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Zu Gast bei Loriot: Horst Buchholz.

© Foto aus: Loriot, „Gästebuch“, Diogenes Verlag.

Gästebücher: Wer schreibt, der bleibt

Gästebücher liegen in Hotels, Museen und feineren Häusern aus. Sie zu lesen ist lustig, sie zu füllen eine Qual. Eine Spurensuche zeigt: Loriot war wieder mal besonders originell.

Neulich, in einem Guesthouse im indonesischen Regenwald. Es schüttete, ich konnte nicht raus und saß in der Lobby fest. Internet gab es nicht, nur ein Gästebuch. Aufgeklappt lag es auf einem Tisch mitten im Raum, als sei es das wichtigste Möbelstück. Ich sah, dass Ulrich und Heidrun aus Brandenburg da waren (Ulrich hatte sich mit Doktortitel verewigt) und jemand namens Noah hatte in die Spalte „Beruf“ erfrischend ehrlich „nothing“ geschrieben.

Schade, dass man nur noch selten Gästebücher findet, schon gar nicht privat, bei Freunden zu Hause. Ein paar Namen, ein paar Zeilen, schnell mit Kugelschreiber hingekritzelt – und doch ein Einblick in eine Welt. Was wohl der Mann vom Ministerium in Jakarta aus Zeile drei in der Einöde gesucht hat? Wurde ihm von Chester und Kristin aus Maryland ein Ohr abgekaut, die sich über den Regen beklagen? Warum nur hat der Schriftsteller Georges Simenon die Namen für seine Romanfiguren aus Telefonbüchern genommen? Ein Gästebuch hätte ihm die Geschichten dazu geliefert.

Diese Bücher sind ziemlich aus der Mode. Vielleicht wegen der Qual: Soll ich etwas hineinschreiben? Und wenn ja, was? Gerade mal bei Staatsbesuchen wird irgendwo eines hervorgezogen, hin und wieder liegt eines in Museen oder Hotels. Für Institutionen sind sie eine großartige Quelle. Wie Leute öffentliche Ereignisse fanden, wie sie über Kunst dachten – ohne Gästebücher wäre die Publikumsforschung aufgeschmissen.

Ich selbst habe einmal versucht, eines zu führen, und zwar ironisch, das war vor Facebook. Ich kaufte ein Buch mit knallrotem Plüscheinband und malte „Berlin“ auf das Deckblatt. Keine Ahnung, was ich mir davon versprach. Nachdem das erste Pärchen „Es war nett bei Euch“ hineingeschrieben hatte, ließ ich es bleiben. Die Freundin, die bei Bekannten auf einem Landsitz in der Uckermark immer ein Gästebuch in die Hand gedrückt bekam, war damals leider nicht bei mir. Sie war so verschüchtert vom Ernst, mit der die Familie ihr Gästebuch führte, dass sie englische Lyrik eintrug.

Seit es das Internet gibt, hat das Gästebuch einen schlechten Ruf. Kaum eine Homepage ohne ein „Gästebuch“, und dort stehen Kommentare wie „du, ich mach dich!!!“. Grässlich. Hässlich sind auch jene Gästebücher, die man kaufen kann. Bei Manufactum zum Beispiel, Bestellnummer 73791. Ein dunkles Teil für 88 Euro, das mit Metallkante daherkommt und 1,6 Kilo wiegt. Mit seinem metallverstärkten Einband, heißt es im Katalog, würde es „auch gestenreichen Kommentaren“ standhalten. Kein Wunder, schließlich will jeder, der ein so prätentiöses Ding in die Hand gedrückt bekommt, es am liebsten sofort in die Ecke knallen.

Womit wir bei der Ursache für das Verschwinden aus unserem Alltag wären: Das Ding nervt. Der Zwang, sich verewigen zu müssen, der Flüchtigkeit eines Besuchs etwas Endgültiges zu geben. Auf Hochzeiten oder im Urlaub, wo kurz vor dem Ende, bevor das Gepäck und die Kinder ins Auto gezwängt werden, noch ein Spruch ins Buch muss.

Loriot hat das gut auf den Punkt gebracht. Nicht in einem Sketch, sondern mit einem eigenen Gästebuch. Als er mit Frau und Tochter 1957 eine Villa in Gauting bezog, mussten sich alle Besucher vor einem albern an die Wand gehängten Vorhang und einer Säule aufstellen und sich fotografieren lassen. Schauspieler, Politiker, die Familie – sagen Sie jetzt nichts!

Das Projekt endete wie viele Gästebücher: in der Versenkung. Loriot legte die Fotos in eine Schachtel und vergaß sie. Erst seine Tochter hat sie hervorgeholt und kürzlich in einem Bildband bei Diogenes herausgegeben. Auf den Fotos sieht man, wie die Besucher bewusst oder unbewusst das persiflieren, was man an Gästebüchern komisch findet: staatstragende Gesichter und zwanghaft originelle Posen, Nadja Tiller und ihr Mann streckten ein Bein durch und legten es auf die Säule.

Gibt es noch Leute, die privat ein Gästebuch führen? Frage an Eduard Habsburg, Autor aus Wien. Er ist, wie sein Name sagt, adelig, und das ist das Stichwort. Adelige haben immer Gästebücher geführt. Weil sie sich an Orten bewegen, an denen jeder nur so viel zählt wie die Geschichte, die ihn umgibt. Auf Schlössern oder Burgen, wo man geboren wird, sein Leben verbringt und meistens auch stirbt, kann man schon mal das Bedürfnis haben, sich einzuschreiben.

Habsburg erzählt von Schloss Sünching in der Nähe von Regensburg. Dort ist das Gästebuch ein altes Fenster in der Bibliothek. Wer zu Besuch kam, Prinz Ludwig von Bayern etwa, nahm einen Diamanten und ritzte seinen Namen und das Datum in das Glas ein. Manche kratzten ein Herz oder anderes Gekrickel dazu, eine Vorform des Scratchings.

Habsburg selbst habe den Blick „zu sehr nach vorne gerichtet“, um ein Gästebuch zu führen. Auch lebe er in einem Haus und in keinem Schloss. Bei seinen Verwandten werde es „aber natürlich erwartet, dass man sich einträgt“, ob man zum Übernachten kommt, zur Jagd oder nur zum Tee. Da passiere es schon mal, dass man in einem dieser Bücher blättere und die eigene Ururgroßmutter finde. Oder sich selbst, wie man als Siebenjähriger versucht hat, etwas zu dichten.

Bei den Adeligen geht es nicht origineller zu als unter uns Normalo-Gästebuchschreibern. Habsburg erzählt von einem Cousin, der stets auf die letzte Seite kritzelte: „Ich hab mich hinten angewurzelt, dass niemand aus dem Album purzelt.“ Oder der Graf, der überall, wo er hinkam, folgenden Spruch hinterließ: „Was für den Stier das rote Tuch, ist für mich das Gästebuch.“ Ansonsten würden Zeichnungen von Schlössern überwiegen, das häufigste Wort in Gästebüchern sei „gemütlich“. „Das sagt alles: Es war schön, es ist nichts Peinliches passiert, auf bald.“ Immerhin gebe es ein paar, alte Onkels, steife Herren, die ganze Porträts zeichnen oder Landschaften. Für sie ist so ein Buch die einzige Möglichkeit, sich künstlerisch zu verwirklichen.

Wer bei dem Berliner Fotografen Timm Rautert und seiner Frau, der Kuratorin Ute Eskildsen, eingeladen ist, bekommt ein gebundenes A4-Heft mit dunklem Einband in die Hand. Ein „Erinnerungsinstrument“ sei das für ihn, sagt Rautert. Als Fotograf wisse er „um den Wert von Dingen, die man aufhebt“.

Warum hält er den Augenblick nicht auf einem Foto fest? Ein Bild rücke den Augenblick in einen bestimmten Kontext, es sei in der Sekunde, sagt Rautert. Die Bemühung, den Eindruck von einem Besuch zu verschriftlichen, sei losgelöst von der Zeit. Die Kommentarfunktion einer Abendgesellschaft gewissermaßen.

Schön gesagt. Das Gästebuch als Ort, an dem die Gegenwart im Augenblick des Schreibens zur Erinnerung wird. Die man verbinden wird mit dem Geruch eines Essens, einer Atmosphäre, einer Begegnung. Vorausgesetzt, nicht alle schreiben „Es war sehr gemütlich“ hinein.

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