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Pershing

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Geschichte der Friedensbewegung: Sonne statt Reagan

An einem Samstag im Oktober 1983 demonstrieren in Deutschland 1,5 Millionen Menschen gegen das Aufstellen neuer Raketen – mindestens eine halbe Million protestiert in der Hauptstadt Bonn. Es war Höhepunkt und Ende der Friedensbewegung.

Es wird keiner jener Herbsttage werden, von denen man sagt, sie seien aus Gold. Aber die Gestalten, die an diesem 22. Oktober am Bonner Hauptbahnhof aus den Zügen steigen, wissen das noch nicht. Es ist sechs Uhr, die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und die morgendliche Kälte vertreibt kaum die Müdigkeit. Die Züge sind von weither gekommen, aus allen Ecken und Winkeln der Bundesrepublik Deutschland. Viele Züge, volle Züge. Es ist ein historischer Tag. Samstag, 22. Oktober 1983.

Die Gestalten werden von anderen Gestalten in Empfang genommen, werden in unbekannte, dunkle Straßen geleitet, nebenan fahren Busse heran, zu den Menschenmassen strömen neue Menschenmassen. Grüne Parkas, Umhängetaschen, Thermoskannen mit dem Kaffee, den man bei diesem Wetter brauchen kann. Stillstand, es geht nicht vor und nicht zurück. Es beginnt zu nieseln, und allmählich ahnen die Menschen, die hier zusammengekommen sind, dass die höchste Tugend an diesem Tag die Tugend der Geduld sein wird.

Demonstration gegen die Nato-Nachrüstung. Mindestens 100 000, hatte es zuvor geheißen, würden nach Bonn kommen, wahrscheinlich aber viel mehr. Vielleicht werde sogar der westdeutsche Demonstrationsrekord gebrochen, den die Rüstungsgegner zwei Jahre zuvor, 1981, aufgestellt hatten, auch hier in Bonn, in der Bundeshauptstadt. An die 300 000 hatten damals auf der Hofgartenwiese gestanden und den Rednern fünf Stunden lang zugehört. Es war der große Aufbruch, der Durchbruch der Friedensbewegung gewesen. Gezeigt hatte sich damals nämlich, dass diese Bewegung kein Häuflein versprengter Idealisten war, christlich-pazifistische Bessermenschen, und auch nicht Moskaus nützliche Idioten, wie immer wieder behauptet worden war, sondern eine Macht aus der Mitte der Gesellschaft. Und Prominenz war auch dabei. Heinrich Böll redete und Walter Jens, Helmut Gollwitzer und Heinrich Albertz, Petra Kelly, Erhard Eppler, Coretta Scott King, die Witwe von Martin Luther King. Und Harry Belafonte sang dazu.

Zwei Jahre später sollte das alles noch übertroffen werden. Als an diesem 22. Oktober 1983 der Tag anbrach, als sich die fünf Demonstrationskolonnen nach endlosen Stauungen und Stockungen schließlich Richtung Hofgarten in Bewegung setzten, und als gegen zehn Uhr sogar die Sonne herauskam, da wurde es zur Gewissheit: Hier wand sich der größte Protestwurm durch die Stadt, den die Bundesrepublik Deutschland je gesehen hatte. Von einer Million Menschen sprachen die Organisatoren etwas überschwänglich, eine halbe Million werden es aber gewiss gewesen sein. 150 000 von ihnen bildeten eine Kette um das Regierungsviertel, entlang der polizeilich abgeriegelten Bannmeile; 80 000 weitere formierten einen „Menschenstern“ zwischen den Bonner Botschaften der Atommächte.

Doch der Friedensbewegung begann die Zeit davonzulaufen. Schon in einem Monat, Ende November, wollte der Bundestag über die Aufstellung neuer amerikanischer Atomraketen in Deutschland abstimmen. Vier Jahre zuvor hatte die Nato – angetrieben vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt – den sogenannten Doppelbeschluss gefällt. Danach sollten als Antwort auf die sowjetischen atomaren Mittelstreckenraketen vom Typ SS 20 in Westeuropa 572 amerikanische Raketen stationiert werden, Cruise Missiles und Pershing II, viele auf deutschem Boden. Parallel dazu wurden Verhandlungen mit der Sowjetunion begonnen. Würde sich Moskau zum Abbau der SS 20 bewegen lassen, wollte die Nato auf die sogenannte Nachrüstung verzichten.

Diese Verhandlungen indessen, am UN-Ort Genf übrigens, verliefen nicht günstig. Damit war zu rechnen gewesen. Ganz und gar überraschend hingegen war der mehr und mehr anschwellende Widerstand gegen die Nato-Pläne in Deutschland selbst. Diese Form der Rüstung, hieß es, diene keineswegs dem Gleichgewicht der Kräfte, der Abschreckung, die in all den Jahren des Kalten Kriegs den großen Schlagabtausch zwischen Ost und West verhindert habe. Die neue Art von Raketen mit ihrer Fähigkeit zu „chirurgischen Kleinstschlägen“ nähre vielmehr die Illusion, Atomkriege könnten in Zukunft lokal begrenzbar und damit führbar sein, könnten also nicht mit dem Selbstmord des Angreifers enden, sondern mit seinem Sieg. Gerade Deutschland könne auf diese Weise zum atomaren Schießplatz der Großmächte werden.

Es blieb nicht bei solchen militärisch- taktischen Überlegungen. Das gesamte Prinzip der Abschreckung durch Wettrüsten wurde infrage gestellt: Wie könnten neue Raketen neue Sicherheiten schaffen, da das von beiden Militärblöcken angehäufte atomare Waffenarsenal bereits jetzt ausreichte, um jegliches Leben auf der Erde neunmal zu vernichten? Angesichts dieser Wirklichkeit sei Abrüstung wichtiger als Abschreckung.

Die Plausibilität solcher Gedanken erwies sich als enorm ansteckend, erreichte immer mehr Menschen und wurde zuerst 1980 im sogenannten „Krefelder Appell“ öffentlich, einem Aufruf an die deutsche Regierung, die Zustimmung zum Nachrüstungsbeschluss zurückzuziehen. Schon nach sechs Monaten war er von 800 000 Bundesbürgern unterschrieben worden, im Lauf der Jahre wurden es vier Millionen Unterschriften.

Nächster Höhepunkt der sich aus zahllosen kleinen Gruppen formierenden Friedensbewegung wurde 1981 der Evangelische Kirchentag in Hamburg, auf dem 80 000 gegen das Wettrüsten demonstrierten und das offizielle Motto „Fürchtet euch nicht!“ zur Parole „Fürchtet euch!“ umformulierten. In der Tat war die Angst vor einem drohenden Atomkrieg von nun an dauerhaftes Thema westdeutscher Debatten. „Ich habe Angst“ wurde zum selbstverständlichen und gerne auch mit eifrigem Pathos vorgetragenen Statement der politischen Diskussion. Der Journalist Jürgen Leinemann veröffentlichte sein Buch „Die Angst der Deutschen“, die Amerikaner wunderten sich über „German Angst“.

Beim angstgesteuerten, rein gefühligen Protest blieb es jedoch nicht. Gegen die spöttisch „Raketenzähler“ genannten Experten von Bundeswehr und Bundesregierung traten nun Anti-Experten auf, die der Nato-These, der Warschauer Pakt sei in Europa dem westlichen Bündnis überlegen, vehement und mit guten Argumenten widersprachen. Wehrkundige Wissenschaftler und sogar manche Militärs schlugen sich auf die Seite der Friedensbewegung, am bekanntesten von ihnen wurde der ehemalige General Gert Bastian. Zahllose Bücher erschienen in diesen Jahren, Laien wurden zu Militärfachleuten, noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatte es ein so breites Wissen über Verteidigungsfragen gegeben.

All dies, die gesamte Entwicklung der Jahre 1979 bis 1983, sollte nun am 22. Oktober in Bonn ihre Krönung finden, sollte zeigen, welche Macht die Friedensbewegung mittlerweile darstellte, um in letzter Minute das Weiterdrehen der Rüstungsschraube zu verhindern, dem Raketenpoker Einhalt zu gebieten.

Und der Protest war nicht auf die Hauptstadt allein beschränkt, Hunderttausende gingen in Hamburg und West-Berlin auf die Straße, zwischen Stuttgart und Neu- Ulm präsentierte sich eine 109 Kilometer lange Menschenkette, sie reichte vom Hauptquartier der US-Streitkräfte in Europa bis zur Wiley-Kaserne, in der Pershing-II-Raketen stationiert werden sollten. Insgesamt waren an diesem Oktobersamstag etwa 1,5 Millionen Rüstungsgegner unterwegs. Kein Wunder, dass sie sich stark fühlten.

Zumal die Friedensbewegung, anders als noch vor zwei Jahren, starke Verbündete gewonnen hatte. Die Grünen waren eine Bundestagspartei geworden, waren mit 5,6 Prozent bei den Wahlen im März ins Parlament eingezogen. Noch wichtiger aber war: Nach dem Sturz von Kanzler Schmidt durch Helmut Kohl und dessen anschließendem imponierenden Wahlsieg (48,8 Prozent für die CDU/CSU) fühlten sich viele Sozialdemokraten von einer Last befreit und konnten ihre Sympathien für die Rüstungsgegner offen zeigen. Heinrich Böll war der erste Redner, der am 22. Oktober auf diesen Umschwung hinwies: „Denken Sie zwei Jahre zurück, als wir als verdächtige Minderheit betrachtet wurden, als sich einige SPD-Abgeordnete schamhaft in der Nähe der Rednertribüne zeigten.“ Diesmal waren zahlreiche Sozialdemokraten dabei, selbst Bundeswehrsoldaten demonstrierten mit, und die IG Metall skandierte: „Marschieren wir gegen den Westen? Nein! Marschieren wir gegen den Osten? Nein! Wir marschieren gegen eine Welt, die von Rüstung nichts mehr hält.“ Joseph Beuys sang „Sonne statt Reagan“, der amerikanische Präsident Ronald Reagan hatte zuvor die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnet und mit seiner Rhetorik die Angst vor einem möglichen Krieg noch befördert. Es spielten der amerikanische Folksänger Arlo Guthrie und die Kölner Gruppe BAP: „Plant mich bloß nicht bei euch ein.“

Der größte Moment freilich war, als Willy Brandt das Podium bestieg. Noch immer hatte die SPD in der Frage des Nato-Doppelbeschlusses nicht eindeutig Position bezogen. Und nun stellte sich ihr Vorsitzender vor die halbe Million in Bonn und sagte ein klares Nein zur Nachrüstung: „Wir brauchen in Deutschland nicht mehr Mittel zur Massenvernichtung, wir brauchen weniger.“ Stundenlang waren zuvor die Koordinatoren der Bonner Demonstration mit Brandt den Text seiner Rede durchgegangen, hatten um jedes Komma gefeilscht, jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, erzählt der Journalist Andreas Zumach, der sich damals für „Aktion Sühnezeichen“ engagierte und einer der Hauptorganisatoren der Demonstration war. Trotzdem mischten sich in den Beifall Pfiffe und zornige Buhrufe, weil Brandt neben seiner Ablehnung der Nachrüstung ein deutliches Bekenntnis zu Bundeswehr und Nato abgab. Dennoch kann die Einzigartigkeit des Vorgangs kaum überschätzt werden: Ein SPD-Vorsitzender lehnt auf einer Kundgebung ein politisches Herzstück seines Parteigenossen, des Ex-Kanzlers Helmut Schmidt, ab.

Die Friedensbewegung, das zeigt dieser – heute schier unglaubliche – Moment, war eine politische Kraft geworden, eine außerparlamentarische Opposition, wie sie es noch nie gegeben hatte, auf Augenhöhe mit anderen politischen Kräften. Genau das bescheinigt ihr Herbert Riehl-Heyse von der „Süddeutschen Zeitung“ in seinem Leitartikel am Montag danach. „Unbestreitbar ist, dass hier, ganz deutlich nicht mehr nur von ein paar Randgruppen der Gesellschaft, ein imponierendes Signal gesetzt worden ist: Ein Signal, das die amtliche Politik nicht mehr mit einem Achselzucken ignorieren können wird.“

Genau das hatte sie zwei Jahre vorher getan. „Infantil“ nannte Helmut Schmidt die Protestierenden, „Traumtänzer“ Verteidigungsminister Hans Apel. Die Zeitung „Die Welt“ fühlte sich an die nationalsozialistischen Nürnberger Reichsparteitage erinnert. Das tat auch Franz Josef Strauß, der die Bonner Demonstration einen „umgekehrten Reichsparteitag“ nannte. „Umgekehrt“, immerhin.

Völlig außer Rand und Band war Ludolf Herrmann, Kommentator des bayerischen Rundfunks geraten. Für ihn war die Kundgebung „latenter Faschismus“, was er schon von der Körperhaltung der Demonstranten ablas, „ein leicht vorgeneigter, in gekrümmten Schultern schwingender, unfreier Gang“. Zudem nahm er „eine gewisse Schlampigkeit der Kleidung“ wahr. Die hunderttausendfache Körperlichkeit dieser schlampigen Menschen will den Autor gar nicht mehr loslassen: „Für Momente der Massenerotik (kommt) die kleine rachitische Seele aus dem Gefängnis des pickeligen Körpers.“ Und was werden diese seelenverlassenen Körper tun? Ludolf Herrmann steigert sich zum Finale furioso, er entdeckt „ein Friedenspärchen in der Haltung des Koitus, sein Becken senkt sich mit den Konvulsionen der Musik auf das ihre.“

Solche Töne waren nun nicht mehr zu hören. Mochte auch Franz Josef Strauß die Friedensbewegung weiter schmähen als „vom Kreml gesteuerte Armeen des politisch-psychologischen Kriegs“, denen es darum gehe, „die Straßen und Plätze zu Schlachtfeldern umzufunktionieren“. Die Stärke dieses Herbsttages führte viele zu der Gewissheit, die Nachrüstung könne in letzter Minute noch verhindert werden. „Ich habe bis zum letzten Tag nicht ausgeschlossen, dass das gelingen könnte“, sagt Organisator Andreas Zumach in der Rückschau, „ich habe zumindest geglaubt, der Termin könne verschoben werden.“

Als es Abend wurde an diesem 22. Oktober, schien der kleine Bonner Hauptbahnhof noch einmal auseinanderzubrechen wie schon am Morgen bei der Ankunft der Hunderttausende. Zug um Zug fuhr ein, immer neue Menschen kamen, füllten die Bahnsteige. Und jeder abfahrende Zug wurde verabschiedet mit Geschrei und Winken und Liedern. We shall overcome.

Sie sollten sich irren. Die Regierung dachte nicht im Mindesten an Umkehr oder an Aufschub. Kanzler Kohl beharrt auf der uneingeschränkten Bündnistreue zu den Vereinigten Staaten als „Kernpunkt deutscher Staatsraison“, und am 22. November, genau einen Monat nach der Demonstration, beschloss der Bundestag mit 286 zu 225 Stimmen die Aufstellung von Pershing II und Cruise Missiles auf deutschem Boden.

Die Friedensbewegung brach augenblicklich zusammen.

Es zeigte sich: Über die Aktionstage um den 22. Oktober hinaus hatte sie keine Kraft mehr, neuerliche Großauftritte zu organisieren. Flügelkämpfe kamen hinzu, Streitigkeiten über neue Strategien und nach und nach die bittere Einsicht, dass der Zugriff politischer Parteien, von Sozialdemokraten und Grünen, die „Verstaatlichung“ der Friedensbewegung sozusagen, nur ein scheinbarer Gewinn war. Im Endeffekt beraubte er sie ihrer Unabhängigkeit und Vitalität.

Entscheidender noch war indessen die maßlose Enttäuschung der Friedensaktivisten über ihre politische Wirkungslosigkeit. Was, fragten sich viele, kann einer Bewegung mehr gelingen, als an einem einzigen Tag 1,5 Millionen Menschen zu mobilisieren, Bundestagsparteien und Prominenz aller Art auf die eigene Seite zu ziehen? Und doch blieb das Ziel unerreichbar. Viele, die sich engagiert hatten, wandten sich nun ab. Nicht nur von der Friedensbewegung. Sondern von der Politik überhaupt.

Der 22. Oktober 1983 markierte den Höhepunkt des außerparlamentarischen Protests, der 1967 begonnen hatte, über den Widerstand gegen die Atomenergie weiterging, beim Kampf gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen und in den Hausbesetzungen zwischen Köln, West-Berlin und Zürich immer wieder aufflackerte. Und dieser Höhepunkt bedeutete zugleich sein Ende. Ein neues Wort machte die Runde: Politikverdrossenheit.

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