zum Hauptinhalt

Olympiade: Vergessenes Gold

Nächste Woche sind wieder Olympische Spiele. 28 Disziplinen sind es, Sackhüpfen und Tauziehen fehlen. Eine Anthologie untergegangener Sportarten.

Vermutlich ist es dieser Tage in jedem Freibad dieser Republik zu beobachten. Junge, waghalsige Menschen stürzen sich kopfüber in das Schwimmbecken und gleiten solange unter Wasser, bis sie nicht mehr können. Wer am weitesten kommt, hat gewonnen: Die nächste Runde Fritten, ein paar Bier oder einfach nur die Ehre. Früher, genauer gesagt 1904 in St. Louis, gab es für den, der auf diese Weise am weitesten kam, noch Gold, olympisches Gold. W. E. Dickey aus den USA schaffte es nach seinem Kopfsprung, 19,05 Meter weit zu gleiten, so weit wie kein anderer. Arme und Beine durften dabei nicht bewegt werden. Kopfweitsprung nannte sich diese Disziplin, und sie ist eine von zahlreichen Wettkämpfen, die einmal olympisch waren und nun an den Rand des sportlichen Bewusstseins gerückt sind. „200-Meter-Streckentauchen“, das nur 1900 bei den Olympischen Spielen in Paris ausgetragen wurde, zählt ebenfalls dazu. Ausgewertet wurde nicht nur die absolvierte Distanz, sondern auch die benötigte Zeit. Jeder Meter brachte zwei Punkte und jede Sekunde einen Punkt. Der Lokalmatador Devendeville kam auf 60 Meter und brauchte für diese Strecke 1:08,4 Minuten, was ihm 188,4 Punkte einbrachte. Das reichte zum Olympiasieg. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Wettkämpfe in der Seine bei ordentlicher Strömung ausgetragen wurden und die Distanzen mit einem einfachen Zollstock gemessen wurden, was spätestens dann Probleme brachte, als einer der Athleten lange tauchte, jedoch im Halbkreis. So konnte nur die wirklich geradeaus getauchte Strecke gemessen werden, und so reichte es für den Schwimmer nur zu einem guten Mittelfeldplatz.

Offiziell werden 13 Sportarten beim Internationalen Olympischen Komitee geführt, die einmal olympisch waren. Sogar Sackhüpfen zählt dazu. Allerdings sind in dieser Zahl nicht alle Wettkämpfe enthalten, die in Disziplinen ausgetragen wurden, die es auch heute noch gibt. Kopfweitsprung und Streckentauchen wurden beispielsweise als Schwimmwettbewerbe veranstaltet. Und Schwimmen ist eine der Sportarten, die seit Beginn der Spiele der Neuzeit (1896) konstant dabei waren. Wie Fechten oder die Leichtathletik. Doch nicht alle Wettkämpfe, die innerhalb dieser Sportarten ausgeführt wurden, überlebten die olympische Entwicklung. Viele Disziplinen und Wettkämpfen konnten der rasanten Entwicklung der Olympischen Spiele zu einem Massen- und vor allem Medienereignis nicht standhalten. Sportarten, die fernsehtauglich, einfach zu verstehen und am besten mit Action versehen sind, haben es einfacher. „Die Anforderungen an die Moderne sind schon ausschlaggebend dafür, warum manche Disziplinen aufgenommen werden ins olympische Programm und andere nicht“, sagt Gudrun Doll-Tepper. Sie ist Professorin an der Freien Universität Berlin und Präsidentin des Weltrates der Sportwissenschaften. Biathlon und Curling seien zwei Beispiele dafür. „Früher war Biathlon wenig spannend, weil das Fernsehen nicht in der Lage war, alle Geschehnisse einzufangen, aber heute macht es die Technik möglich, bei jedem Schuss nah dabei zu sein, und das hat die Attraktivität und Verbreitung der Sportart erhöht“, sagt die Professorin. Auch Beachvolleyball sei ein Beispiel dafür. „Das ist eine telegene Sportart, weil sie Strand, Sonne und Meer vermittelt, das will man gerne sehen“, sagt Doll-Tepper.

Von Tauziehen lässt sich das nicht unbedingt sagen. Ein Klassiker eigentlich bei Olympischen Spielen. Und eine der ältesten Sportarten der Welt. Wandzeichnungen in Ägypten, die auf das Jahr 2500 v. Chr. datiert werden, zeigen Szenen, die an das heutige Tauziehen erinnern. Immerhin von 1900 bis 1924 war die Disziplin sechsmal bei Olympischen Spielen dabei. Umstrittener Höhepunkt der olympischen Karriere des Tauziehens waren die Spiele 1908 in London. Fünf Mannschaften mit 44 Athleten nahmen an den Wettkämpfen teil, darunter allein drei britische Polizeikorps. Im Viertelfinale maß das Team der Vereinigten Staaten seine Kräfte mit dem Liverpooler Polizeiteam. Die Engländer gewannen den ersten Durchgang ohne Probleme, was Proteste der Amerikaner hervorrief, weil die Polizisten Nägel an ihren Schuhen trugen. Und das, so ihre Argumentation, habe ihnen besseren Halt und somit einen irregulären Wettbewerbsvorteil verschafft.

Doch die nur mit Briten besetzte Jury lehnte den Protest mit der Begründung ab, dass es sich dabei um die normale Dienstbekleidung der Polizisten handele. Die Amerikaner brachen daraufhin den Wettkampf ab. Zum Sieg reichte es für die Liverpooler trotzdem nicht. Sie unterlagen im Finale den Kollegen der City of London Police. Heute noch ist Tauziehen in England eine populäre Volksbelustigung und auch ein Vereinssport. Genau wie in Deutschland. In der Kategorie Mittelgewicht, in der alle acht Athleten, die in einer Mannschaft an dem Seil ziehen, zusammen maximal 640 Kilogramm wiegen, wurde das deutsche Team 2006 sogar Weltmeister.

Mitunter spiegeln Änderungen im olympischen Programm den Zeitgeist wieder. So kam das Motorbootrennen 1908 zu den Spielen in London. Verbrennungsmotoren traten gerade ihren Siegeszug an, die Technikgläubigkeit fand darin ihren Niederschlag. Allerdings noch nicht die technischen Möglichkeiten. Die Vorführung geriet zum Flop. Für die drei Klassen gab es jeweils ein Rennen über rund 75 Kilometer. Bei starkem Regen, heftigem Wind und entsprechend hohem Wellengang kam bei den drei Rennen lediglich je ein Boot ins Ziel – zwei britische und ein französisches.

Eine andere Sportart war Jeu de Paume, das bei den Sommerspielen 1908 ausgetragen wurde. Es verschwand von der olympischen Agenda, weil es dem trendigeren Tennis zu ähnlich war. Jeu de Paume wurde ursprünglich mit der Handinnenfläche gespielt. Beim Olympia-Debüt 1908 kamen Schläger dazu. Erhalten geblieben ist lediglich die Zählweise. Der berühmteste Tennisklub der Welt ist der „All England Lawn Tennis and Croquet Club“ und in Wimbledon zu Hause. Croquet – auch eine Sportart, die einst, nämlich 1900, olympisch war. Drei unterschiedliche Croquet-Wettbewerbe gab es 1900 – in allen drei Kategorien belegten Franzosen die Medaillenplätze. Eine Schmach, denn das Spiel, bei dem die Spieler versuchen müssen, mit einem Holzschläger Kugeln durch einen u-förmigen Drahtbügel zu spielen, war und ist in England sehr populär und wird noch in Vereinen und bei Meisterschaften ausgetragen. Auch Lacrosse ist eine der Disziplinen, die völlig von der olympischen Agenda verschwunden sind. Ein Spiel, bei dem zwei Mannschaften à zehn Mann versuchen, einen Ball mit einem Holzschläger, an dem ein Netz befestigt ist, ins Tor zu schleudern. Zweimal war Lacrosse olympisch (1904 und 1908).

Lacrosse, Croquet oder auch Tauziehen existieren heute noch in organisierter Form. Andere Wettbewerbe sind weitgehend in Vergessenheit geraten. Zur Rettung haben sich in Deutschland ein paar Sportromantiker zusammengetan und erstmals 2003 die Retrolympics veranstaltet. Allerlei skurrilen Wettbewerben soll wieder Leben eingehaucht werden. „Wir wollen damit einige Sportarten wieder zurück ins Gedächtnis rufen und damit nicht nur die sportliche Entwicklung sowie das kulturelle Erbe fördern, sondern auch zum Sporttreiben anregen“, sagt Reinhard Gust, Olympia-Silbermedaillengewinner im Rudern und Vorsitzender des Fördervereins. Besonders beliebt sind die vergessenen Leichtathletik-Wettbewerbe. Standweit- und -hochsprung beispielsweise. Bei den Spielen 1900 und 1904 waren alle drei Sprungdisziplinen, also Hoch-, Weit- und Dreisprung ohne Anlauf im Programm. Ray C. Ewry war der überragende Mann in allen drei Sprungkategorien. Bemerkenswert sein über das Ende seines Sports 1938 hinausragender Weltrekord im Weitsprung aus dem Stand: 3,47 Meter. Im Standhochsprung reichten ihm 1,50 Meter zur Goldmedaille 1904 in St. Louis. Auch die Wurfdisziplinen unterschieden sich von den heutigen. So wurde von 1904 bis 1908 beidarmiges Stoßen und Werfen praktiziert. Das heißt, erst wurde der Speerwurf oder der Kugelstoß mit dem linken Arm, dann mit dem rechten Arm durchgeführt. Beides zusammen ergab die Wertung. Und einmal durften die Athleten auch Steine durch die Gegend werfen (1906). Steinstoßen ist übrigens eine der ältesten Sportarten der Menschheitsgeschichte, weil Steine als Waffe dienten, und um die Zielgenauigkeit und Weite zu trainieren, entwickelte sich ein spielerisches und sportliches Element daraus.

Die Leichtathletik ist aber nicht die einzige Disziplin, die in ihrer Geschichte einige olympische Wettkämpfe hervorgebracht hat, die mittlerweile längst verschwunden oder zu Liebhabersportarten geworden sind. Auch im Radsport gibt es zwei Disziplinen, die einst sehr beliebt waren, heute aber nicht mehr im olympischen Programm sind. Es handelt sich dabei um das kürzeste und das längste Radrennen der olympischen Geschichte. 1896 wurde der Sprint über 333 und ein Drittel Meter gestartet, der Franzose Paul Masson gewann in 24 Sekunden, ob gedopt oder nicht, ist nicht überliefert. Das Zwölf-Stunden-Rennen war dramatischer, vor allem für fünf Griechen. Die waren hoffnungsvoll gestartet, aber alle mussten sie vor Ablauf der Zeit aufgeben. Sieger wurde der Österreicher Adolf Schmal mit 314,997 km.

Auch beim Gewichtheben gab es noch andere Formate als heute. Genau genommen sogar deutlich weniger, denn es gab nur das zwei- und das einarmige Gewichtheben. Heute wird nur noch mit beiden Armen gehoben. Für den Briten Launceston Elliott entpuppte sich die Veranstaltung als Wechselbad der Gefühle. Das zweiarmige Gewichtheben verlor er noch gegen den Dänen Viggo Jensen, obwohl er dasselbe Gewicht hob. Doch die Kampfrichter entschieden, dass Jensen den besseren Stil gezeigt habe. Eine Regel, die Elliot gar nicht kannte. Beim einarmigen Wettbewerb besiegte er Jensen dann nicht nur, er beeindruckte auch das Publikum mit der Art und Weise so sehr, dass er sogar einen Heiratsantrag von einer „Dame in hoher Position“ erhielt.

Die vielleicht ungewöhnlichsten olympischen Disziplinen gab es zwischen 1912 und 1948. In dieser Zeit wurden Medaillen nicht nur für sportliche Höchstleistungen verliehen, sondern auch für künstlerische. In den olympischen Kunstwettbewerben wurden Medaillen für die Bereiche Baukunst, Literatur, Musik, Malerei sowie Bildhauerkunst verliehen. Die Werke mussten einen sportlichen Bezug haben. Sehr beliebt waren die Olympischen Spiele unter den Künstlern zunächst nicht. Zu den Spielen in Stockholm 1912 wurden nur 35 Arbeiten eingereicht. 1928 in Amsterdam waren es dann schon über 1000. 1912 sicherte sich ein Mann Gold in der Kategorie Literatur, der selbst für die Aufnahme der Kunstwettbewerbe in das olympische Programm verantwortlich war: Pierre de Coubertin, der Erfinder der Olympischen Spiele der Neuzeit. Er schrieb unter dem Pseudonym „Georges Hohrod und Martin Eschbach“ eine „Ode an den Sport“ und gewann. Ob die Juroren befangen waren? Man weiß es nicht, aber Olympia war nie eine Insel der Hochanständigkeit.

So schade es auch um die ein oder andere Disziplin sein mag, dass es viele heute nicht mehr gibt, liegt nicht nur an den veränderten Anforderungen, sondern auch daran, dass Olympia immer mehr gewachsen ist. „Es hat sich ein enormer Gigantismus entwickelt, und es gab einfach zu viele Disziplinen“, sagt Doll-Tepper. 1960 in Rom wurden 150 Wettbewerbe in 17 Disziplinen ausgetragen. 40 Jahre später bei den Spielen in Sydney waren es 300 Wettbewerbe in 28 Sportarten. Das Internationale Olympische Komitee beschloss dann 2002, die Anzahl der Disziplinen, Wettbewerbe und teilnehmenden Sportler auf ein Maximum zu begrenzen. Seither darf es höchstens 28 Disziplinen bei Sommerspielen geben. Nur 301 Wettbewerbe dürfen ausgetragen werden, und es können nicht mehr als 10500 Sportler an den Sommerspielen teilnehmen. Außerdem prüft eine Programmkommission nach Kriterien wie Universalität, Organisationsgrad und Geschichte, welche Sportarten aufgenommen werden und welche nicht.

Besonders bitter ist die Nichtberücksichtigung bei Olympischen Spielen für Sportarten, die auch heute noch mehr als eine Randnotiz sind: Rugby, Golf und Cricket. In den britischen Commonwealth- Staaten immer noch sehr beliebt, zählen sie Millionen von Anhängern. Trotzdem schafft es Cricket nur auf eine Olympia-Teilnahme: 1900. Offiziell gab es drei Spiele. Die belgische, niederländische und britische Mannschaft sollte jeweils gegen dieselbe französische Mannschaft antreten. Das Problem war nur, dass es das Team der Belgier und der Niederländer nur auf dem Papier gab. So wurde nur das Spiel Frankreich gegen Großbritannien ausgetragen, und das auch noch vor leeren Rängen. Großbritannien gewann und ist bis heute einziger Cricket-Olympiasieger. Golf war 1900 und 1904 olympisch, Rugby immerhin viermal, 1900, 1908, 1920 und 1924. Das erste olympische Golfturnier war auch deshalb besonders, weil es eine der wenigen Sportarten war, die einen reinen Frauenwettbewerb veranstalteten.

Golf und Rugby versuchen weiter, ihre olympische Tradition aufleben zu lassen. Meistens jedoch erfolglos. Der neueste Anlauf liegt nur ein paar Monate zurück. Zusammen mit Squash, Inline-Skating und Karate wollten Rugby und Golf ihr Comeback bei den Olympischen Spielen 2012 in London feiern. Doch das IOC wies die Wünsche zurück, obwohl mittlerweile weltweit mehr als 50 Millionen Menschen Golf spielen und das wirtschaftliche Potenzial entsprechend groß ist. Im Vermarktungswahn und Expansionsdrang des IOC eigentlich unschlagbare Argumente. Weswegen durchaus auch denkbar ist, dass die Formel 1, die jährlich Milliardenumsätze macht und im arabischen Raum immer beliebter wird, auch irgendwann ihr Olympia-Debüt geben wird.

Eine Disziplin indes wird nie wieder, nicht einmal bei den Retrolympics, auftauchen. 1900 wurde in Paris im Namen Olympias auf Tauben geschossen. Auf lebende. Ein Belgier gewann. 22 Tauben lagen auf seiner Strecke.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false