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Geschichte: Reife Prüfung

13 Schuljahre sind eine lange Zeit. Mitunter kommt noch etwas dazu. Und was bleibt von alldem? Fragen

Am Samstag, den 28. Mai 2008, stehen wir in der Aula meines Gymnasiums in Berlin. Einzeln werden meine Mitschüler aufgerufen. Jeder hat einen kleinen Ausschnitt aus einem Lied ausgewählt, der abgespielt wird, während man nach vorne läuft. Vom Alphabet her bin ich immer einer der Letzten, die aufgerufen werden. Ich schaue zu, wie meine Mitschüler nach und nach vortreten und ihr Abiturzeugnis in Empfang nehmen.

Was hier gerade passiert, ist noch nicht richtig bei mir angekommen. 14 Jahre Schule sind vorbei. Ich habe Abitur. Ich bekomme gleich mein Reifezeugnis. Das Reifezeugnis, dessen wir, wie die Lehrer uns immer wieder versicherten, unter keinen Umständen würdig seien. Sogar heute noch, vor der Zeugnisausgabe, wiederholt die Schulleiterin ihre Zweifel an unserer Reife. Nun, mein gesamter Jahrgang hat das Abitur dennoch bestanden.

Und wofür sind wir jetzt reif? Reif genug für erwachsene Gespräche? Unterhält man sich ab einem bestimmten Alter nur noch über die Probleme des Lebens? Lässt man mit Erlangen des Abiturs die Möglichkeit auf sinnlose oder alberne Konversation hinter sich? Statt reif wäre das doch wohl eher steif.

Reif genug, um Entscheidungen zu treffen? Das habe ich auch schon vorher getan. Mit 14 wollte ich das erste Mal ohne meine Eltern in den Urlaub. Also bin ich mit Freunden in die Dolomiten Ski fahren gegangen. Und später, aber noch vor dem Abitur, wollte ich nicht zur Bundeswehr, auch das war doch eine bewusste, ich meine reife, Entscheidung.

Reif genug, um Verantwortung zu übernehmen? Verantwortung? Am Abend vor dem Abistreich haben wir in der Schule übernachtet. Nach dem Genuss diverser berauschender Substanzen sind wir ins Lehrerzimmer eingebrochen und haben es, nun ja, sagen wir, umdekoriert. In dem Moment also, in dem man uns unsere Reife schriftlich bestätigt, fällt uns ein Scherz ein, der keinerlei Reife bedarf. Heißt das jetzt, dass wir unreif sind? Oder einfach, dass wir unseren Spaß hatten? Ein letztes Mal unter den Nasen der Lehrer so richtig Mist bauen, ist das unreif? Dann wäre ich in der ersten Klasse reifer gewesen. Ich hätte damals gewusst, dass so eine Aktion Ärger bringen kann, und deswegen aus Vernunft und Angst gar nicht erst mitgemacht. Und Ärger gab es ja auch wieder nach unserer innenarchitektonischen Arbeit. Wenn ich aber zu Beginn meiner gymnasialen Laufbahn von der Vernunft gesteuert war und am Ende von der unreifen Lust auf Unsinn, was hat die Schule dann aus mir gemacht?

Und in diesem Zustand soll ich jetzt meine Zukunft planen, den Ernst des Lebens. Bis jetzt war ja angeblich alles Spaß, und jedermann behauptet, dass man der Schulzeit noch nachtrauern werde. Den Lehrern, dem Lernen und dem frühen Aufstehen. Der Zeit, die man in meinem Alter verflucht und die trotzdem von allen Eltern als die schönste Zeit des Lebens betitelt wird. In der „Feuerzangenbowle“ lebt Heinz Rühmann einen ganzen Film lang diese wehmütige Erinnerung durch. Also, ich hatte schon auch meinen Spaß in der Schule, viel Spaß, aber zur Verklärung wie bei Pfeiffer mit drei f und seinen Filmkameraden reicht es bei mir noch nicht.

Jetzt stellt sich erst einmal die Frage, wie es weitergeht. Sie stellt sich erstmals ernsthaft, nicht spielerisch, wie in vielen Jahren zuvor. „Was willst du später mal machen?“, das war immer mal wieder eine Frage der Kindheit, und die hatte keine Verbindlichkeit.

Was mich angeht, ich wollte Fußballstar werden. Da, wo ich bei meiner Einschulung wohnte, stand ich mit diesem fernen Ziel ziemlich alleine. Das war, als Matthäus, Klinsmann, Köpke und Sammer kickten und auch noch, als sie mit Berti Vogts die Europameisterschaft in England gewannen. Wir waren vor meiner Einschulung von München nach Hamburg umgezogen, und in meiner dortigen Grundschule war Fußball verpönt als Proletensport. Tennis oder, noch stärker, Hockey waren die sportlichen Vorgaben der meisten Eltern für ihre Kinder in unserem Viertel. Mit den Bückeballern, also den Hockeyspielern, bin ich besonders häufig in Streit geraten um die bessere Sportart. Also, ich meine, es gab schon noch ein paar andere Kinder, Gleichgesinnte sozusagen, und die wurden dann meine Freunde. Viele Jahre später, da waren meine Eltern und ich schon weitergezogen nach Berlin, habe ich die Kumpels von einst wiedergetroffen. Sie gingen damals auch aufs Gymnasium, sie haben, das weiß ich durchs Internetportal StudiVZ, jetzt auch ihr Abitur, aber als ich sie damals wieder traf, da rannten sie in Picaldi-Klamotten rum mit Hosenbeinen in den Socken und solchen Sachen, sie hörten Musik, vor der ich davonlief, sie sprachen im Ghetto-Slang, kurz: Ich konnte nichts mehr mit ihnen anfangen. Den ein oder anderen Tennis- und Hockey-Snob habe ich auch wiedergefunden, und der ein oder die andere haben gehalten, was ihre Eltern ihnen vorgegeben hatten. Was ich sagen will: Wir gingen alle auf die gleiche Grundschule, wir wurden alle von der herzlichen Frau Jessen unterrichtet, spielerisch angeleitet, und wo waren die Weichen, an denen sich unsere Wege trennten? Prägt Schule? Oder was prägt?

Was übrigens meine Karriere als Fußballstar angeht: Später in Berlin wuchs der Anteil an angehenden Profifußballern auf 90 % aller Jungs in meinem Umfeld. Ein wenig später holte mich die Erkenntnis ein, dass wohl doch viele besser geeignet dafür waren und meine Zukunft nicht im Profifußballgeschäft lag. Und das war auf jeden Fall eine sehr reife Entscheidung.

Stattdessen ging ich ins Gymnasium. Jeden Tag. Und pünktlich. Mit Freuden? Ich weiß das nicht, ich bin, so erscheint es mir heute, einfach hingegangen, auf jeden Fall brav, denn geschwänzte Stunden gab es bis auf das vorletzte Jahr keine. Mit Fleiß? Ich erinnere mich an meine Grundschulzeit, als ich unbedingt lesen, rechnen und schreiben lernen wollte. In einer meiner Bewertungen stand, dass ich zu viele Arbeitszettel verbrauche, weil ich zu schnell arbeiten würde. Den Vorwurf hat mir später niemand mehr gemacht. Aber es ging auch ohne Fleiß, mit einem Minimum an Aufwand bin ich gut durchgekommen. Lavieren nennt man das wohl. Und das Ergebnis: Ich musste die ersten Zeilen Cäsar und Homer auswendig lernen. Fürs Leben war das, aber schon jetzt kann ich mich nicht mal an die ersten Worte erinnern. Ich sollte Quadratwurzeln und Höhepunkte von Kurven errechnen. Kurzfristig konnte ich das, aber immerhin kenne ich heute noch die binomischen Formeln. Ich bin nun bewandert in der klassischen deutschen Literatur, na ja, bewandert. Ich kenne Büchner und Hebbel. Ich war in Weimar im Goethehaus. Ich hab die Akropolis gesehen und weiß über Homer und Platon Bescheid. Und was bleibt? Das im Unterricht erlernte Wissen oder doch die Erinnerungen an schöne Tage? Zum Beispiel an die Klassenfahrt nach Sylt, als die Jungs den Mädchen, als Rache für zugenähte Schlafanzüge und Unterhosen, die Unterwäsche im Speisesaal an einer Wäscheleine aufgehängt haben? Also doch Pfeiffer mit drei f.

Verändert man sich also, weil man zur Schule geht? Oder verändern einen die Leute, mit denen man hingeht? Ich glaube, dass mich meine Mitschüler wesentlich stärker geprägt haben als alle meine Lehrer zusammen. Meine ersten Freunde auf dem Gymnasium waren sehr an Computerspielen interessiert. Also spielte ich Computer. Eigentlich spielte die ganze Klasse Computer. Und die Schule spielte mit. An zwei Wandertagen wählte unser Lateinlehrer Lan-Partys im Klassenzimmer als Ziel. Das war pädagogisch wertvoll, denn es waren die Zeiten der aggressiven Ballerspiele, wir erschossen Computergegner, anstatt das Pergamonmuseum zu besuchen. Wir setzten uns auch mit dem Erfurter Fall auseinander. In Erfurt war 2002 ein Schüler Amok gelaufen und hatte 16 Menschen getötet. Dass er exzessiver Counter-Strike-Spieler war, wurde als eine der Ursachen für die Tat diskutiert. Wir konnten und wollten keine Verbindung sehen. Und keiner von uns driftete in die virtuelle Welt ab. Ob unser Lateinlehrer uns davor bewahrt hat?

Die Freunde wechselten, und ich spielte nicht mehr so viel Computer. Ich wurde lässig. So lässig, dass ich meine Augen nur noch halb aufmachen konnte. Unter dem ins Gesicht gezogenen Schirm meiner Cap konnte man mein Gesicht eh nicht erkennen. In meine Hose passten plötzlich drei lässige Leute und fünf in meine Pullover. Hip-Hop war angesagt. Dann kam die erste Freundin. Schule wurde zur Nebensächlichkeit. Irgendwann war die Beziehung zu Ende, und ich merkte, dass ich Hip-Hop eigentlich abscheulich fand und dass mir Reggae viel mehr gefällt. Und dass es sowieso viel cooler ist, zu machen, was man selber will, abhängen nämlich, chillen. Eine wahrlich reife Erkenntnis. Nur dass diese neue, sehr schulfremde Einstellung mit Dreadlocks und dem Konsum bestimmter aromatischer Kräuter einherging. Man findet heute sehr schnell sehr viele, die sich ebenfalls ein eigenes Urteil über die berauschende Wirkung halluzinogener Drogen bilden wollen. Also urteilten wir. Und wie wir urteilten. Ich für meinen Teil urteilte so lange, bis ich es verpasst hatte, darüber nachzudenken, wie ich denn meine Reife nachweisen könnte. Das Urteil über meinen ersten Abiturversuch war dann dementsprechend mangelhaft. Aber gelernt habe ich natürlich auch, nämlich, dass Cannabis faul macht, lethargisch, gleichgültig. Aber hat mich das die Schule gelehrt?

Frechheit, würden meine Lehrer jetzt sicher sagen. Einen besseren Menschen haben wir aus dir gemacht. Einen angehenden Akademiker mit Latinum und Graecum. Schon gut, ich bin mir sicher, dass mir die Schule einiges an Nützlichem mitgegeben hat. Ich kann logisch schlussfolgern, und ich kann räumlich denken. Ich weiß jetzt, dass ich Deutsch lieber mag als Mathe und Kunst lieber als Physik. Ich weiß, dass man besser Englisch lernt, wenn man Filme auf Englisch schaut, als wenn man an meinem Gymnasium an dem sporadischen Unterricht teilnimmt. Und ich habe gelernt, dass es Lehrer gibt, die keinen Hehl daraus machen, noch weniger Lust auf Schule zu haben als wir. Und zur Freude meines Lieblingslehrers, meines langjährigen Kunstlehrers, haben wir befolgt, was er uns seit der sechsten Klasse predigte: „Seid clever, Leute, und bescheißt, wo ihr nur könnt.“ Wie bekommt man seinen Hefter mit den kompletten Informationen des Semesters unbemerkt mit in die Klausur? Welche Körperteile eignen sich besonders, um beschriftet zu werden? Wie kommt man im Voraus an die Ergebnisse der Vergleichsarbeit? Also, auch in diesem Punkt waren wir in der Grundschule reifer. Da hat man noch sein Federmäppchen zwischen sich und seinen Nachbarn gestellt und gesagt, dass man nichts lernt, wenn man abschreibt. Fürs Leben haben wir gelernt, und nicht für die Schule? Soll ich wirklich für alle Zeiten verinnerlichen, dass man mit kleinen Schummeleien durchkommt?

14 Jahre. Vor allen anderen Dingen fällt mir „nix“ ein, wenn ich versuche, mir einen roten Faden dieser 14 Jahre vorzustellen. „Nix“, oder „Nö, nix“, das war die Antwort, die ich gab, wenn meine Eltern fragten, ob es etwas in der Schule gegeben habe. Ich bilde mir ein, dass das so schon nach dem ersten Tag war, an dem dieser kleine, mittelblonde Junge mit seinem grünen Scout-Rucksack und Dinosauriern drauf und der passenden Schultüte eingeschult wurde. „Nö, nix!“

Aber das ist ja wohl schlecht möglich. Es gab ja was, es gab gleich zu Beginn des Gymnasiums diesen Tadel, den ich bekam, weil ich mit einem Schneeball geworfen hatte. Der Tadel wurde mir von meinem späteren Chemielehrer erteilt, und wie unglücklich er darüber war, dass er ihn nach Intervention meines Vaters wieder zurücknehmen musste, ließ er mich Jahre später in seinem Unterricht spüren. Ich mochte ihn nicht, er mochte mich nicht. Aber er ließ Widerspruch zu, und mit dem durfte ich meine teilweise miserablen Chemieleistungen ausgleichen. Wenn Zweifel und Skepsis auch Lernziele waren, ja, vielleicht werde ich diesem Chemielehrer dann mal dankbar sein.

Andererseits erinnere ich mich auch an die Gegensätze. An den Lehrer der Politikwissenschaften, der mich persönlich eindeutig nicht mochte, der mit mir herrlich diskutierte und stritt und mir am Ende des Jahres eine Zwei aufs Zeugnis schrieb. Im Jahr darauf bekam ich in diesem Fach einen neuen Lehrer. Auch wir wurden keine Freunde, aber ich war fachlich eindeutig besser als im Vorjahr. Vielleicht hatte mich die Zwei motiviert, ich war auf jeden Fall interessiert, ich arbeitete mit, ich schrieb gute Arbeiten. Und am Ende wurde ich mit einer Vier benotet. Warum? Keine Ahnung.

Auch andere Rätsel bleiben ungelöst. Ist es nötig, für eine gute Note den Büchergeschmack eines Deutschlehrers zu verherrlichen? Muss man sich eine Bücherliste zusammenstellen lassen, auch wenn einem diese Bücher nicht gefallen oder man sie nur zur Hälfte versteht, nur weil der Lehrer sagt: „Die muss man gelesen haben“? Anscheinend ja. Wir haben es so erlebt. Anscheinend kann es von Nutzen sein, die Bücher zu lesen und gut zu finden, die der Lehrer bevorzugt. Scheinbar kann die Entwicklung eines eigenen Geschmacks eher nebensächlich sein.

Aber damit ist ja nun Schluss. Ich kann mir jetzt selber aussuchen, was ich lesen mag, was mich interessieren darf, was mir vielleicht hilft. Und ich kann einfach sagen: „Das muss mich nicht mehr interessieren.“ Schön ist das. Vielleicht war das ja auch das geheime Ziel meiner Schule, dass ich am Ende dieser 14 Jahre sagen kann, was ich will. Oder dass ich weiß, was ich will. Aber das weiß ich noch nicht so genau. Im letzten Jahr wurden die Lehrer, die uns immer der Faulheit bezichtigt hatten, plötzlich ganz stolz. Plötzlich hatten sie Visionen von unseren Karrieremöglichkeiten. Da saßen wir im Management irgendwelcher Konzerne, waren Visionäre der Wissenschaften, Superingenieure oder Kulturgenies. Warum dieser Wandel? Auch das weiß ich nicht, wahrscheinlich bekomme ich irgendwann mal den Chemie-Nobelpreis, noch wahrscheinlicher ist allerdings, dass ich ihn nicht bekomme.

Ich stehe in der Aula meines Gymnasiums. Ich werde aufgerufen. Ich gehe zwischen Lehrern und Eltern hindurch nach vorne. Während Campino aus den Boxen „Iiich hab Abituuur“ grölt, nehme ich mein Zeugnis entgegen. Ich bin jetzt reif. Das habe ich schriftlich.

Julius Wolf

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