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Geschichte: Chronique scandaleuse

Unerhört! Lidl bespitzelt Mitarbeiter, im Handball wird bestochen, und die Pius-Brüder leugnen den Holocaust. Warum der Mensch sich gern empört

Die Reaktion des Bahnchefs Hartmut Mehdorn war klassisch. Erst wollte er von Vorwürfen, sein Unternehmen habe Mitarbeiter im großen Stil bespitzelt, nichts wissen. Dann räumte er das Screening ein, konnte aber kein Problem erkennen – um sich schließlich bei allen Mitarbeitern zu entschuldigen. Sein Umgang mit der Affäre hätte Mehdorn beinahe den Job gekostet.

Die Verwicklung in einen echten oder vermeintlichen Skandal ist eines der größten Risiken für Personen des öffentlichen Lebens. Diese Erfahrung machte schon der griechische Philosoph Sokrates 399 v. Chr., als er wegen Gotteslästerung ins Kreuzfeuer der Kritik geriet. Nachdem er für schuldig befunden worden war, plädierte Sokrates seinerseits für Freispruch und verlangte eine Ehrung für seine Verdienste im Peloponnesischen Krieg. Solche Frechheit konnte sich das Gericht nicht bieten lassen und verurteilte ihn zum Tode. Sokrates trank den Schierlingsbecher.

Dieser Fall hat alles, was ein Skandal braucht: Ein einflussreicher Mann verstößt gegen herrschende Moral und löst eine Empörungswelle aus, die ihn verschlingt. Denn, so der Soziologe Karl Otto Hondrich, „die kollektiven Gefühle, aufs Höchste aufgebracht, verlangen Genugtuung.“ Zur kollektiven Aufregung kommt es auch deshalb, weil Skandale zumeist eine schlichte Dramaturgie haben: Die Rollen von Gut und Böse sind oder scheinen klar verteilt.

Wer einmal in den Fokus öffentlichen Grolls gerät, kann sich nicht entziehen – selbst der Papst nicht, der bis vor kurzem noch als Popstar galt. Nach der Rehabilitierung des Holocaust-Leugners Richard Williamson musste Benedikt XVI. sich erklären, sich rechtfertigen und zurückrudern. Und nach seinem Verdikt gegen Kondome für Afrika hat er nun die ganze aufgeklärte Welt gegen sich. Die Keuschheitslehre allerdings, die der ultrakonservative Ratzinger hier vertritt, wird verhindern, dass er sich dem Druck der Öffentlichkeit erneut beugt.

Wer indes den Nationalsozialismus verharmlost oder verherrlicht, berührt seit 1945 das größte Tabu der deutschen Gesellschaft. Der Fall Philipp Jenninger zeigt, dass das hohe Skandalpotenzial dieses Themas auch dazu führen kann, dass voreilig und zu Unrecht Skandal geschrien wird.

10. November 1988, der deutsche Bundestag gedenkt der Reichspogromnacht. Bundestagspräsident Jenninger hält eine Rede vor dem Parlament und zahlreichen Ehrengästen, darunter Mitglieder des Zentralrats der Juden. Bald mehren sich aufgebrachte Zwischenrufe, zahlreiche Parlamentarier verlassen den Saal. Einen Tag später tritt Jenninger zurück. Warum diese Empörung?

Der CDU-Abgeordnete thematisiert in seiner Rede die Ursachen für die Begeisterung vieler Deutscher für den Nationalsozialismus. Dazu versetzt er sich in die Täterperspektive und bedient sich des Stilmittels der erlebten Rede. Jenninger bezeichnet die Jahre 1933 bis ’38 als „Faszinosum“ und stellt Fragen wie: „Machte Hitler nicht wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen?“ So entsteht bei manchen Zuhörern der Eindruck, er identifiziere sich mit den Nazis. Inhaltlich ist die Rede nicht zu beanstanden, weshalb der damalige Zentralratspräsident Ignatz Bubis später Teile aus Jenningers Manuskript in seine eigenen Ansprachen integriert: Einiges darin habe nie zuvor in dieser Deutlichkeit ein deutscher Politiker gesagt. Der Fall Jenninger ist das klassische Beispiel eines Pseudo-Skandals. Eine – gerade im politischen Kampf – seit Jahrhunderten beliebte Strategie.

1906 will der Publizist Maximilian Harden, ein erklärter Gegner der Monarchie, dem Kaiser schaden. In der Zeitschrift „Zukunft“ beginnt er eine Kampagne gegen Philipp Fürst zu Eulenburg-Hertefeld, einen engen Vertrauten und Berater von Wilhelm II. Harden unterstellt Eulenburg Homosexualität, damals eine Straftat. Knapp 100 Jahre später outet der Filmemacher Rosa von Praunheim in einer Fernsehsendung Alfred Biolek und Hape Kerkeling. Eine Provokation – allerdings eine produktive: „Mit Biolek und Kerkeling habe ich keine hilflosen Wesen geoutet, sondern beliebte Narren der Gesellschaft. Ich wusste, dass es ihnen nicht schaden würde und dass die Gesellschaft Homosexuelle mit anderen Augen sähe und das Thema Aids mit größerer Aufmerksamkeit verfolgte“, erinnert sich von Praunheim.

Im Fall von 1906 schlachtet die nationale und internationale Presse die vermeintliche Enthüllung hämisch aus. Eulenburg hält der psychischen Belastung nicht stand; er stirbt, noch bevor ein Urteil gefällt werden kann. Die Welt hat ihr erstes Medienopfer.

Generell leiden viele Skandalisierte unter den massiven öffentlichen Vorwürfen. Sie fühlen sich unverstanden, zutiefst verletzt und erkennen sich in ihrem öffentlichen Bild nicht wieder. Der ehemalige Stern-Reporter Gerd Heidemann wurde für die gefälschten Hitler-Tagebücher zur Verantwortung gezogen. Den Moment, als die Affäre aufflog, beschreibt er wie folgt: „Ich hörte im Autoradio, wie der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann verkündete: ‚Die Tagebücher sind eine Fälschung.’ Ich konnte kaum noch das Steuer halten, meine Knie wurden weich. Ich habe geschaut, ob es irgendwo einen Brückenpfeiler gab, gegen den ich donnern konnte. Aber da war keiner.“

Heute, im Internet-Zeitalter, sorgt das digitale Gedächtnis dafür, dass Skandalisierte immer wieder mit ihren Verfehlungen konfrontiert werden. Allen gemein ist das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein. Sie quälen sich mit der Frage, warum gerade sie an den Pranger gestellt wurden. Und in der Tat stellt sich bei vielen Affären diese Frage. Auch beim Skandal um die Königin Marie Antoinette in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution.

Mit einer gefälschten königlichen Vollmacht kaufen eine Hochstaplerin und ein ahnungsloser Kardinal ein Diamantencollier im Wert von 1,6 Millionen Livres – ohne zu bezahlen. Als die Juweliere von der Königin die erste Rate verlangen, ist das Halsband längst ins Ausland verkauft. Die Betrüger werden in einem aufsehenerregenden Prozess verurteilt. Trotzdem gilt die allgemeine Empörung Marie Antoinette: Die Königin habe gemeinsame Sache mit den Betrügern gemacht, heißt es, obwohl es Beweise für ihre Unschuld gibt.

In der allgemeinen Aufregung, das ist bis heute so, gehen rationale Argumente oft unter. So lässt sich der Skandal auch als journalistischer Betriebsunfall deuten, bei dem das Bemühen um Objektivität und Differenzierung auf der Strecke bleibt: „Die Folge ist, dass es die Unschuldsvermutung nicht mehr gibt. Journalisten benutzen keinen Konjunktiv und keine Fragezeichen am Ende ihrer Sätze. Sie verkaufen den Verdacht als Wahrheit. Sie konkurrieren um die spektakulärste Berichterstattung“, sagt die Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen.

Die Jagd nach Skandalen ist oft selbst skandalös. Im Fall von Marie Antoinette offenbaren dies die chroniques scandaleuses, die im Frankreich des 18. Jahrhunderts weit verbreitet waren. Man wollte die unpopuläre Königin stürzen und führte ihren verschwenderischen und leichtsinnigen Lebensstil als Belege dafür an, dass sie in den Betrug verwickelt war. Das Kalkül ging auf: In der öffentlichen Wahrnehmung galt Marie Antoinette als schuldig. Historiker sehen in der Halsband-Affäre sogar einen Auslöser für die Französische Revolution.

Der Skandal, der sich knapp 200 Jahre später in der Bundesrepublik ereignete, löste zwar keine Revolution aus, erschütterte aber nachhaltig das Vertrauen der Bürger in die Politik. Der Name des Empfängers, daneben das Kürzel „wg.“ und die in einem neutralen Umschlag übergebene, mitunter sechsstellige Summe – das stand auf Listen, die Steuerfahnder im Büro von Rudolf Diehl, Chefbuchhalter beim milliardenschweren Flick-Konzern, fanden. Beschenkt wurden sämtliche damals im Bundestag vertretenen Parteien: CDU, CSU, FDP und SPD.

Der Höhepunkt des Skandals aber sollte noch folgen: Nachdem Friedrich Karl Flick Daimler-Benz-Aktien im Wert von knapp zwei Milliarden Mark verkauft hatte und einen Antrag auf Steuerbefreiung für „volkswirtschaftlich besonders förderungswürdige Investitionen“ gestellt hatte, erteilten ihm sowohl der FDP-Wirtschaftsminister Hans Friedrichs als auch sein Nachfolger Otto Graf Lambsdorff die Genehmigung dazu – dieselben Politiker also, die mehrfach hohe Bargeldsummen vom Flick-Konzern erhielten. Flick-Manager Eberhard von Brauchitsch bezeichnete diese Zuwendungen lakonisch als „politische Landschaftspflege“.

Der Aufdeckung dieser Machenschaften durch den Spiegel-Journalisten Hans Leyendecker folgten Ermittlungen, Gerichtsprozesse, Rücktritte und ein verschärftes Parteiengesetz. Die Enthüllung hatte etwas bewegt, einerseits. Andererseits wurde Lambsdorff rehabilitiert und zum Bundesvorsitzenden seiner Partei gekürt. Dass sich am System nur wenig änderte, wurde spätestens 1999 im Rahmen der CDU-Spenden-Affäre deutlich, in die Altkanzler Helmut Kohl verwickelt war.

Dennoch bedeutete der Flick-Skandal eine Zäsur in der Medienlandschaft. Noch wenige Jahre zuvor war die Berichterstattung in der Bundesrepublik vor allem von Obrigkeitsgläubigkeit und Konsensjournalismus geprägt. Echte Missstände deckten die deutschen Medien selten auf, oft blieb der dringend notwendige Skandalruf aus oder er kam zu spät – wie im Fall des Medikaments Contergan.

Am 1. Oktober 1957 kommt das Beruhigungsmittel für Schwangere in die Apotheken, und erst am 27. November 1961 wird es wieder vom Markt genommen. Dem Humangenetiker Widukind Lenz war es gelungen, die zuständigen Behörden wachzurütteln, gegen den Widerstand des Produzenten Grünenthal. Am 26. November 1961 erschien der erste Artikel über die Contergan-Katastrophe, einen Tag später zog die Firma Grünenthal ihr Produkt zurück. Vorher hatten alle geschwiegen: der Hersteller, das Gesundheitsministerium und die Medien.

Es waren schließlich Bilder von Contergan geschädigten Kindern, die der Öffentlichkeit die Augen öffneten. Und die Gesellschaft veränderten: Menschen mit Behinderungen waren nun ein Thema, und mit dem blinden Vertrauen in die Wissenschaft ist es vorbei. Inzwischen hat der Journalismus seine Beißhemmung abgelegt. Ob Korruption bei Siemens oder Volkswagen, Doping im Sport, Mitarbeiter-Screening bei der Bahn oder bei Lidl – immer wieder heißt es „unerhört!“. Skandale steigern das Prestige und die Auflage. Sie ziehen die Blicke des Publikums magisch an, lösen einen „Aufmerksamkeits- oder Beachtungsexzess aus“, wie es der Medienphilosoph Lorenz Engell formuliert.

Doch was macht eigentlich das Faszinierende etwa an Promi-Skandalen aus? Für den Klatsch-Journalisten Michael Kneissler liegt die Antwort auf der Hand: „Die Anziehungskraft des Skandals beruht auf seiner entlastenden Wirkung. Es beruhigt ungemein, scheinbar hautnah mitzuverfolgen, wie auch bei den Reichen und Berühmten alles schiefläuft. People-Journalismus ist eine Art moderner Ablasshandel.“

Doch auch die Prominenten selbst wollen den Skandal. Einer der Pioniere dieser Technik war der spanische Künstler Salvador Dalí, der sein Leben als einzigen Skandal inszenierte. Der Exzentriker hält sich einen Ozelot als Haustier, erscheint zu einem Vortrag im Tiefseetaucheranzug oder bezeichnet sich öffentlich als „großen Masturbator“. Mal lässt sich Dalí in einem Restaurant ein gedünstetes Telefon servieren, mal bestellt er ein Pferd oder eine Schafherde in sein Hotelzimmer. Zu einem Vortrag an der Pariser Sorbonne fährt er in einem mit 260 Stück Blumenkohl gefüllten Rolls- Royce vor, redet eine Stunde unverständliches Durcheinander und flüchtet schließlich durch eine Hintertür vor den erbosten Studenten.

Dalí machte vor, was heute gang und gäbe ist: die Produktion kalkulierter Skandale. Dieses Geschäft lässt sich auf die Formel „Schlagzeile gegen Aufmerksamkeit“ bringen. „Mal zeigen sie sich den Fotografen mit Ehering, mal ohne. Dann sieht man plötzlich, dass sie sich die Haut am Arm aufgeritzt haben – und hört von irgendwelchen Beziehungskrisen, Affären, Zusammenbrüchen. Manche rasieren sich den Kopf kahl, treten ohne Höschen auf – und stellen sicher, dass es auch jeder mitbekommt, der eine Kamera bedienen kann.“ So umschreibt Darryn Lyons, Chef einer der größten Paparazzi- Agenturen der Welt, den Deal zwischen Prominenten und Medien.

Begünstigt wird das Skandalgeschäft durch den Siegeszug der „indiskreten Techniken“, wie sie der Soziologe Geoff Cooper nennt. Fast jeder kann heute mit seinem Handy passable Fotos machen oder Videos drehen und sie an die Medien verkaufen – die den Skandal in Sekundenschnelle weltweit publik machen können.

Diese unangenehme Erfahrung musste auch eine junge Frau aus Südkorea machen, die es im Jahr 2005 unter dem Namen „Dog Shit Girl“ zu unfreiwilliger Berühmtheit gebracht hat. Sie wurde öffentlich an den Pranger gestellt, weil sie sich geweigert hatte, die Hinterlassenschaft ihres Hundes aus einem U-Bahn-Wagen zu entfernen. Dafür sollte sie büßen, fand ein Fahrgast und fotografierte Halterin samt Hundehaufen mit seiner Handykamera. Wenige Stunden später veröffentlichte er die Bilder in einem populären Blog. Nach einigen Tagen kursierte sogar der richtige Name des „Dog Shit Girl“ im Netz. Innerhalb von Stunden war die junge Frau öffentlich gebrandmarkt und unwiderruflich im medialen Gedächtnis gespeichert.

Dieser Fall zeigt: Der Skandal bricht längst nicht mehr nur gegen Personen des öffentlichen Lebens los. Im Zeitalter der technischen Indiskretion ist potenziell jeder Zielscheibe der Empörung. Ob er will oder nicht. Wegen eines Hundehaufens oder eines fehlenden Kondoms.

Annika Giese und Gregor Haschnik sind Mitautoren des gerade erschienenen Buches „Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung“, herausgegeben von Jens Bergmann und Bernhard Pörksen; Herbert von Halem Verlag, 352 Seiten, 18 Euro

Annika Giese, Gregor Haschnik

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