in Argentinien nicht.“ Die Lage kann noch so schlimm sein, das Spiel noch so öde, die Argentinier feiern, als hinge ihr Leben vom Fußball ab. Und wahrscheinlich tut es das auch.

„Der Fußball ist eine Art Rationalitätsloch im Herzen unserer Gesellschaft“, sagte der Philosoph Wolfram Eilenberger dem Deutschlandfunk vor der gerade beginnenden WM in Russland. Eilenberger bezog das auf die Tatsache, dass es gute Gründe gäbe, den Sport zu boykottieren, viele deutsche Fans das aber mit dem Anpfiff vergessen würden. Für Tausende argentinische Anhänger, die sich derzeit um die halbe Weltkugel aufmachen nach Russland, die sich freigenommen haben für die Spiele der Nationalmannschaft, für die der WM-Titel ein unvorstellbares Glück wäre, egal ob sie sonst für San Lorenzo oder Huracán jubeln, gilt der Satz so nicht.

Argentinien ignoriert die Angst vor der drohenden Armut im Stadion und vor der Leinwand. Der Peso fällt dramatisch, der Finanzminister strich gerade drei Milliarden aus dem Haushalt. Eilenbergers Satz müsste hier anders lauten: „Die Politik ist ein Rationalitätsloch im Herzen der Gesellschaft, dem Fußball.“ Umso schlimmer, wenn dieses einmal zu schlagen aufhört – wie damals, 1979.

Auch deswegen zogen in Buenos Aires seit der Vertreibung immer wieder Protestler aus Boedo durch die Straßen, im März 2012 demonstrierten 100 000 Menschen in einer Karawane vor dem Präsidentenpalast in der Innenstadt für eine Rückkehr des Vereins in seine Heimat.

Ein neues Gesetz brachte endlich die langersehnte Lösung

Adolfo Res führt die Protestbewegung an und sitzt jetzt in Walters Kneipe. Res ist ein kräftiger, blonder Mann, 75 Jahre alt, und sieht nicht aus, als ließe sich mit ihm ausdauernd scherzen. Er blickt aus ernsten Augen auf den Carrefour-Supermarkt. „Vuelta“, die Wende, nennt er sein Ziel der Rückkehr. So besingen es auch die Fans, Gabriel, Juan Manuel und Pascal Deppe wieder und wieder.

Res trug das San-Lorenzo-Trikot im Falkland-Krieg unter der Uniform. „Wir bewahren San Lorenzo im Herzen, vergessen es nie“, sagt er und blickt noch finsterer drein. 19 Jahre nach der Enteignung, 1998, beschloss Res, dass San Lorenzo zurückkehren müsse zu seinen Wurzeln. „Ein heimatloser Verein geht irgendwann kaputt“, sagt er. Er sprach in Cafés über die Vuelta und wurde als Träumer belächelt. Zu einer ersten Demonstration erschienen 2500 Leute. Immerhin. Er beschloss, weiterzumachen, bequatschte Parlamentarier, die Bewegung wuchs.

Argentinienböller. Zu einem Spiel der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League, organisierten die Fans ein Feuerwerk.
Argentinienböller. Zu einem Spiel der Copa Libertadores, der südamerikanischen Champions League, organisierten die Fans ein Feuerwerk.

© Escuela de Tablones

2010 dann erließ Argentinien das Gesetz der Restitución histórica. Es erlaubt ursprünglichen Eigentümern, ihre während der Diktatur enteigneten Grundstücke zurückzukaufen. 2012 beschloss das Parlament mit 49:0 Stimmen, dass auch San Lorenzo unter das Gesetz fällt. Seitdem liegt es am Verein, das Geld für das Grundstück aufzubringen. Ein Schild hängt bereits am Supermarkt: „Wir kehren zurück, es ist wahr.“

Papst Franziskus überweist pünktlich seinen Mitgliedsbeitrag

150 Millionen Pesos, knapp fünf Millionen Euro, muss der Verein besorgen. Im Sommer ist die zweite von vier Raten an Carrefour fällig. Um den Klub zu unterstützen, kaufen die Fans symbolische Quadratmeter des neuen Stadions, für 2880 Pesos das Stück, etwa 100 Euro. Viel Geld für die meisten der Fans, aber Gabriel und seine Freunde von der Escuela de Tablones haben längst bezahlt.

Und nicht nur die. Adolfo Res erzählt, auch Papst Franziskus unterstütze die Rückkehr nach San Lorenzo. Franziskus wurde 1936 in Boedo geboren, als Junge sah er jedes Spiel im alten Stadion. Als es abgerissen wurde, sicherte sich der damals junge Geistliche ein Stück Holz der alten Tribüne, es soll heute in seinem Arbeitszimmer lagern. Pünktlich überweise der Papst monatlich seinen Mitgliedsbeitrag, sagt Res.

Sollte der Verein mithilfe der Fans genug Geld sammeln, könnte der Traum von der Rückkehr in wenigen Jahren Wirklichkeit werden. „Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen“, sagt Gabriel. Er hofft, dann einen Platz im Stadion zu ergattern, zusammen mit seinem Vater, mit dem er noch nie bei einem Spiel war, der ihm aber zeit seines Lebens von den alten Tagen in Boedo erzählt. Einen Namen hat die neue Arena übrigens schon.

Estadio Papa Francisco.

Die Texte der berühmtesten San-Lorenzo-Songs

Vengo des barrio de boedo

Ich komme aus Boedo / dem Viertel der Murga und des Karnevals / ich schwöre dir, wir werden bei dir sein / auch in den schlechtesten Momenten

Despacito

Ich führe ein Leben an deiner Seite / seitdem ich neben dem Zyklon geboren wurde / es gibt keine Distanz, die uns trennen könnte / wohin du auch gehst, ich gehe mit dir / San Lorenzo, du bist mein Wahnsinn, ich kann niemals aufhören / und jeden Sonntag verliebe ich mich mehr, für diese Farben gebe ich mein ganzes Leben.

Oh, komm schon, San Lorenzo, lass uns gewinnen / dieses Jahr wollen wir zurückkehren / die Party wird in Boedo stattfinden / San Lorenzo, meine Gefühle sind unerklärlich / ich werde immer bei dir sein, wenn ich Blau und Rot trage

Zeig Eier und spiel’ nach vorne, damit wir Erster werden / das hier ist die glorreiche Band aus Boedo / die, der sie auf der ganzen Welt zuhören

La cabeza

Sie sagen, wir seien alle verrückt im Kopf / aber uns in San Lorenzo interessiert das nicht / wir trinken den Damajuana-Wein pur / und rauchen das ganze Marihuana / ooooh, San Lorenzooooo

Duelle el corazon

Komm schon, San Lorenzo, heute müssen wir gewinnen / wie jedes Jahr, ich schenke dir Mut / sie sagen, wir seien krank, aber was soll ich tun

Mein einziges Mittel ist es, dich wiederzusehen / wohin du auch gehst, ich gehe mit dir / ob das richtig oder falsch ist, ich bin an deiner Seite / sie werden es nie verstehen, ich werde dich immer lieben

Cuervo sos mi algeria

San Lorenzo, du bist meine Freude / mein Wahnsinn, mein Leben / wir werden nach Boedo zurückkehren, für diese

Rückkehr geben wir alles / wo du spielst, werde ich sein, bis zum Tod / heute musst du gewinnen, damit Boedo zum Karneval wird / hier sind die Treuesten / von der herrlichen Plaza Butteler

Porque vas

Ich bin aus San Lorenzo, ja mein Herr / wie verrückt ich bin / mit der ganzen FanSchar will ich Meister werden / Auf geht’s San Lorenzo / das hier ist der neue Gasometer / und wir werden gewinnen / und dann zurückkehren in unser neues Stadion

Wonderwall

Ich folge dir immer / ich gehe überall hin mit dir / ich feuere dich an, egal wie das Spiel ausgeht / San Lorenzo, du wirst sehen / wir können gar nicht verlieren

Tanta locura

100 Jahre sind vergangen / sie wollten dich uns wegnehmen / aber wir verkaufen dich nicht / sie sagen, wir seien verrückt im Kopf / wir sind abgestiegen und haben uns ein neues Stadion gebaut / wir wissen, dass wir zurück nach Boedo gehen werden / für diese Verrücktheit gibt es keine Erklärung / selbst wenn ich ein Arschloch bin / ich bin bei dir / so viel Gefühl / so viel Karneval / der uns für die Ewigkeit gewappnet hat

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