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Gipfel: Bildung ist die reichste Bank

Kaum naht Deutschlands erster Bildungsgipfel, verschlingt die Finanzkrise alle Ressourcen. Was aber nützen volle Konten, wenn die Köpfe leer bleiben?

Von Caroline Fetscher

Ein Wunder geschieht da auf der Bühne, das Märchen von den sieben Mädchen. In der kargen Aula einer Berliner Grundschule führen sie ein Theaterstück auf. Farbige Tücher sind die Requisiten, einem Kassettenrekorder entströmt orientalische Musik. Gespannt sitzen die Mütter im Saal, viele mit Kopftuch und Videokamera. Väter sind nicht erschienen, nur jüngere Brüder. Und die Lehrer erleben etwas Seltenes, Berührendes. Mädchen, die im Klassenzimmer mit Mühe lesen, die oft schüchtern wirken, abgelenkt, bedrückt, sprechen hier, beim türkischen Märchen „Keloglan und der Riese“ flüssig, auswendig und deutlich. Fast eine Stunde vollste Konzentration beweisen die sechs türkischen Kinder und ihre deutsche Mitschülerin, mit Verve, mit Ernst und Witz.

Von dieser kleinen Theaterpremiere im Sommer 2008 in Berlin hat die restliche Welt wenig erfahren. 500 Kinder der Schwielowsee-Schule, eine Ganztagsgesamtschule im Stadtteil Tempelhof-Schöneberg, begehen an diesem Tag den Abschied von dem Abrissgebäude, in dem sie bisher unterrichtet wurden. Inzwischen sind sie alle auf andere Schulen verteilt worden. Knapp über die Hälfte der Kinder sind, wie in mittlerweile nahezu allen urbanen Ballungsgebieten Deutschlands, nichtdeutscher Herkunft. 14 verschiedene Nationen.

Auf der Bühne sind diese Kinder erstmals ihrem schöpferischen Selbst begegnet. Der Theatertherapeutin Beate Ehlers ist es zu verdanken, dass auf die kleine Truppe der Funke einer Ahnung dessen übergesprungen ist, was Bildung bedeutet: Dass man sich mit vielen Facetten seines Ichs in ein Verhältnis zur Welt setzt. Auf umfassende Bildung können die Mädchen der Schwielowseeschule kaum hoffen. Wie genau sie dies realisieren, ist erschreckend. Als das Theater vorüber, das an ihrer Schule einmalige Projekt beendet ist, sind Enttäuschung und Trauer groß, wie sich die Lehrerin erinnert. „Ich hasse meine Zukunft!“, bricht es unvermittelt aus einem der Mädchen heraus. Was für ein Satz.

„Der wahre Zweck des Menschen (…) ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“, schrieb Preußens Kulturreformer Wilhelm von Humboldt (1776 – 1835), heute Namenspatron der von ihm 1810 mitgegründeten Universität zu Berlin, in seinen „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“. Humboldt fährt fort: „Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas andres, obgleich mit der Freiheit eng Verbundenes: Mannigfaltigkeit der Situationen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einförmige Lagen versetzt, bildet sich minder aus.“

Das von der Niederlage gegen Napoleon gedemütigte Preußen sollte, so wünschte sich der Visionär, in Kompensation für die Schmach auf dem Schlachtfeld, auf dem Feld der Bildung als Kulturnation erstrahlen. Im Land der Dichter und Denker sollte die Bildung einen nachhaltigen, gewaltigen Schub erhalten. Mit der Rückendeckung von Staatsminister Hardenberg machte sich der Philosoph, Philologe und Diplomat Humboldt daran, ein dreistufiges Schulsystem mit Elementarschule, Gymnasium und Universität zu entwerfen. Gelernt hatte der aus einer bildungsbeflissenen Familie von Offizieren stammende Humboldt (wie sein Bruder Alexander) bei einem der zentralen Reformpädagogen der Zeit, Johann Heinrich Campe. Dass in der Sphäre der Bildung den spezifischen Bedürfnissen des Individuums Rechnung getragen werden muss, dass Neugier und Kreativität, nicht sture Dressur die Grundlage sein sollten, das hatten die vom Lernen regelrecht besessenen Humboldt-Brüder unter anderem durch ihn und die sie ermutigenden Eltern erfahren.

Im Herbst 1809 legte Wilhelm von Humboldt Entwürfe für das Schulwesen vor, die anstelle der üblichen „Standesbildung“ eine „allgemeine Menschenbildung“ im Sinn hatten. Nicht Ritterakademien oder Kadettenschulen – wie jene, unter der der junge Friedrich Schiller so grausam gelitten hatte – sollten hier das Vorrecht haben und auch nicht die bürgerliche Realschule. Elementarschüler müssten vielmehr in den Genuss der Lehren von Pestalozzi geraten, nach dessen Ideen, so Humboldt, „das Kind immer das volle und deutliche Bewusstsein haben muss, was es in jedem Augenblick hört, sagt und tut, und warum so und nicht anders gehandelt wird.“ Sinn statt Drill zu erfahren – eine Devise, die auch für das „Humanistische Gymnasium“ zu gelten hatte. Angereichert durch das Studium der Antike, wofür eine umfassende Kenntnis des Lateinischen und Griechischen unerlässliche Bedingung war, bereitete die Schule so auf das Studium an der Universität vor.

„Mehr Freiheit wagen“ könnten moderne Politiker den Slogan für Humboldts Bildungspaket heute nennen, wobei ihm völlig klar war, dass Freiheit ohne einen entsprechenden Fundus an Wissen, Erkenntnis und Selbsterkenntnis wenig Wert hat: „Nun aber erfordert die Möglichkeit eines höheren Grades der Freiheit immer einen gleich hohen Grad der Bildung, und das geringere Bedürfnis, gleichsam in einförmigen, verbundenen Massen zu handeln, eine größere Stärke und einen mannigfaltigeren Reichtum der handelnden Individuen. Besitzt daher das gegenwärtige Zeitalter einen Vorzug an dieser Bildung, dieser Stärke und diesem Reichtum, so muß man ihm auch die Freiheit gewähren, auf welche derselbe mit Recht Anspruch macht. Ebenso sind die Mittel, durch welche die Reform zu bewirken stände, einer fortschreitenden Bildung, wenn wir eine solche annehmen, bei weitem angemessener.“

Von der Freiheit, von der „Mannigfaltigkeit der Situationen“, die Humboldt als Voraussetzung dafür erkannte, dass ein umfassend gebildeter Bürger überhaupt entstehen kann – die Bürgerin blieb zunächst weitgehend zweitrangig –, erlaubte das feudal und militärisch geprägte System allerdings nur wenigen Gebrauch zu machen. „Schwarze Pädagogik“, wie Katharina Rutschky ihre Anthologie mit Texten aus den Abgründen des Schulwesens betitelte, herrschte weiter ungebrochen neben den neuhumanistischen Idealen.

Erst in den Sechziger und Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, beeinflusst von einer regelrechten „Revolte im Erziehungshaus Deutschland“ durch die aufständischen Studenten im Jahr 1968, schafften schließlich alle Länder der Bundesrepublik die Prügelstrafe an Schulen ab, erst im Dezember 2000 erließ der Bundestag mit Paragraph 1631 Absatz 2 das „Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung“. Mit zornigen Appellen „den Muff von tausend Jahren“ zu verjagen, der sich „unter den Talaren“ verbarg, machte sich die Studentenbewegung auf, repressive Erziehung und am Klassensystem orientierte Institutionen mit ihren Utopien zu konfrontieren.

Eng verknüpft sahen sie Ausbeutung, Kapitalismus und Repression. Auch wenn sie weder mit Marx die Ökonomie umwälzen noch mit Engels die Familien und Klassen abschaffen konnten, ihr idealistischer Ansatz zeitigte im Bildungssystem einige Auswirkung – sowohl auf den Lehrstoff als auch auf die verschiedenen Unterrichtsstile. Am dreigliedrigen Schulsystem, an der fatalen Ungleichheit der Chancen zwischen „bildungsnah“ und „bildungsfern“ erzogenen Kindern hat sich heute indes wenig geändert. Kaum 40 Prozent eines Schülerjahrganges nehmen ein Studium auf – in anderen Ländern der Europäischen Union, in Skandinavien zumal, sind es bis zu zwei Drittel. Wer gar keinen oder nur einen Hauptschulabschluss vorweisen kann, dessen Weg zum Empfänger von staatlichen Transferleistungen ist meist schon vorgezeichnet.

Die „Mannigfaltigkeit der Situationen“, wie Humboldt sie für eine die wahrhafte Bildung fördernde Erziehung forderte, findet sich hier nicht. Freiheit zur Bildung stößt in der Gegenwart, besonders bei den so genannten ungebildeten Schichten, auf Grenzen, die mentalen Betonmauern gleichen. Dies manifestiert und äußert sich beispielsweise in einem Offenen Brief, den die Bürgerstiftung Berlin am 15. Oktober an Bundeskanzlerin Angela Merkel schickte. Im Vorfeld des von ihr ins Leben gerufenen „Bildungsgipfels“ am 22. Oktober in Dresden blasen hier 73 „Lesepaten“ der Stiftung gewissermaßen zum Rütli- Alarm.

Diese ehrenamtlich engagierten Menschen besuchen regelmäßig Schulen und Horte, an denen sie Migrantenkindern und Kindern aus bildungsfernen deutschen Familien vorlesen, Geschichten erzählen und Fragen beantworten. Sie arbeiten in einer Art Notstandsgebiet, einer ausgemachten Krisenregion des Bildungssystems, sie berichten sozusagen von einer emotionalen Dritten Welt: „Wenn die Kinder, mit denen wir es zu tun haben, in die Schule kommen, haben sie oftmals von der Fülle der sie umgebenden Welt so gut wie nichts erfahren“, schreibt Hildegard Bussmann im Namen der 73 Paten. „Niemand in der Familie hat ihnen vorgelesen, niemand gesungen. Eher haben sie tausende von Stunden vor dem Fernseher und vor Spielkonsolen verbracht. Ihr Sprachvermögen ist entsprechend dürftig. Sie kennen ihren Kiez nicht, von der Stadt ganz zu schweigen. Ihre Motorik ist unterentwickelt. Weißbrot, Nutella und Süßigkeiten gelten ihnen als tägliche Kost. Sie wissen nicht Mond und Sterne am Himmel zu finden, können keine Vögel und keinen Baum benennen. Die Lehrerinnen der ersten Klassen, die ihren Kindern all dies und noch viel mehr vor dem eigentlichen Schulstoff beibringen müssen, könnten diese Liste einer existentiellen Verarmung mühelos verlängern.“

Als „Notschrei“ verstehen die Bürgerstiftung ihren Offenen Brief. Hoffnung, dass er etwas Konkretes bewirken wird, haben sie kaum.

Ein Notstandsgebiet: Darunter fallen gigantische Teile des Bildungssektors, angefangen vom eklatanten Praxismangel bei der Lehrerausbildung bis hin zur „Medienverwahrlosung“ in den Familien, wie Bussmann das Phänomen tauft. Angela Merkel, die unlängst wochenlang auf einer Krisentour durch die diversen Bildungseinrichtungen der Republik unterwegs war, will aus dem Land eine „Bildungsrepublik“ machen. Im Duktus erinnern ihre Entwürfe an Humboldts Visionen. Inhaltlich aber sind sie davon weit entfernt, das humanistische Ideal findet sich weitgehend auf ein technizistisch-pragmatisch orientiertes zusammengezurrt. Am Horizont aber erscheint nicht nur eine geschrumpfte Vision – jetzt, da die globale Finanzkrise Milliarden aus dem Staatsschatz aufsaugt, wirkt selbst die zaghafteste Bildungsoffensive unbezahlbar.

Bildungsministerin Annette Schavan verspricht unterdessen, die Bundesregierung werde „rund sechs Milliarden Euro zusätzlich in Bildungs- und Aufstiegschancen investieren“. Mehr Studienplätze, bessere Weiterbildungskonzepte, Förderung von Benachteiligten und Hochbegabten seien bedeutsamer denn je, sagte sie vor wenigen Tagen. Geradezu lächerlich nimmt sich diese Summe angesichts der Forderung aus, die McKinsey Mitte Oktober als Rettungspaket für die Bildung vorschlug: 500 Milliarden Euro würden gebraucht, sonst sei die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gefährdet. Kanzlerin und Finanzminister dürften sich angesichts dieser Zahl an den Kopf greifen. Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Geldnoten für bessere Schulnoten drucken?

Gebraucht wird so gut wie alles und zwar an allen Ecken und Enden des Systems: Exzellente pädagogische Arbeit mit den Allerkleinsten am besten schon vor der Schule und ganztags, geleistet von psychologisch geschulten Fachkräften, die unbedingt besser ausgebildet und besser bezahlt werden müssen als bisher. Ganztagsschulen mit Angeboten an den Nachmittagen: Förderunterricht, Hausaufgabenbetreuung, Sport, Chor, Orchester, Theater, Exkursionen, Therapien, Elternberatung, strukturierte Gruppenerlebnisse. „Viele Kinder, und zwar aus allen Schichten, sind emotional und sozial verarmt“, klagt eine 50-jährige Berliner Kinder- und Jugendtherapeutin. Am häufigsten seien narzisstische Störungen zu beobachten. Die Kinder beziehen sich nicht auf andere, entwickeln auch wenig Bezug zu ihren eigenen Bedürfnissen, vom Konsum abgesehen. Mit Frustration können sie schlecht umgehen, es fehlt ihnen fast jede Konzentrationsfähigkeit. Mit mehr Computern und technischem Lernen ist da wenig erreicht. Andererseits: Umsetzbare Ideen und enorm wirksame Projekte – wie das Märchentheater an der Grundschule – gibt es zuhauf. Nur fehlen den Schulen die Mittel.

Ein Fiasko werde der Bildungsgipfel sein, fürchtet der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann, falls die Bundesländern konkrete Zusagen zur Finanzierung verweigern. Im Vorbereitungspapier zum Gipfel haben die Länder nur gute Absichten erklärt, verpflichtet haben sie sich zu nichts. Trotz sinkender Schülerzahlen müssen die Schulen ihre Budgets stabil halten, um von der „demografischen Rendite“ zu profitieren – denn nur so wird die Ganztagsbetreuung flächendeckend finanzierbar.

Wer hätte zu Humboldts Zeiten gedacht, dass ein Desaster so luxuriös aussehen kann: Fast jede Familie besitzt Unterhaltungselektronik für Hunderte und Tausende von Euros, so gut wie jedes Kind hat einen eigenen Fernseher, fast jedes eine Playstation, ein Mobiltelefon – und mittendrin herrscht bittere Armut. Eine Armut, der allein das Bildungssystem begegnen kann. Darauf, dass bildungsferne und andere Eltern ihr Herz wecken, den Fernseher aus- und den Verstand einzuschalten, kann der Staat nicht warten. Eher müssten und müssen die Schulen und Kindertagesstätten umgebaut werden zu stolzen Palästen der Bildung. Denn was nutzt uns das Geld auf unseren Konten, wenn die Köpfe unserer Kinder leer bleiben?

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