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Geschichte: Der Blogwart

Was ist es nun, das Logbuch über die Reise durchs Netz? Narzissmus? Diskussionsforum? Bühne der Freiheit? Gerüchteküche? Alles!

Die Göttin der Weisheit ist verstummt. Dass das nicht freiwillig geschah, hat sie das Land noch wissen lassen. „Ich werde meinen Mund halten, weil die Nation das angeordnet hat“, schrieb sie. Zuvor hatte Minerva im südkoreanischen Internetportal Daum den Zusammenbruch von Lehman Brothers angekündigt, fünf Tage später war er eingetreten. Verlässlich hatte sie vorhergesagt, wie stark die südkoreanische Währung im Oktober an Wert verlieren werde, auch mit Kritik an der Regierung hatte sie sich nicht zurückgehalten. Doch so etwas haben die Oberen in Südkorea nicht gerne. Sie brachten Minerva zum Schweigen. Wer war Minerva, ein hoher Beamter, gar ein Regierungsmitglied? Ähnliche Unkenntnis ihrer Person hätte sich eine Südkoreanerin im Sommer 2005 gewünscht. Nachdem ihr Hund in der U-Bahn einen Haufen gemacht hatte, weigerte sie sich, diesen zu beseitigen. Heimlich fotografierte ein Fahrgast sie mit dem Handy und stellte ihr Foto auf einen Blog. Binnen kurzem kursierte es im Netz, ihr Name wurde bekannt und sie bekam noch einen Spitz namen dazu: das „dog shit girl“.

Das ist das Spektrum, in dem sich Blogs bewegen – sie produzieren Götter und Hundescheißmenschen. Die Internetblase ist Anfang des Jahrtausends geplatzt, nun wird die Renaissance des Netzes gefeiert, als Web 2.0, als soziale Plattform, die ein globales Gespräch verspricht, und Blogs sind ihre wichtigste Zutat. In einer hierarchischen Gesellschaft wie Südkorea übt solch ein offenes System, in dem jeder alles darf, einen besonders großen Reiz aus. Doch auch anderswo, in anderen Zusammenhängen sind Blogs eine Macht geworden. Die deutsche Kanzlerin hat ihren eigenen Videoblog, die IT-Firma IBM hat Blogger-Regeln für ihre Mitarbeiter ent wickelt, und im Iran formiert sich in Weblogs der politische Widerstand.

Justin Hall hätte sich diese Entwicklung wahrscheinlich nicht vorstellen können. „Kein Abstand, keine beschissene Objektivität, ich erzähle Geschichten aus meinem Leben“, versprach er 1994 auf seiner Seite, einem der ersten Blogs überhaupt, und berichtete im Folgenden, wie sich seine Freundin Chandra darüber beschwere, dass er beim Küssen zu sehr mit der Zunge arbeite. Der Begriff „Blog“ entstand fünf Jahre später und war eine Verballhornung von „Weblog“, was so viel wie Logbuch über die Reise durchs Netz bedeutet. Die Website Technorati, ein Art Blog-Suchmaschine, hat seit 2002 insgesamt 133 Millionen Blogs erfasst, im vergangenen Sommer fand sie Blogs in 81 Sprachen. Kein Wunder, ein Blogger zu sein, ist denkbar einfach. Den Platz stellen viele Portale umsonst zur Verfügung. Alles, was man braucht, ist ein Modem und die Überzeugung, dass man etwas zu erzählen hat.

So würden das viele Blog-Freunde selbstverständlich nicht stehen lassen, sie hegen mitunter hohe Ansprüche: „Ein einziges Posting in der Blogosphäre kann einen Wandel in der echten Welt bewirken“, heißt es in dem Buch „Who let the blogs out“ des US-Amerikaners Biz Stone. Der Siegeszug des Blogs ist eigentlich George W. Bush zu verdanken. Mit seinem Beschluss, in den Irak einzumarschieren, wurde der Blogger zum David gegen Goliath, zum Korrektiv des Mainstreams – fernab von narzisstisch gefärbten Einträgen à la Hall. Der umstrittene Krieg wurde die Daseinsberechtigung der Blogger. Da die etablierten Medien es versäumten, die Berechtigung dieses Krieges zu hinterfragen, sprangen die Blogs ein. „Sponsert mir die Reise in den Irak, und ich verspreche euch unabhängige Berichterstattung“, schrieb Chris Allbritton, vormals bei der Nachrichtenagentur AP, 2003 in seinem Blog. Das Ergebnis: 316 Sponsoren, fast 14 000 Dollar und die kritische Website back-to- iraq statt Selbstzensur.

Auch ein Iraker wurde durch den Krieg berühmt. Unter dem Pseudonym Salam Pax schrieb ein 29-jähriger Architekt aus Bagdad den Weblog „Where is Raed“. Als eine seiner Nachfolgerinnen kann die Kubanerin Yoani Sanchez gelten, die 2008 für ihre Seite „Generacion Y“ den Weblog-Award der Deutschen Welle bekam. Besonders stark ist die Blog-Resistance in arabischen Ländern. 2008 stellte ein tunesischer Blogger ein Luftbild des Präsidentenpalastes ins Netz, neben dem sich nach und nach Sprechblasen öffnen und politische Gefangene von Folter erzählen. Doch selbst in einem europäischen Staat wie Italien, wo Silvio Berlusconi den Medienapparat kontrolliert, sehen Kritiker keine andere Möglichkeit, als ins Netz abzuwandern. „Wer die Information kontrolliert, hat die Macht“, sagt der Komiker Beppo Grillo. „Was bleibt? Das Netz, das Internet, die Blogs.“

So schön das klingt, die Blogs als Bühne der Freiheit, ganz stimmt es nicht: Wirklich bekannt wurde Pax der breiten Masse erst, als er eine Kolumne im „Guardian“ erhielt. Der weitreichenden Verbreitung von Blogs steht die Aufmerksamkeitsökonomie oder, weniger fein ausgedrückt, die menschliche Faulheit im Wege. Wer will Wahrheit und Schönheit jeden Morgen erst mühselig aus diversen Blogs extrahieren müssen? Menschen wünschen sich, sagen Soziologen, vor allem Reduktion der Komplexität: Geht man zum zweiten Mal in ein Café, wird man wahrscheinlich wieder denselben Platz einnehmen. Ebenso liest man lieber eine vertraute Nachrichtenquelle als zehn neue. Es gibt Ausnahmen, das US-amerikanische Blogger-Netzwerk „Huffington Post“ zum Beispiel, aber meist gilt: Themen setzen können Blogs – aber es braucht ein Massenmedium, um sie in die Welt hinauszuposaunen.

Es könnte also eine friedliche Ko existenz sein, mit Nutzen für beide Seiten. Stattdessen hassen Blogger und Journalisten einander oft mit großer Lust: „Loser generated Content“ nannte „Stern“-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges die Blogs, und Kommentarchef Alan Posener sprach in der „Welt am Sonntag“ von einer „Bühne für das geistige Prekariat“. „In gewisser Weise sind Journalisten füreinander der ideale andere“, sagt der amerikanische Journalismusprofessor Jay Rosen. „Für Journalisten verkörpern Blogger den Albtraum, ein unausgebildeter Amateur könne ihren Job machen, und für Blogger gehört das Gefühl, subversiv zu sein und von unten zu kommen, einfach dazu.“ Ihren großen Sieg hatten die Blogger ausgerechnet gegen die „New York Times“, das Flaggschiff des US-Journalismus. 2003 war herausgekommen, dass der Reporter Jayson Blair über vier Jahre hinweg gefälschte Geschichten abgeliefert hatte. Kurz danach verließ er die Zeitung. Normalerweise hätten höchstens ein paar rivalisierende Blätter darüber berichtet, aber dieses Mal hielt der „Timeswatch“ den Skandal am Kochen. Der konservative Blog hat sich der Aufgabe verschrieben, die Recherchefehler der als liberal geltenden „New York Times“ aufzudecken.

An dieser Stelle tritt nun endlich Deutschland auf, das in der Geschichte des Blogs oft unscheinbar im Hintergrund versinkt. Hierzulande gibt es etwas, was dem „Timeswatch“ ähnelt und doch ganz anders ist: Der bekannteste deutsche Weblog, der „Bildblog“, arbeitet sich auch an einer Zeitung ab, aber diese richtet sich nicht an die Elite, sondern an den Boulevard: Seit Juni 2004 weist der „Bildblog“ auf Recherchefehler der Springer-Zeitung hin. Hat man es sich da nicht leicht gemacht mit dem Feind? Stefan Niggemeier, einer der Blog-Gründer, sitzt in seinem Büro in Berlin-Kreuzberg, an der Wand eine Postkarte mit der Aufschrift „Ich komm zum Glück aus Osnabrück“, und wägt seine Antwort ab. Das tut er oft, wirkt eher wie ein Nachdenker als wie ein Impuls-Mensch, der herausbloggt, was ihm gerade in den Sinn kommt, und schließlich gibt er die Antwort, es ist ein Ja und Nein. Ja, aus bekannten Gründen, und Nein, weil die Bild eben ein Leit medium hierzulande sei.

Es gibt, ohne Frage, kluge und unterhaltsame Blogs in Deutschland. Der „lawblog“ etwa, auf dem der Rechtsanwalt Udo Vetter juristische Themen behandelt, „ich bin ein Liebling Kreuzberg im Netz“, sagt er. Oder „Spreeblick“, dessen Macher Johnny Häusler einmal so etwas wie den einzigen Blog-Coup hierzulande fabrizierte. „Sie tun einfach so, als ob sie euch einen Klingelton verkaufen, in Wirklichkeit aber verkaufen sie euch ein immer weiter laufendes Abonnement für ganz viele Klingeltöne“,schrieb er über den Klingeltonanbieter Jamba. Neue Informationen waren das nicht, trotzdem bissen die Blogger an und verlinkten den Beitrag zuhauf auf ihre Seiten. Doch wirkliche Skandale haben die deutschen Blogger bislang nicht aufgedeckt, womöglich auch, weil die Deutschen im Vergleich zu anderen Nationen wenig blog affin sind. Wenn Weblogs das globale Gespräch sind, haben die Deutschen für Stillarbeit in der Bibliothek mehr übrig: Wikipedia haben der ARD-ZDF-Online-Studie zufolge im vergangenen Jahr 60 Prozent der Internetnutzer genutzt, in Blogs waren dagegen nur sechs Prozent zugange.

Am Ende interessieren sich wahrscheinlich die Journalisten am meisten für den Blogger, denn er hat ihnen eine bittere Lektion erteilt: Für den Leser ist Objektivität nicht das höchste Gut. Da haben sich die Journalisten jahrzehntelang versucht rein zu halten von Meinung und Gesinnung. Und mit einem Mal treten Blogger an, die klar sagen, woher sie kommen und welche Meinung sie vertreten – und haben Erfolg damit. Dass die Medienkonsumenten weniger Chronistenpflicht, weniger „he said, she said“-Journalismus wünschen, zeigen auch die Erfolge des Regisseurs Michael Moore. Dokumentarisch zwar, aber zutiefst parteiisch sind seine Filme. Die Zuschauer danken es ihm.

Die Medien versuchen sich nun zu öffnen, mitunter unwillig, aber tapfer: Bei den Anschlägen in Bombay veröffentlichte die BBC auf ihrer Seite Tweets, eine Art Microblogs von 140 Zeichen. In Deutschland holte sich die WAZ-Zeitungsgruppe mit Katharina Borchert, bekannt geworden durch ihren alltagsverspielten Blog „Lyssas Lounge“, eine echtes Netzkind als Online-Chefin ins Haus. Und im Dezember ereignete sich eine Kulturrevolution in der „FAZ“: Zehn Feuilleton-Redakteure haben ihre eigenen Blogs.

Diesen Weg sind die Mächtigen in Politik und Wirtschaft schon längst gegangen. John McCains Tochter präsentierte sich im Wahlkampf auf „mccainbloggette. com“ als Mensch zum Anfassen und erklärte: „Ich bin stolz auf meine üppigen Kurven, wie es jede Frau sein sollte, die nicht Größe Zero hat“. In Deutschland twittert sogar SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, „Die sonne geht gerade auf, die convention ist vorueber und auch meine erste twitter-test-woche geht ihrem ende entgegen“, heißt es in haiku artiger Poesie. Und als die Lebensmittelfirma Nestlé den Kaffee Dolce Gusto 2007 auf den Markt brachte, schlug sie den 2000 Bloggern der Plattform Blogbang ein Geschäft vor: Der Konzern werde seine Seite mit jedem Blogger verlinken, der das Online-Werbespiel für den Kaffee mit seinem Blog verlinke. Quid pro Quo, der Deal funktionierte: 500 Blogger folgten dem Vorschlag, fünf Wochen später hatten 320 000 Menschen das Kaffeespiel gespielt. Doch wie gefällt den Bloggern das? „Eine Armee von Davids“ war der Titel eines Buchs über Blogger, was machen die Davids nun, da sich die Goliaths ihrer Methoden bedienen? Ihr Selbstbild gerät ins Wanken. Als Sascha Lobo und Johnny Haeusler die Firma Adical, die Werbeeinnahmen für Blogs akquiriert, gründeten, liefen die Blogger Sturm.

Die Frage, wie kommerziell man werden darf, ist ein häufiges Problem, wenn eine Bewegung erwachsen wird. Und noch mit einer anderen Schwierigkeit, typisch für Professionalisierung, haben Blogger zu kämpfen. Sie müssen rechtlich verankert werden, aus dem „Alles geht, nichts muss“ der ersten Jahre wird ein „Es geht zwar, es muss aber auch“. Noch haben die Blogs ihre Grenzen nicht gefunden. Nicht nur ihr Ton ist oft wüst, es sind auch viele Hilfssheriffs in Blogs unterwegs. So listet die Seite „bitterwaitress“ die Namen derer auf, die knauserig mit dem Trinkgeld waren. Über eine Monika E. Cheang heißt es, erst habe sie vergessen, ihrem Kind Essen zu bestellen, dann habe sie sich als Geizkragen entpuppt. Wäre es eine deutsche Seite, könnten die Macher nach Aussage des Medien rechtlers Thomas Hoeren belangt werden; die Namensnennung verletze Persönlichkeitsrechte. In Sachen Internet sei Deutschland zumindest in Europa der meistregulierende Staat, sagt Hoeren. „Als Blogger muss man journalistisch denken: Es gilt im Prinzip das Presserecht. Werturteile sind in Ordnung, wer falsche Tatsachenbehauptungen verbreitet, ist dagegen dran.“ Deshalb überrascht es Hoeren, dass bislang so selten Gegendarstellungen verlangt werden. Anlass gibt es wahrscheinlich genug: In einer Befragung von Matthias Armborst gaben 90 Prozent der deutschen Blogger an, auch Gerüchte zu veröffentlichen. Wie man mit diesen Behauptungen umgeht, wird eine dringliche Frage. Netzgerüchte wirken bis in die Realwirtschaft hinein: Als ein 18-Jähriger im CNN-Portal für Bürgerreporter schrieb, dass Steve Jobs mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liege, stürzte die Apple-Aktie um 5 Prozent ein. Die Microsoft-Aktie dagegen stieg nach Berichten in It-Blogs, das Unternehmen werde im Zuge der Finanzkrise 17 Prozent der Stellen streichen. Doch nicht nur Unternehmen leiden, auch der Ruf von Einzelpersonen nimmt Schaden: 66 Prozent der Blogger fragen nicht nach Erlaubnis, wenn sie über andere schreiben, ergab eine US-Untersuchung.

Die Anonymität des Netzes enthemmt die Menschen. In Südkorea darf auf den großen Internetseiten inzwischen nur noch schreiben, wer sich mit echtem Namen und Ausweisnummer registriert hat. Im vergangenen Jahr kam es zu etlichen Anklagen, etwa gegen einen Mann, der Gerüchte über einen Bankchef gestreut habe, nachdem der ihn nicht eingestellt hatte. Doch nutzt die Regierung das Gesetz auch für eigene Zwecke: Kurz vor Jahresende meldete sich Minerva noch einmal zu Wort. Die Regierung habe alle Institutionen angewiesen, keine US-Dollar mehr anzukaufen. Prompt erhob die Regierung Anklage, ein Gerücht sei das, staatsfeindliche Hetze. Was in den Anschuldigungen untergeht, ist die wahre Existenz der Person, die vom Volk zum Online-Orakel hochgejubelt wurde und nun als Staatsfeind gilt. Die Göttin ist ein arbeitsloser Akademiker und heißt Park – ein Nachname, der in Südkorea ebenso verbreitet wie hierzulande Müller oder Schulz.

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