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Geschichte: Wissen ist das halbe Leben

Enzyklopädien und Nachschlagewerke bündeln das Wissen der Menschheit. Bald nur noch im Internet. Na und?

Im Wohnzimmerschrank meiner Eltern stapelten sich keine dicken Folianten. Was dort an Büchern Platz fand, stammte meist aus der Produktion des „Deutschen Bücherbundes“ und bot eine bunte Mischung – von Grzimeks „Serengeti darf nicht sterben“ bis zum Wilhelm-Busch-Hausschatz – dessen, was aktuell oder zeitlos beliebt war. Für dickleibige Lexika oder Wörterbücher war in unserem Haushalt kein Regal vorgesehen, was zu leidvollen Erfahrungen führte, wenn der einbändige „Volksbrockhaus“ mal wieder mit Informationen geizte. Zum Glück gab es die Stadtbücherei, wo kein Mangel an Nachschlagewerken herrschte und ich mir, versteckt vor den Blicken mausgrauer Bibliothekarinnen, an abgeschiedenen Lesepulten jenes sexuelle Grundwissen holte, das mir Mutter und der Schmalspurbrockhaus verweigerten.

Aufklärung also verschaffte mir die Leihbücherei, jene Erleuchtung, die im 18. Jahrhundert – einer Epoche ihren (nicht auf seine erotische Bedeutung beschränkten) Namen gab und zu einer Flut von Enzyklopädien führte, die die Bildung der alsbald mündigen Menschen befördern sollte. Zum Markenzeichen dieses Buchtyps avancierte die zwischen 1751 und 1772 erschienene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“. Unter der Federführung von Denis Diderot versammelten sich die maßgeblichen Denker der Zeit, um ein nicht eben bescheidenes Vorhaben zu realisieren: die – erstmals in alphabetischer Ordnung präsentierte und rund 72000 Artikel umfassende – Zusammenschau des Wissens, über das die Menschheit damals verfügte. Diesem einzigartigen Werk gingen im deutschsprachigen Raum die 68 Bände des Zedler’schen „Großen vollständigen Universal-Lexikons der Wissenschaften und Künste“ voraus, das – so Jacob Adelung – genug wog, um einem Pferd „fast volle Ladung“ aufzubürden. Im 19. Jahrhundert dann entwickelte sich daraus der Typus des populären Nachschlagewerks, des untrennbar mit den Namen Brockhaus und Meyer verbundenen Konversationslexikons, das bis in unsere jüngere Gegenwart hinein Anlaufstelle für Wissbegierige war.

Dieses Genre begleitete den Aufstieg eines auf Bildung und Fortschritt bedachten Bürgertums und verschaffte seinen Benutzern nicht zuletzt das wohlige Gefühl, sicheren Zugriff auf Wissensgebiete zu erlangen, von denen man selbst keinerlei Ahnung hatte. Nur vor diesem Hintergrund ist die Lautstärke des Aufschreis verständlich, der vor kurzem durch die Lande ging, als der Brockhaus ankündigte, künftig weitgehend auf Printausgaben seines Traditionsprodukts zu verzichten und sein spätes Heil im Internet zu suchen. Kulturelle Welten scheinen nun aufeinanderzuprallen: hier die trendigen Web-User, für die Wikipedia und Google längst die neuen „Brands“ des Wissens sind, dort die um Seriosität und Verlässlichkeit bangenden Altnutzer, die sich ein Leben ohne das haptische Vergnügen eines (Kunst-)Lederlexikons nicht vorzustellen vermögen und sogar tief in die Taschen greifen, um ihr Eigenheim mit von Friedensreich Hundertwasser, André Heller und Armin Müller-Stahl kunstgewerblich veredelten Brockhaus-Bänden auszuschmücken.

Wer daran gewöhnt ist, sich Informationen über Suchmaschinen zu beschaffen, weiß natürlich, welche Defizite die althergebrachten Goldschnittstaubfänger notgedrungen aufweisen. Und wenn dann noch, wie neuerdings mehrfach nachgewiesen, die Zuverlässigkeit der Internetkonkurrenz stetig zunimmt, scheint es keinen Anlass zu geben, der Vergangenheit Tränen nachzuweinen. Die (kostengünstigen) Möglichkeiten, die das Internet bietet, spiegeln ein Dilemma wider, mit dem Enzyklopädisten seit jeher zu tun hatten. Wer Wissen hortet, mag insgeheim darauf hoffen, endlich auf eine Anhöhe der nicht mehr hintergehbaren, der dauerhaften Erkenntnis zu gelangen ... und weiß natürlich gleichzeitig, dass die Halbwertszeit des mühsam Zusammengetragenen immer kürzer wird und er sich von seinen sicher geglaubten Pfründen bald verabschieden muss.

Der beschleunigte Verfall des als gültig erachteten Wissens – ein oft zitierter und kulturpessimistisch beklagter Topos der Moderne – ist keineswegs eine Erscheinung unserer Tage. In Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1808) beispielsweise finden sich nachdenklich stimmende Zeilen: „Es ist schlimm genug, rief Eduard, dass man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen.“ Was Goethes Protagonisten zu Anfang des 19. Jahrhunderts umtreibt, gilt heute als Selbstverständlichkeit. Wer auf aktuelles Wissen angewiesen ist, kann sich nicht erlauben, auf die nächste Printauflage eines Konversationslexikons zu warten.

Das anrührende Bild der Ärmelschoner tragenden und Karteikarten um sich scharenden Lexikonsredakteure ist eingestaubt. Diese „Lastesel des Parnasses“ (Immanuel Kant) gehören einer ausgestorbenen Spezies an – eine Berufsbildverschiebung mit weitreichenden kulturellen Folgen. Denn auf die Enzyklopädien alter Zeiten zurückzugreifen, bot immer wieder eine hervorragende Gelegenheit, die Physiognomie einer Epoche kennenzulernen, sich die fehlerhaften Anschauungen und ideologischen Verblendungen unserer Vorfahren zu Gemüte zu führen – und dadurch auch ein Gespür für die eigene Fehlbarkeit zu bekommen. „Wie die Schichten der Erde die lebenden Wesen vergangener Epochen reihenweise aufbewahren, so bewahren die Bretter der Bibliotheken reihenweise die vergangenen Irrtümer und deren Darlegungen, welche wie jene Ersteren zu ihrer Zeit sehr lebendig waren, jetzt aber starr und versteinert dastehn“ – Arthur Schopenhauers Einschätzung aus dem Jahr 1851 verliert an Gültigkeit, wenn die Dauerkorrekturen der Netzbetreiber nurmehr eine verschwommene Ansicht generieren, die Fehleinschätzungen blitzschnell korrigiert und kein Standbild des Falschen mehr aufbewahrt. Was die Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts meinte, an abgesichertem Wissen zu besitzen, werden spätere Generationen nicht mehr so leicht nachzeichnen können.

Die Ausbreitung der lexikalischen Netzaktivitäten belegt erneut, welche Energie viele Menschen entwickeln, sobald es darum geht, ein solides Wissensfundament zu errichten. Nichts scheint schwerer erträglich als ein Zustand der Unsicherheit. Dass eine umfassende Kenntnis dessen, was Naturwissenschaft, Ökonomie, Medizin oder poststrukturalistische Kulturtheorie heutzutage ausmacht, ohnehin nicht mehr zu erlangen ist und Universalgenies ausgestorben sind, weiß jeder, sich damit abfinden will sich so schnell keiner. Enzyklopädien geben einem Kulturraum Identität, vermitteln das zumindest subjektiv befriedigende Gefühl, nicht in einer Welt der Zufälligkeiten zu leben, und schenken ihren Benutzern die Zuversicht, durch Anhäufung von Informationen in der sozialen Hierarchie einer Gesellschaft aufzusteigen. Anders gesagt: „Wissen ist Macht“ und „Ordnung ist das halbe Leben“, diese volkspädagogischen Sentenzen finden in Lexikongestalt ihre ideale Verkörperung. Und auch diejenigen, die auf dem TV-Sessel bei Günther Jauch oder Jörg Pilawa durch alle denkbaren Gebiete getrieben werden, sind nicht nur durch die Aussicht auf einen Millionengewinn angespornt. Auch sie spüren, dass noch so marginale Kenntnisse über die Ernährungsgewohnheiten von Paarhufern oder die Medaillenränge im Standweitsprung prestigeträchtig sind und Selbstwertgefühl geben.

Wo immer Wissen archiviert und lexikalisiert wurde, wo immer es nicht um originäre Forschung ging, meldeten sich umgehend Kritiker zu Wort. Schon Johann Gottfried Herder monierte im „Journal meiner Reise im Jahr 1769“, dass der in Frankreich aufgekommene „Geschmack an Enzyklopädien“ einen „Mangel an Originalwerken“ verrate, und bald zeigte sich, dass die (klein)bürgerliche Sehnsucht, im ABC-Raster eines Lexikons Halt zu finden, allerhand Lächerlichkeiten nach sich zog. Sich auf den neuesten Stand über schwarze Löcher, den einst überschätzten Eisengehalt von Spinat oder Neuformulierungen der Abseitsregel zu bringen, verleiht nicht automatisch die Befähigung, Detailwissen in selbstständiges Denken zu überführen. Die „Krambuden der Literatur“ (Goethe) verlangen nach Besuchern, die mit den angebotenen Waren intelligent umgehen. Dass das Gegenteil häufiger anzutreffen lässt, hat Gustave Flaubert in seinem späten Roman „Bouvard und Pécuchet“ (1881) wunderbar beschrieben. Getrieben vom „Hass auf die Dummheit“ seiner Epoche, ersann Flaubert zwei Figuren, die die Großstadt fliehen und sich – eine Erbschaft macht es möglich – mit Akribie daranmachen, den geistigen Kosmos ihrer Zeit zu erschließen. Kein wissenschaftliches Terrain ist vor den Herren Bouvard und Pécuchet sicher: Sie widmen sich der Geologie, der Landwirtschaft, der Philosophie und der Pädagogik – bierernst und so übereifrig, dass ihr Scheitern nur eine Frage der Zeit ist. Flauberts unvollendet gebliebener Roman, der mit einem „Dictionnaire des idées reçues“, einem Lexikon der Gemeinplätze also (darunter auch der Eintrag „Diderot: immer von d’Alembert gefolgt“), schließt, ist eine groteske Ansammlung falsch verstandenen Wissens. Seine wackeren, am Ende gar mit der Polizei in Konflikt geratenden Provinzhelden sind mehr als Karikaturen irregeleiteten Bildungsstrebens; sie verkörpern – wir befinden uns noch im 19. Jahrhundert! – ein völlig überfordertes Bürgertum, das mit den sich widerstreitenden Meinungen der Wissenschaften nicht zurande kommt und umso hartnäckiger auf Vorurteile setzt, eine Erfahrung, von der heute jeder ein Lied zu singen weiß.

Dass man mit Enzyklopädien ganz anderen Umfang pflegen kann, bewies der New Yorker Journalist A. J. Jacobs, der sich eines denkwürdigen Experiments unterzog. Fünfzehn Monate lang widmete er sich mit größter Intensität dem Studium der „Encyclopaedia Britannica“, jenes berühmten, 1768 erstmals erschienenen Kompendiums, und hielt seine Erfahrungen in dem Buch „Britannica & ich“ (2006) fest. Jacobs wollte seinen Bildungshorizont markant erweitern und begann, zum bassen Erstaunen seiner Familie, die „Britannica“ von A bis Z zu lesen, Eintrag für Eintrag, bis er bei „Zywiec“ angekommen war, einer polnischen Kleinstadt, die für ihr Bier und die Nähe zum Wallfahrtsort Tschenstochau bekannt ist: „Und das war’s. Um 21:38 Uhr an einem ansonsten wenig bemerkenswerten Dienstagabend habe ich, an meinem Stammplatz auf der weißen Couch, die Lektüre der ,Encyclopaedia Britannica‘ (Ausgabe 2002) beendet. Ich weiß nicht recht, was ich jetzt tun soll. Ich klappe den Band leise zu. Ich stehe auf, setze mich wieder hin. Keine Beifallsstürme, kein Siegertreppchen und kein Lorbeerkranz. Nur ein seltsames Gefühl der Leere.“

Man sieht: Nicht jeder Umgang mit Nachschlagewerken und Fachliteratur muss zwangsläufig im Labyrinth der verwirrten Bouvard und Pécuchet enden. A. J. Jacobs gibt neue Hoffnung: Wer sich in die alphabetisch erzwungene Anordnung eines Lexikons begibt und wahllos Informationen über den Kastratensänger Farinelli, das Aussehen der Fregattvögel oder die Verbreitung der Nabelflechte in seinem Kopf anhäuft, degeneriert nicht sofort – sofern er in der Lage ist, das Angelesene mit seinem Alltag in Verbindung zu bringen, und Ironie walten lässt. Nicht selten etwa dürfen es sich Brockhaus & Co. zugutehalten, zu literarischen Werken inspiriert zu haben. Büchnerpreisträger Hermann Lenz zum Beispiel hätte sein Frühwerk kaum ohne die Ausgabe des Meyer’schen Konversationslexikons von 1910 zu schreiben vermocht. Als er in den 1930er Jahren wenigstens in Gedanken vor dem Nationalsozialismus fliehen und in seine Traumstadt Wien ausweichen wollte, bot ihm der Meyer-Band einen Stadtplan des ersten Wiener Bezirks. Dies gestattete es dem Autor, die Akteure seiner Erzählung „Das stille Haus“ auf die Gassen zwischen Hofburg und Stephansdom zu schicken – eine topografische Flucht, die ohne enzyklopädische Unterstützung undenkbar gewesen wäre.

Der Drang, unser Wissen über die Welt zu vergrößern, macht uns zu aufnahmebereiten Nutzern von Enzyklopädien. Wir wollen Anteil nehmen an dem, was andere wissen, wollen unseren Ordnungssinn befriedigen, ja vielleicht, wenn wir zum Wikipedia-Beiträger werden, selbst das Glück verspüren, dass eigene Erkenntnisse – und sei es nur über das musikalische Frühwerk Roberto Blancos – die Menschheit voranbringen. Lücken des Begreifens gibt es ohnehin genug, auch in unseren Zeiten, da der Glaube an die Beherrschbarkeit der Welt kaum beeinträchtigt waltet. Der Erfolg, den Kathrin Passigs und Aleks Scholz’ im vergangenen Jahr erschienenes „Lexikon des Unwissens“ hat, zeigt, welche Unruhe der Hinweis auf Wissensnotstände macht. Wie soll es weitergehen, wenn – so in dieser Anti-Enzyklopädie nachzulesen – sogar profilierte Astrophysiker, Historiker oder Ejakulationsforscher Dinge partout nicht erklären können? Auch der neue Online-Brockhaus wird sich an diesen Welträtseln mit großer Wahrscheinlichkeit die Zähne ausbeißen.

Ich selbst begnüge mich fürs Erste damit, in alten Nachschlagewerken zu schmökern, in verblichenen, angestoßenen antiquarischen Fundstücken, die mir das gute Gefühl bescheren, es habe einen Erkenntnisfortschritt gegeben. In dem von meiner Großmutter ererbten „Hausfrauenlexikon – von A bis Z“ zum Beispiel, das anregende Ratschläge für Haus, Hof und Herd gibt und aufs schönste zeigt, auf welch schwankendem Boden die Verwalterinnen von Haus, Hof und Herd einst standen. In diesem „Nachschlagebuch für das häusliche Leben mit 6600 Stichworten und 120 Abbildungen“ erfahre ich, dass eine Bekassine eine Sumpfschnepfe ist, „die wie andere Schnepfen zubereitet wird“, lerne ich, was sich gegen einen Damenbart ausrichten lässt und dass Spaziergänge „für jeden Menschen erforderlich“ seien. Und natürlich nehme ich all die Dummheiten – die Mär vom so eisenhaltigen Spinat! – wahr, die der deutschen Hausfrau lange Zeit weisgemacht wurden. Größeren Schaden haben meine Großmutter, meine Mutter und die anderen Nutzerinnen dieses Handbuchs dennoch nicht genommen. Enzyklopädisches Wissen ist eben nur das halbe Leben. Wie tröstlich.

Rainer Moritz

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