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Widerstand gegen Hitler: Die Briten und das Moltke-Dossier

Der deutsche Wiederstand gegen Hitler fand wenig Unterstützung. Nun belegen lange geheim gehaltene Dokumente: Die Briten waren gut informiert über Helmuth Graf von Moltke und seine Aktivitäten.

So viel Publizität hatte der deutsche Widerstand, hatten die Ereignisse des 20. Juli 1944 in der englischsprachigen Welt noch nie. Vermutlich ist der Name Stauffenberg vielen dort sogar erst ein Begriff, seit Tom Cruise für den Film "Operation Walküre" in die Rolle des Hitler-Attentäters geschlüpft ist. Aber können Briten und Amerikaner das Dilemma des Attentäters verstehen, der – mitten im Krieg – die Erhebung wagte, weil es ihm um die Wiederherstellung von Recht und Ehre ging, selbst um den Preis, dass dies die Kapitulation Deutschlands gebracht hätte?

Immerhin, die Voraussetzungen für ein tieferes Verständnis des deutschen Widerstands waren zumindest in Großbritannien so schlecht nicht. Verbreitet werden konnte diese Kenntnis allerdings zunächst nur schwer. Viele Unterlagen waren als geheim gesperrt – zum Teil sind sie es noch immer. In dem Maße, in dem Stauffenbergs Biographie ins grelle Scheinwerferlicht getaucht wird, rücken auch die Lebenswege seiner Weggefährten und Mitstreiter mehr ins öffentliche Bewusstsein. Und es tauchen weitere Fragen auf. Mit der nach dem Warum des Scheiterns von Staatsstreich und Attentat ist eine zweite verbunden: Wäre der Zweite Weltkrieg früher zu Ende gewesen, wenn Großbritannien und Amerika anders mit dem deutschen Widerstand gegen Hitler umgegangen wären?

Briten hielten offizielle Dokumente lange zurück

"Der unnötige Krieg" von Patrica Meehan und "Die verlassenen Verschwörer" von Klemens von Klemperer – so lauten zwei der bekanntesten Bücher, die bereits in den 1990er Jahren im angelsächsischen Ausland zu diesem Thema erschienen sind und die viel mit später Einsicht und Reue zu tun haben. Winston Churchill selbst hatte Anfang der 50er Jahre eingeräumt, dass die britische Leugnung der Existenz eines deutschen Widerstands gegen Hitler im Zweiten Weltkrieg ein Fehler gewesen sei. Seinerzeit hatten die offiziellen Briten den Deutschen, die nach Kriegsausbruch beim Gegner sondierten, um das geplante Attentat außenpolitisch abzusichern, die kalte Schulter gezeigt. Seit Herbst 1941 hatte Churchill "absolutes Schweigen" als Parole für eine Antwort auf mögliche Sondierungen ausgegeben. Dies erfolgte nicht zuletzt aus Sorge um Stalin, der nie aufhörte, seinen Koalitionspartnern Roosevelt und Churchill zu misstrauen.

Offizielle Dokumente über die Einschätzung des anderen Deutschlands durch die britische Regierung wurden lange zurückgehalten, einige davon sind im britischen Nationalarchiv sogar bis heute unter Verschluss. Die Gründe für diese Zurückhaltung erschließen sich aus dem Moltke-Dossier, das erst 2007 entsperrt worden ist.

Moltke und der "Kreisauer Kreis"

Helmuth James von Moltke, 1907 auf Gut Kreisau in Schlesien geboren, war einer der besten Köpfe des Widerstands gegen Hitler. Immer mehr war er in den Kriegsjahren, zusammen mit jenen Freunden, die nach ihren Treffen 1942/43 auf Moltkes schlesischem Gut als "Kreisauer Kreis" in die Geschichte eingegangen sind, zum geistigen Zentrum des Widerstands gegen Hitler geworden. Wenn Stauffenberg, der Mann des Attentats und der Erhebung, die am meisten nach vorne drängende Persönlichkeit war, so war Moltke mit seinen Kreisauern derjenige, der die präzisesten und weitsichtigsten Vorbereitungen für das Danach angestellt hatte. Und: Davon, dass die Briten nicht wussten, was Moltke vorhatte, konnte keine Rede sein.

Die Familie seiner Mutter stammte aus Südafrika und hatte schottische Wurzeln. Moltke hatte sich nach 1933 indes entschieden, in Deutschland zu bleiben. Da eine Beamtenlaufbahn nicht mehr in Frage kam, weil er nicht in die NSDAP eintreten wollte, ließ er sich in Berlin als Anwalt für Völkerrecht und Internationales Privatrecht nieder. Bereits 1934 lernte er bei einem Englandaufenthalt den einflussreichen Mitbegründer des außenpolitischen Instituts Chatham House, Lionel Curtis, kennen. 1939 legte Moltke in London zusätzlich ein Examen für die britische Anwaltszulassung ab. Zuvor war er bereits Mitglied der Gilde des Inner Temple geworden. Dies ermöglichte ihm regelmäßige Reisen nach London und den Austausch mit hochrangigen britischen Politikern bis Kriegsausbruch.

Nach England, um zu atmen

Curtis hat die Motive seines Freundes in den jetzt freigegebenen Aufzeichnungen des Moltke-Dossiers bereits 1943 für die Regierung Seiner Majestät treffend auf den Punkt gebracht. "Helmuth hatte ein dringendes Bedürfnis, so oft wie möglich nach England zu kommen, um in der freien Atmosphäre etwas durchatmen zu können. (...) Von Anbeginn war seine leidenschaftliche Abneigung gegen Hitler offenkundig, die sich an den Werten, oder besser gesagt am Fehlen von Grundwerten bei den Nazis entzündete. (...) Der einzige Punkt, wo ihn meiner Meinung nach sein Urteilsvermögen im Stich gelassen hat, war, dass er in seiner Verachtung für den Proleten das geniale Element in Hitler unterschätzt hat – die Ereignisse haben uns gezeigt, dass Hitler es besitzt. Ansonsten hat mich die unfehlbare Präzision beeindruckt, mit der er immer wieder politische Ereignisse voraussagte."

Moltke hatte bereits in den Vorkriegsjahren kein Blatt vor den Mund genommen. Er sah glasklar, dass Hitler den Krieg wollte und dass sich das nationalsozialistische Deutschland mit großer Zielstrebigkeit auf die kommenden Auseinandersetzungen vorbereitete. "Wenn Ihr in Deutschland wäret, würdet Ihr sehen, dass es nicht mehr eine Frage ist, ob es Krieg geben wird. Es ist nur noch eine Frage, wann der Weltkrieg beginnen wird", zitierte Lionel Curtis im Nachhinein die Aussage seines Freundes, um sogleich hinzuzufügen, dass dies zu einer Zeit gewesen sei, als Hitler noch lautstark vom Frieden tönte.

Treffen in Schweden vorgeschlagen

Auch nach Kriegsausbruch ging Moltke ein hohes Risiko ein. Er war nun als Sonderführer eingesetzt in der völkerrechtlichen Abteilung der Amtsgruppe Ausland, einer Unterabteilung der Abwehr, der militärischen Nachrichtenorganisation von Admiral Canaris. Seine dienstliche Stellung nutzte er dabei immer wieder als Tarnung für Treffen mit seinen britischen Freunden. 1943 übermittelte er über amerikanische Diplomaten in der neutralen Türkei unter konspirativen Umständen Memoranden an die Regierung Roosevelt. Denn es war seine Überzeugung, dass der Kampf gegen den Nationalsozialismus nur international geführt werden konnte.

Seinem Gefährten aus Vorkriegszeiten, dem Historiker Michael Balfour, in den Kriegsjahren Mitarbeiter im britischen Ausschuss für politische Kriegführung, hatte Moltke ein Treffen im neutralen Schweden vorgeschlagen. Die Antwort auf diesen Vorschlag wurde in London umfangreich geprüft. Die britischen Aktenkommentare aus dem Moltke-Dossier dokumentieren das tiefe Misstrauen, das in den Stäben der britischen Regierung gegenüber dem deutschen Widerstand vorhanden war: "Können von Moltkes Aktivitäten im deutschen Kriegsministerium irgendwie mit Spionage, Gegenspionage oder anderen subversiven Aktivitäten gegen unser Land in Verbindung gebracht werden?"

Ein überzeugter Anti-Nazi?

Hinter all dem stand bei den Briten die Frage, ob Moltke aus dem Holz geschnitzt sei, aus dem sich ein Hitler-freies Nachkriegsdeutschland bauen lasse? "Ist er ein so überzeugter Anti-Nazi und besitzt er die Voraussetzungen, um in einem nicht-nationalsozialistischen Nachkriegsdeutschland eine herausragende und nützliche Rolle zu spielen? Sollten Schritte unternommen werden, um ihm aus der Auflösung in Deutschland nach einer Niederlage der Nationalsozialisten herauszuholen, damit er den ihm zugedachten Part übernehmen könnte?"

Obwohl dies von den Experten des Foreign Office positiv beantwortet wurde, konnten sich die Briten nicht dazu durchringen, Balfour die Genehmigung für das Treffen mit Moltke zu erteilen. Als Grund wurde genannt, "es könne sich um einen Plan handeln, das Land durch Friedensfühler zu kompromittieren". Seit dem spektakulären Schottlandflug des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß 1941 – vorgeblich, um mit einer Friedenspartei Verhandlungen aufzunehmen und Churchill zu stürzen –, waren Friedensfühler der Alptraum der Regierung seiner Majestät. Doch bei Moltke waren diese Befürchtungen unangebracht. Das Dossier zeigt, wie präzise die Briten über seine Motive, seinen politischen Kompass und seine vielfältigen Bindungen an britische Staatsbürger Bescheid wussten.

Kritische Stimmen wittern Gefahren

Lionel Curtis, der Freund aus den Vorkriegsjahren, hatte 1943 klar vorausgesehen, welchen Wert der Kontakt zu Moltke für Britannien in einem Deutschland ohne Hitler haben würde. "Ich bin mehr denn je überzeugt, dass, wenn er den Krieg überlebt, wir nur gewinnen können, wenn wir uns seiner und seiner Familie annehmen und sie in Sicherheit bringen. Ich bin sicher, dass wir in ihm den vertrauenswürdigsten und bestinformierten Ratgeber zu Fragen finden werden, wie wir mit den vielfältigen Problemen bei der Einsetzung einer gesunden und handlungsfähigen Regierung in Deutschland umgehen sollen. ... Ich schlage deshalb vor, dass, wenn wir europäischen Boden betreten, befehlshabende Offiziere den Auftrag erhalten sollten, nach Helmuth Graf von Moltke Ausschau zu halten und ihn als Kriegsgefangenen nach Britannien zu verbringen, wenn möglich gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kindern. … Seine Vorstellungen davon, wie ein Nachkriegsdeutschland aussehen sollte, wären weitaus besser und in sich durchdachter als die jedes anderen deutschen Emigranten, der jetzt hier ist." Wie sehr Moltke und Curtis wesensverwandt waren, wird daraus ersichtlich, dass Moltke seinem britischen Freund 1942 in einem Brief die Schwierigkeiten des deutschen Widerstandes darlegte, einen Brief, dessen Abschrift beim britischen Nachrichtendienst landete.

Es gab auf britischer Seite aber auch kritische Stimmen, wie jene Aufzeichnung vom 22. November 1943 belegt, in dem jede Form der Verhandlung mit ihm als gefährlich bezeichnet wurde. Trotz seiner Bekenntnisse sei er in eine wichtige Position in der Kriegsmaschinerie der Nazis aufgestiegen. Man solle ihn auch nach seinen Taten beurteilen, "nicht nach vereinzelten Handlungen, sondern nach Jahren des willfährigen Dienstes im Nazismus: Man sammelt keine Feigen unter Dornen, und keine Trauben aus Disteln." Dabei wusste das Foreign Office über Moltkes Wirken genau Bescheid. Denn immer wieder hatten einzelne seiner Gesprächspartner danach die Dienste informiert.

Als Moltke beispielsweise im September 1943 in Stockholm alte Freunde aus dem Schwarzwaldkreis besucht hatte, berichtete seine Gastgeberin anschließend dem britischen Geheimdienst: über Moltkes Schilderungen der Situation in Deutschland, die nervösen Zusammenbrüche bei der SS, über den Ausbau der Konzentrationslager und darüber, dass derjenige, der zum zweiten Mal in ein KZ eingewiesen werden, mit der Erschießung zu rechnen habe.

Der gescheiterte Staatsstreich veränderte alles

Moltkes Wirken im Verborgenen wurde immer schwieriger. Im Januar 1944 wurde er verhaftet. Aufgrund seiner wiederholten Interventionen gegen völkerrechtswidrige Befehle war der Anwalt den Verfechtern der ideologischen Kriegführung schon lange im Weg. Zugleich bot sich mit seiner Verhaftung die Möglichkeit, das Amt Ausland/Abwehr von Admiral Canaris zu schwächen und damit die Gewichte zugunsten von Himmlers Reichssicherheitshauptamt zu verändern.

Anfangs waren die Haftbedingungen noch erträglich. In Ravensbrück war ihm sogar erlaubt, dienstliche Akten zu bearbeiten. Bei den regelmäßigen Besuchen seiner Frau Freya konnte er sich mehr oder weniger unbeobachtet unterhalten. Mit dem gescheiterten Attentat und Staatsstreich vom 20. Juli veränderte sich die Situation. Moltke wurde nach Berlin in das berüchtigte Gefängnis in der Lehrter Straße verlegt. Nach und nach wurden immer mehr Einzelheiten auch über die Treffen der Kreisauer bekannt. Doch auch dort hatte seine Frau im November und Dezember noch eine Besuchserlaubnis bekommen, um mit ihrem Mann Kreisauer Wirtschaftsangelegenheiten zu besprechen.

Es ging ihm jetzt einzig um das Vermächtnis

Den anderen Gefangenen ein Vorbild an Haltung und Würde bereitete sich Moltke damals bereits auf den Prozess vor. Dieser fand schließlich am 9. und 10. Januar 1945 in einem requirierten Gebäude in der Bellevuestraße in Berlin statt. Zwei schon bald nach dem Krieg publizierten Briefen an seine Frau, vom 10. und vom 11. Januar, verdanken wir die wohl eindringlichste und bewegendste Schilderung des Prozesses, der zum Schlagabtausch wurde zwischen dem keifenden Volksgerichtshofspräsidenten Freisler, einem fanatischen Ideologen des Nationalsozialismus, und dem führenden Kopf des Widerstandes gegen Hitler.

Moltke hatte mit seinem Leben abgeschlossen. "Zunächst muss ich sagen, dass ganz offenbar die letzten 24 Stunden eines Lebens gar nicht anders sind als irgendwelche anderen." Es ging ihm jetzt einzig um das Vermächtnis: "Dadurch, dass festgestellt ist, dass ich … überhaupt keine eigenen Interessen vertrat, sondern menschheitliche, dadurch hat Freisler uns unbewusst einen ganz großen Dienst getan, sofern es gelingt, diese Geschichte zu verbreiten und auszunutzen. Und zwar m.E. im Inland und draußen."

Späte Einsicht in London

Seiner Frau und seinen Freunden gelang es unter Einsatz ihres Lebens, seine Briefe aus dem Gefängnis herauszuschmuggeln, Freya Gräfin von Moltke wurde danach zu einer Botschafterin des Widerstands. Das Todesurteil gegen Helmuth James von Moltke wurde am 23. Januar 1945 in Plötzensee vollstreckt.

Schon bald darauf wuchs in London die Einsicht, welchen Verlust Großbritannien und die freie Welt durch seinen Tod erlitten hatte. Damals, in den Kriegsjahren, hatten sich in Britannien die Stimmen durchgesetzt, die in Moltke zunächst den Angehörigen des Kriegsgegners sahen und die die humanitären Motive des Völkerrechtlers im Dienste der Menschen nicht zu glauben vermochten. Dies war die eigentliche Tragik der Widerständler: Zu Hause fehlte der entscheidende Rückhalt im Volk, und im Ausland mussten sie sich mit Misstrauen und Spionageverdacht auseinandersetzen. Die kleine Minderheit in Großbritannien, die es besser wusste und ihn verstand, wurde nicht gehört.

Der Autor ist Historiker und Leiter des Planungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung; er gibt seine persönliche Meinung wieder.

Ulrich Schlie

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