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Geschichte: Die Strandläuferin

Sie ist Frankreichs bedeutendste Regisseurin – und hat nun ihr eigenes Leben verfilmt. Ein Besuch bei Agnès Varda in Paris

Paris, 14. Arrondissement. Es ist Markt in der kleinen Rue Daguerre, nahe beim Friedhof Montparnasse, wo Sartre, Beauvoir und Serge Gainsbourg begraben liegen. Agnès Varda wohnt seit 1951 in der Straße, das kleine Haus mit dem lila gestrichenen Tor hat sie öfter gefilmt, zuletzt in ihrer autobiografischen Kino-Erzählung „Die Strände von Agnès“.

Im Laden gegenüber, dem Sitz ihrer Produktionsfirma Ciné Tamaris, sichtet die 81-Jährige mit der immer gleichen helmartigen Pagenfrisur gerade das Bonusmaterial für die DVD-Edition von „Strände“. Man kann einfach eintreten und ihr zuschauen. Auf dem Monitor ist zu sehen, wie ein Lkw ein paar Tonnen Sand auf die Rue Daguerre kippt und die Straße sich in einen Strand verwandelt. An den Schreibtischen sitzen barfuß ihre Mitarbeiterinnen. Kinder spielen Ball, es ist eine heitere Szene. Wenig später sitzen wir zum Lunch im Patio ihres Haus. Es gibt Sushi-Lachs mit Zucchini-Bohnen-Salat.

Hier stehen ja noch die Besen, die man im Film sieht.

Die habe ich letztes Jahr zum 80. Geburtstag bekommen, 80 Besen für 80 Jahre, das ist ein französisches Wortspiel. Ich verbringe viel Zeit in diesem Hof. Als ich 1951 hier einzog, war er in einem schrecklichen Zustand. Ein einziges Chaos. Wir mussten den alten Hof für „Die Strände von Agnès“ im Studio rekonstruieren. Um zu zeigen, wie schwer es war, von der Straße einzubiegen, vollführe ich mit einem Pappauto 14 Lenkmanöver, bis ich die Kurve kriege. Wenn ich gut war, schaffte ich es mit 13 Mal kurbeln. Oder ich ziehe dieses komische Kostüm an, wickle Papier um meine Schuhe und trage die Kohle in den Hof. Das ist unterhaltsam, aber vielleicht verstehen meine Kinder so auch, dass das Leben früher manchmal nicht leicht war.

Im Film sagen Sie, wenn man Menschen öffnen könnte, würde man Landschaften vorfinden. Warum würde man bei Ihnen ausgerechnet auf Strände stoßen?

Ich war immer am Strand, schon in meiner Kindheit in Belgien. Der Krieg brachte uns in die Hafenstadt Sète ans Mittelmeer, als Flüchtlinge lebten wir mit unserer Mutter auf einem Boot. Für andere bedeutet der Strand Sport, man schwimmt oder surft. Für mich ist es Kontemplation. Alle drei Elemente treffen hier aufeinander, die Erde, das Wasser, die Luft. Als ich mit 18 weglief, ging ich nach Korsika und flickte Fischernetze, ich wollte unbedingt auf diese Insel. Mit Jacques Demy war ich oft auf der Atlantikinsel Noirmoutier, dort bin ich bis heute gern. Ich mache inzwischen ja auch Installationen, meine größte ist den „Witwen von Noirmoutier“ gewidmet.

Agnès Varda, diese sehr kleine, resolute Frau, ist Frankreichs bedeutendste Filmemacherin. Sie wird in Brüssel als Tochter eines Griechen und einer Französin geboren, studiert an der Sorbonne, lernt Fotografie, reist um die Welt, porträtiert die großen Schauspieler am Théatre Nationale Populaire und beim Festival in Avignon. Ihr erster Film, „La Pointe Courte“ von 1954, spielt in einem Fischerdorf: poetischer Neorealismus mit dem blutjungen Philippe Noiret. Seitdem hat sie rund 40 Filme gedreht und macht sich seit 2003 auch als Installationskünstlerin einen Namen. 1958 lernt sie Jacques Demy kennen; er dreht Musicals mit Catherine Deneuve („Die Regenschirme von Cherbourg“), sie macht Filme über Leute, die keiner beachtet. Schon mit 30 nennt man sie die „Großmutter der Nouvelle Vague“; das Paar ist mit Jean-Luc Godard befreundet und geht einige Jahre nach Amerika, sie haben zwei Kinder. Es ist die große Liebe, bis zu Demys Tod 1990.

Sie haben, während Jacques Demy krank war, einen Film über sein Leben zu drehen begonnen. Eine Liebeserklärung?

Es war meine Art zu trauern. „Jacquot de Nantes“ ist mein einziger Kostümfilm, weil man 1939 nicht rekonstruieren kann. Wir haben die Lebensgeschichte meines Mannes nachgestellt, mit allem, was dazugehört, mit Drehbuch, Dialogen und Kulissen. Ich könnte nie so wie Claude Chabrol einen Film über die Bourgeoisie drehen, das ist nicht meine Welt. Aber ich habe die damalige Zeit ja selbst erlebt, deshalb ging es mit dem Historienfilm bei „Jacquot“ .

Warum mischen Sie so gerne die Genres Dokumentar- und Spielfilm?

Das stimmt nicht. Nur bei „Die Strände“ ist das Genre nicht eindeutig. Ich erzähle mein Leben, aber damit es Kino wird, spiele ich die Rolle der kleinen, schwatzhaften Agnès und erlaube mir kleine Clownerien. „Vogelfrei“ mit Sandrine Bonnaire war ein Spielfilm, „Die Sammler und die Sammlerin“ von 2000 ein Dokumentarfilm, weil ich etwas herausfinden wollte über die Menschen, die vom Müll der anderen leben. Das Thema definiert das Genre. Ich filme mit der Digitalkamera, weil ich mich Leuten, die sich von unseren Resten ernähren, nie mit der großen Kamera hätte nähern können. Sie hätten gedacht, da kommt ein Fernsehteam. Aber so konnte ich normal mit ihnen sprechen und sagen: Ich möchte, dass Sie Zeugnis ablegen von ihrem Standpunkt in der Gesellschaft.

Haben Sie so auch als Fotoreporterin gearbeitet?

Ich hatte Glück: Ich war zufällig oft dort, wo gerade etwas passierte, deshalb ist „Strände“ eben doch kein Film über mich und meine Familie geworden. 1961/62, während der Revolution in Kuba, traf ich Fidel Castro und porträtierte ihn als Utopisten mit Flügeln aus Stein. Die Steine standen zufällig hinter ihm, aber das Bild passte: Er konnte tatsächlich nicht abheben mit seinen Ideen. Ein paar Jahre später filmte ich die Vietnamproteste in Amerika und die Black Panthers, auf dem Höhepunkt der Bewegung.

Zu Beginn der Revolution waren Sie als Fotografin in China – auf eigene Faust?

Das war 1957, es war eine offizielle Einladung der Regierung. China wurde damals von den Vereinten Nationen noch nicht als Staat anerkannt, das muss man sich heute mal vorstellen! Wir waren acht Leute, lauter Spezialisten, die in China gebraucht wurden, ein Radiospezialist zum Beispiel oder ein Experte für Konservendosen. Ich sollte Fotos machen, damit China endlich vom Rest der Welt zur Kenntnis genommen wird. Ich war im Norden, in den großen Fabriken, aber ich hatte keine Lust, immer nur Gewerkschaftstreffen zu fotografieren. Also sagte ich, ich interessiere mich für den chinesischen Zirkus und die Puppentheater. Ich nahm auch ein Boot von Chunking nach Schanghai, die Reise dauerte vier Tage. Da saßen Bauern mit ihren Hühnern, junge Leute schleppten Räder und Werkzeug, man spürte die revolutionäre Stimmung. Ich habe 3000 Fotos gemacht, es waren viel zu wenige.

Agnès Varda, die Sammlerin. In „Strände“ versammelt sie Menschen, Momente und Begegnungen zu einer verspielten, berührenden Chronik, in der das gesamte 20. Jahrhundert aufscheint. In ihrem „Sammler“-Film zeigt sie Leute, die sich bücken, um Fallobst oder Müll aufzulesen. Eine Demutsgeste, die genaues Hinschauen erfordert. Auch jetzt, im Hof, bückt sie sich ständig, wegen ihrer geliebten Katzen. Sie stellt sie dem Besuch ausführlich vor. Es sind vier, Nini und ihre drei Kinder. Eins der Kätzchen heißt Mocky, nach Jean-Pierre Mocky, unter dessen Regie Vardas 36-jähriger Sohn Mathieu gerade vor der Kamera steht. Katzen streifen durch viele ihrer Filme, auch das Logo ihrer Firma ziert eine Katze. Und durch den „Strände“-Film geistert die Regie-Legende Chris Marker („Sans Soleil“)mit einer Katzenmaske.

Waren es die Reisen, war es 68: Was hat Sie politisiert?

Ich bin keine politische Person. Ich war nie in einer Partei. Ich war ein Flüchtlingskind aus Belgien, wir hatten kein Radio und keinen Fernseher. Zwar kam die Weltgeschichte in Gestalt der Deutschen und der Amerikaner zur Tür hereinspaziert, aber von den Konzentrationslagern wusste ich damals nichts. Ich bin eine Spätentwicklerin, was mein politisches Bewusstsein angeht. Ich repräsentiere nichts, nicht mal die Frauenbewegung.

Aber Sie haben doch an legendären feministischen Aktionen teilgenommen!

Das können die jungen Leute heute nicht mehr verstehen, wie dramatisch es für Frauen in den 60er Jahren war, wenn sie ungewollt schwanger wurden. Erst haben wir für die Pille gekämpft, dann für das Recht auf Abtreibung.

Sie haben das „Manifest der 343 Hexen“ unterzeichnet.

Die konservative Zeitung „Minute“ hat uns so genannt. Simone de Beauvoir, Marguerite Duras, Françoise Sagan, Catherine Deneuve, Delphine Seyrig, Jane Birkin, wir alle erklärten öffentlich: „Wir haben abgetrieben“ – auch wenn es gar nicht bei jeder stimmte. Es gab diese Klassenjustiz: Die Reichen konnten für eine Abtreibung ins Ausland gehen, die Armen landeten im Gefängnis und hatten bestenfalls einen Pflichtverteidiger.

Hatten Sie Erfolg?

Wir veranstalteten 1972 einen Protestmarsch zum Jugendgericht von Bobigny und haben großen Krach geschlagen. Ein minderjähriges Mädchen war von ihrem Verlobten angezeigt worden, der sie vergewaltigt hatte. Das war im Oktober, ich war gerade hochschwanger mit Mathieu und bin mit dickem Bauch für das Recht auf Abtreibung auf die Straße gegangen. Damit die Leute begreifen, es geht um die Kinder. Es war dann Simone Veil, die durchsetzte, dass das Gesetz geändert wird. Für die Frauen hat sich seitdem viel geändert, aber Frankreich ist ein sehr konservatives Land. Es gibt immer noch viel zu tun. Trotzdem: Ich bin Filmemacherin von Beruf, nicht Feministin.

Eine Frau, allein auf einer Straße. In Vardas berühmtesten Filmen, in „Vogelfrei“ von 1985 und in „Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7“ von 1961 gibt es jeweils dieses Bild. Sandrine Bonnaire stirbt als Vagabundin auf der Landstraße den Kältetod; Cléo streift in Realzeit durch Paris, durch die Cafés, Läden und Parks, sie wartet auf das Ergebnis einer Krebs-Untersuchung. Ein Wunschbild der Freiheit, durchsetzt von Ängsten und Einsamkeit. Wie Jeanne Moreau, die in „La Notte“ von Michelangelo Antonioni allein durch Mailand spaziert.

Jeanne Moreau sagte einmal, die Filmemacher der Nouvelle Vague waren Machos. Sie hat sich mit ihnen über deren Frauenbild gestritten. Haben Sie das auch getan?

Nein. Wir waren keine Gruppe, wir haben uns nicht abends in der Kneipe getroffen. Die Kritiker der „Cahiers du Cinéma“, die dann Regisseure wurden, Truffaut, Godard, Rivette, Rohmer, die waren eine Gruppe. Aber Jacques Demy und ich gehörten nicht dazu. Uns nannte man, zusammen mit Alain Resnais und Chris Marker, die Rive-Gauche-Leute, die Gruppe vom linken Seine-Ufer. Der damalige Leiter des Londoner Filmfests hat den Begriff geprägt. Wir waren befreundet, aber kein Debattierclub. Es stimmt schon, Godard war damals wirklich ein Macho, aber später wurde ihm die Stärke und Originalität der Frauen bewusst, das schlägt sich auch in seinen Filmen nieder.

Wie haben Sie Godard dazu überredet, dass er in dem kleinen Slapstick-Stummfilm in „Cléo“ seine Sonnenbrille auszieht?

Oh, das war ein Spaß. Er trug damals schrecklich dunkle Brillen. Auch heute hat er ja immer eine Sonnenbrille an, aber sie ist viel heller, und man kann seine Augen sehen. Damals waren die Gläser kohlrabenschwarz. Ich liebte ihn sehr, es war die Zeit, als er mit Anna Karina zusammen war. Wir haben viel miteinander gemacht, sind auch zusammen in Urlaub gefahren. Dann gingen wir nach Los Angeles und als wir nach ein paar Jahren zurückkamen, sagte er ganz radikal, er wolle mit seinen bourgeoisen Freunden nichts mehr zu tun haben, nicht einmal mit Jacques. Dabei war Jacques nie ein Bourgeois. Das hat mich sehr verletzt.

Es ist nicht leicht, Agnès Varda zu interviewen, sie fragt ständig zurück, will wissen, wie es mit der Frauenbewegung in Deutschland war, ob der Salat schmeckt, was Fatih Akin macht, wie es dem deutschen Film geht. Sie notiert Regisseure und Filmtitel, lässt sich die Namen in ihren Block buchstabieren. Sie sammelt unentwegt, springt von einer Assoziation zur nächsten, ein mäandernder Gedankenfluss, wie ihre Erzählweise im Film, die sie „cinécriture“ getauft hat.

Ihre Generation ist unglaublich vital. Rohmer, Rivette, Resnais, auch sie drehen immer noch Filme.

In einer amerikanischen Zeitung stand kürzlich: „Gibt es etwas im französischen Essen, dass diese Oldies alle noch arbeiten?“ Der neue Film von Alain Resnais soll wunderbar sein, er ist 86. Wir hegen große Zuneigung und Respekt füreinander, aber wir sehen uns nicht oft. Das Leben ist kurz, das weiß man in meinem Alter, ich bin zugeschüttet mit Arbeit, habe neun Monate an „Die Strände“ geschnitten, jetzt die DVD, ein kleines Buch, die vielen Reisen, nach Berlin geht es nach Brasilien, da fehlt mir die Zeit.

Agnès Varda schlummert plötzlich weg, mitten im Satz, zwei Minuten, auch heute ist es ein voller Arbeitstag. In der Küche wird gerade ein riesiger, bordeauxfarbener Herd installiert. Zum Abschied erzählt sie, dass der alte orangene Herd 42 Jahre alt ist. Seine Abdeckplatte wird nun als Wandschutz recycelt. Wäre doch schade, ihn auf den Müll zu werfen.

Das Berliner Kino Arsenal (Potsdamer Str. 2) widmet Varda bis zum 30. 9. eine große Retrospektive mit ihrem vollständigen Werk. Sie wurde am gestrigen Freitag in Anwesenheit der Regisseurin mit „Die Strände von Agnès“ eröffnet; der autobiografische Bilder-Essay kommt nächsten Donnerstag in die Kinos. Auch am heutigen Sonnabend ist Varda im Arsenal anwesend, bei „La Pointe Courte“ (19 Uhr) und „Cléo de 5 à 7“ (21 Uhr), ebenso am Sonntag, bei „Documenteur“ (18 Uhr) und „Vogelfrei“ (19.45 Uhr). Die meisten Filme laufen mit deutschen oder englischen Untertiteln. Infos: www.arsenal-berlin.de

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