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Sagas: Wikinger, Vulkane und der Mann im Mond

Isländer rühmen sich des ältesten Parlaments. Sie erzählen sich Geschichten von Kindern, die anderen mit der Axt den Schädel spalten. Und beim Kabeljau kennen sie kein Pardon. Sechs Sagas aus 1000 Jahren.

Von Andreas Austilat

DIE GRÜNDUNG

Flóki Vilgerdarson hatte ernste Absichten. Mit seinem Hausrat, seinem Vieh und seinem Gefolge wagte er in den 60er Jahren des neunten Jahrhunderts die Überfahrt von Norwegen aus zu dieser neu entdeckten Insel im Nordmeer. An Bord bis zu 100 Menschen, die sich von Stockfisch und sauer eingelegtem Fleisch ernährten.

Der Winter im neuen Land war furchtbar. Und als die letzte Kuh verhungert, das letzte Schaf geschlachtet war, hatte Flóki genug. Bevor er Segel setzte, gab er der Insel noch einen garstigen Namen: Eisland. So steht es im altisländischen Buch der Landnahme. Leider, denn es ist kein wirklich guter Name, wie viele Isländer glauben. Richtig kalt sei es eigentlich selten, vielleicht hatte Flóki nur Pech.

Ingólfur Arnarson kam ein paar Jahre nach Flóki, aber er blieb. Weil er 874 eingetroffen sein soll, kennt Island sein Gründungsdatum ganz genau. Ingólfur nahm sich reichlich Land, 1000 Jahre später fanden auf seinem Grund 420 Höfe Platz. Die folgenden Familien taten es ihm gleich, und nach 60 Jahren war alles verteilt.

Bevor nun der Streit losging, wurde 930 der Althing einberufen, der heute als ältestes aktives Parlament gilt. 36 sogenannte Goden trafen sich auf einem schroffen Felsplateau, berieten über die Gesetze, die man sich geben wollte, ein gewählter Sprecher verkündete sie dem Volk, das sich in der Ebene niedergelassen hatte. Der alljährliche Thing war für die Bewohner abgelegener Höfe eine gute Gelegenheit, mal was anderes zu sehen als ihr Vieh, man darf sich das Parlament also als ziemlich gesellige Veranstaltung vorstellen. Thingvellir blieb über Jahrhunderte beliebteste Partylocation der Insel. Heute ist das Tal Nationalpark und immer noch Ausflugsziel Nummer eins.

Damals staunte die mittelalterliche Welt. „Sie haben keinen König, sie haben ein Gesetz“, schrieb der Kirchenchronist Adam von Bremen. Aber dieses Gesetz hatte einen Haken: Wer recht bekam, musste es notfalls selbst durchsetzen. Was nicht leicht gewesen sein dürfte, wie ein Blick in die Egils-Saga belegt, eine der großen Sagas des alten Island. Der kleine Egil, noch keine sieben, gerät darin beim Ballspielen in Streit mit dem zehnjährigen Grim. Egil greift zur Axt und spaltet Grim den Schädel. Zu Hause findet die Mutter rasch tröstende Worte: „Egil, aus dir wird ein guter Wikinger.“ Tatsächlich wurde Egil einer der ersten Dichter des Landes. Vor allem aber lehrt die Saga eines: Wikinger konnten sehr grob werden.

Die Isländer verstrickten sich in hässliche Fehden. Bis im 13. Jahrhundert die entnervten Clans für die nächsten 800 Jahre ihre Unabhängigkeit aufgaben und sich dem Gericht des norwegischen, später des dänischen Königs unterstellten.

DIE ENTDECKER

Wahrscheinlich im Frühsommer 1477 ging im englischen Bristol ein 26-jähriger Seemann italienischer Herkunft an Bord eines Schiffes mit Kurs Nord. Rund 14 Tage später betrat Christoph Kolumbus isländischen Boden. So etwa schreibt jedenfalls Fernando, Sohn des Entdeckers. Aber was wollte Kolumbus dort? Vielleicht Genaueres erfahren über das Land im Westen, das heute als Amerika bekannt ist und auf dessen Entdeckung die Isländer sehr stolz sind.

Ein Isländer, Bjarni Herjólfsson, war es nämlich, der 500 Jahre vor Kolumbus aufbrach, um seine Eltern in Grönland zu besuchen. Doch Bjarni verpasste die Südspitze Grönlands und landete an einer fremden Küste, die er aber nicht betrat. Endlich auf Grönland, fand Bjarnis Geschichte einen interessierten Zuhörer: Leifur Eiríksson kaufte Bjarnis Schiff und fuhr die Route noch einmal ab. Etwa um das Jahr 1000 erreichte er so den amerikanischen Kontinent und errichtete wahrscheinlich auf Neufundland sein Winterquartier.

Nur ein paar Jahre später versuchte der Isländer Thorfinn Karlsefni sein Glück in dieser neuen Welt. Mit 160 Gefolgsleuten ließ er sich dort nieder, sein Sohn Snorri wurde hier geboren. Aber anders als Island war diese Welt nicht leer, schon bald lag die Gruppe im Streit mit den Ureinwohnern. Zwar konnten die Wikinger mit ihren Äxten und Schwertern die Einheimischen einige Zeit auf Distanz halten, doch nach drei Jahren wurde die Kolonie aufgegeben. Snorri übersiedelte später nach Island und war dort der erste in Amerika geborene Europäer. All das ist festgehalten in den Sagas der Isländer. Lange hielt man das für eine Art Seemannsgarn – bis 1960 die Reste einer Wikingersiedlung auf Neufundland entdeckt wurden.

Immer noch umstritten ist die Frage, ob Kolumbus die alten Sagas gelesen hat.

DIE KATASTROPHE

Am 8. Juni 1783, einem klaren, sonnigen Morgen, stieg unter Donnergrollen eine dunkle Wolke in den Himmel über der Lakispalte, einem 25 Kilometer langen Graben in Südisland. Bald erreichte die Wolke bewohntes Gebiet und schwarze Asche bedeckte den Boden. Bauern zählten von einem Hügel aus 22 Feuer, die aus der Erdspalte loderten.

Zwei Tage später wälzte sich ein breiter Lavastrom über das Land. Schwerer, übelriechender Regen fiel, und viele klagten über Atemnot. Das Gras verfärbte sich gelb, Vögel fielen tot vom Himmel, die Menschen flohen, aber wo sie sich auch hinwendeten, andere Flüchtlinge kamen ihnen entgegen, heißt es in einem isländischen Kirchenbuch.

Erst im Februar des folgenden Jahres erloschen die Feuer. Es war die größte Lavaflut, die je irgendwo auf der Welt an die Erdoberfläche trat. Sie bedeckte eine Fläche von fast 600 Quadratkilometern, doppelt so groß wie München. Erdbeben folgten, Gas und Asche vermengten sich zu einer giftigen Wolke, die den Himmel verdunkelte. Das Wetter in Europa verschlechterte sich, es kam überall zu Ernteausfällen. Manche glauben sogar, dass die darauffolgende Not in Frankreich zur Revolution von 1789 beitrug. Und im fernen Alaska fielen die Jahresringe der Bäume kleiner aus als sonst. Auf Island hielt sich das Packeis bis in den Juni.

Die Isländer verloren die Hälfte ihrer Rinder, 75 Prozent der Pferde und 79 Prozent der Schafe. Der Hunger war so groß, dass manche das Oberleder der Schuhe gegessen haben sollen. Die Bevölkerungszahl ging von über 48 000 auf 38 363 Einwohner zurück.

Die dänische Kolonialmacht erwog, Island zu evakuieren, ein Vorschlag, der aber als undurchführbar verworfen wurde. Stattdessen rangen sich die Dänen zu einer anderen Hilfsmaßnahme für die darbende Insel durch: Das Handelsmonopol, das nur Untertanen der dänischen Krone den Handel mit Island erlaubte, wurde aufgehoben. Reykjavík wurde per königlichem Dekret am 18. August 1786 zur Stadt und zum Freihandelshafen erhoben. Der Aufschwung brauchte allerdings noch ein bisschen. 15 Jahre später hatte die Stadt Reykjavík gerade 307 Einwohner.

DIE AMERIKANER

Odin, Thor, Freyr, die nordische Götterwelt ist auf isländischen T-Shirts heute noch präsent. Aber mit den Nazis, die sich auch gern mit Runen umgaben, hatten sie auf der Insel nie viel gemein. Gerade 2,8 Prozent erreichten Islands Rechtsextremisten bei Wahlen 1934 in Reykjavík. So war man wohl erleichtert, dass es die Briten waren und nicht die Deutschen, die die Insel 1940 besetzten.

Nur ein Jahr später übernahmen die Amerikaner die Basis und katapultierten Island in die Moderne. Zwei Flughäfen, Coca-Cola, ein Wirtschaftswachstum von 11,6 Prozent im Jahr, die Unabhängigkeit, gegen deren Erklärung das von den Deutschen besetzte Mutterland Dänemark nicht viel einwenden konnte, und eine Hauptstadt, deren Bevölkerung sich von 20 000 im Jahr 1925 auf 46 500 bis 1945 mehr als verdoppelte, das alles machte die Habenseite nach Ende des Krieges aus. Demgegenüber standen 60 000 Soldaten im heiratsfähigen Alter bei gerade mal 130 000 Isländern. Die sorgten sich um ihre Sprache (sjoppur, was so viel wie shop bedeutete, war neu, ebenso okei von okay) und – jedenfalls die Männer – um den Verbleib ihrer Frauen. Immerhin 500 heirateten ausländische Soldaten und verließen die Insel.

Zwar räumten die Amerikaner 1946 die Insel, aber wenig später waren sie wieder da, nicht mehr so viele, aber doch immerhin bis zu 5000, die sich für den Kalten Krieg dauerhaft einrichteten. Island, obwohl ohne eigene Armee, wurde Nato-Gründungsmitglied.

Die Stationierung blieb auf Island umstritten. Weshalb die Amerikaner bereit waren, Beschränkungen hinzunehmen, die sie anderswo nie akzeptiert hätten. Bis 1967 durften Soldaten die Basis in Keflavík zwischen 22 Uhr und 6 Uhr nicht verlassen, schreibt der Historiker Valur Ingimundarson – außer mittwochs, das war der Tag, an dem in Reykjavík kein Alkohol verkauft wurde. Vor allem aber sollten auf isländischen Wunsch keine schwarzen Soldaten auf der Insel stationiert werden. Begründet wurde das Begehren damit, dass man keine Rassenprobleme importieren wolle. Erst auf den massiven Protest amerikanischer Bürgerrechtler wurde in den 60er Jahren eine kleine Schar möglichst verheirateter schwarzer Soldaten eingesetzt.

Fast ebenso groß war die Sorge, kulturell fremdbestimmt zu werden. Der amerikanische Fernsehsender in Keflavík nahm 1960 den Sendebetrieb auf, sein Programm konnte mehr als die Hälfte der Isländer empfangen. Und sie taten es auch, denn Island hatte kein eigenes Fernsehen. Anschaulich zeigt das der isländische Film „Devil’s Island“ von 1996 nach einem Roman von Einar Karasón, der ,angesiedelt in den späten 50ern und frühen 60ern, den Sittenverfall unter isländischen Jugendlichen unter dem verderblichen amerikanischen Einfluss auf komisch-melancholische Weise vorführt. „Devil’s Island“ hatte auf Island 70 000 Zuschauer, ein Viertel der Bevölkerung.

Islands TV wurde zum nationalen Anliegen, 1966 begann die Ausstrahlung, dreimal die Woche und im Sommer war Pause. Der amerikanische Sender wurde bald nur noch über Kabel in der Militärbasis verbreitet. Seit 2006 herrscht endgültig Funkstille, die Amerikaner sind weg.

DER MANN IM MOND

„Wunderschöne Vulkanformationen praktisch ohne jede Vegetation“, heißt es in einem Expertenmemorandum der US-Raumfahrtbehörde Nasa über Island, „wahrscheinlich handelt es sich um das mondähnlichste Areal unter allen Versuchsgeländen“. Genau das, was die Nasa in den frühen 60er Jahren suchte, seit Präsident John F. Kennedy verkündet hatte, Amerikaner würden binnen zehn Jahren den Mond betreten.

Zwei Astronautengruppen bereisten die Insel. Ein zehnköpfiges Team kam im Juli 1965 für fünf Tage. Alle zehn waren Mitglieder des Apollo-Programms. Einer, Roger Chaffee, verbrannte mit Apollo 1, zwei weitere kamen bei Testflügen ums Leben, aber drei sollten tatsächlich Jahre später den Mond erreichen.

Die Gruppe absolvierte in der Gegend um den Askja-See in Zentralisland ein geologisches Training, denn Steine sammeln und bestimmen sollte ja auf dem Mond eine ihrer wichtigsten Aufgaben werden. Die Gegend um den See ist von einem Vulkanausbruch 1961 gezeichnet. Der Leitende Offizier der Gruppe war begeistert. „Es gibt dort keine Motels“, sagte er der „New York Times“, die Einöde entsprach genau den Erwartungen. Die Astronauten mussten sich mit Zelt und Schlafsack begnügen, zu essen gab es Konserven aus dem Marschgepäck.

Zwei Jahre später, vom 2. bis zum 8. Juli 1967, kam eine zweite Astronautengruppe in die Region um den Askja-See, unter ihnen diesmal Neil Armstrong, der zwei Jahre später als erster Mensch den Mond betrat. Wieder stellten die Besucher fest, dass dort nichts wächst. „Ein bisschen Moos allenfalls, und danach muss man schon suchen“, diktierte einer dem „Houston Chronicle“.

Die Astronauten machten es sich dann aber doch noch ein bisschen nett. Gudmundur Sigvaldson, ein isländischer Geologe, der die Gruppe begleitete, sagte jedenfalls später in einem Radiointerview, dass für die Amerikaner extra ein Koch engagiert und eine lange Tafel unter freiem Himmel aufgebaut wurde, an der man gemeinsam gegessen habe. Dann gingen sie fischen und abends hätten sie ein original isländisches Fest besucht. Island ist eben nicht der Mond. Armstrong soll übrigens später noch mal wiedergekommen sein, zum Angeln.

DER FISCH

Ohne Fisch, genauer ohne Kabeljau, wäre in Island nie irgendwas gegangen. Kabeljau ist Grundrecht, angeblich kriegte jedes Schulkind 400 Jahre lang täglich einen halben Fisch. Fisch ist Exportartikel Nummer eins, für Fisch lohnt es sich zu streiten. Zum Beispiel mit den Briten. Im 15. Jahrhundert drangen immer häufiger britische Fischerboote in isländische Gewässer vor, der Kabeljaukrieg brach aus. 1432 wurde er beigelegt und niemand ahnte, dass noch neun weitere folgen würden.

500 Jahre später, 1958, entbrannte der inzwischen achte Kabeljaukrieg, wieder mit den Briten. Island beanspruchte eine Zwölfmeilenzone rund um die Insel. Großbritannien boykottierte daraufhin isländischen Fisch, die Sowjetunion bot sich als Kunde an, und die USA waren besorgt. Man einigte sich schließlich, vergaß sogar die ersten sieben und nannte diesen nun den ersten Kabeljaukrieg.

1972 dehnte Island seine Gewässer auf 50 Seemeilen aus, es folgte der nun zweite Kabeljaukrieg der Neuzeit, Isländer nennen ihn den neunten. Die britische Marine lief aus, die isländische Küstenwache ebenfalls. Man einigte sich.

1975 beanspruchte Island 200 Seemeilen. Großbritannien schickte sechs Fregatten, Island seine Küstenwachboote, die die Netze ausländischer Trawler kappten. Die isländische „Thor“ schoss scharf. „Aegir“ und „Odin“ stellten sich den Fregatten „Andromeda“ und „Naiad“ entgegen, und Europa fürchtete schon, im Nordatlantik könnte es eine Seeschlacht geben. Auf Island wurde der Ankauf einer sowjetischen Fregatte diskutiert.

Schließlich stellten die Isländer sogar den amerikanischen Stützpunkt infrage. Das und die Tatsache, dass Europa mittlerweile ebenfalls 200 Seemeilen Fischereigewässer rund um seine Küsten beanspruchte, führte dazu, dass auch dieser dritte – oder war es der zehnte – Kabeljaukrieg beigelegt wurde

Der nächste steht allerdings schon bevor. Und er gilt dem Wal. Island, das es bisher verstanden hat, seine Gewässer durch strenge Quotierung vor Überfischung zu bewahren, fürchtet den Meeressäuger als Futterkonkurrenten für den begehrten Kabeljau.

„Was ist das für ein Gott. Der all das hier lenkt?“, heißt es in einem Roman von Islands größtem Dichter Halldor Laxness. Die Antwort lautet: „Wohl kein anderer Gott als der Fisch.“

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