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Verzeichner der Logbuch-Einträge: Deniz Utlu, Essayist und Romanautor.

© Kai-Uwe Heinrich/TS

Gesellschaft: Von der Zeit aufgelesen

Wie sieht eine Gesellschaft aus, die eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen zulässt? Eine Kolumne.

Vor (nicht ganz) zwei Jahren, als ich mit dieser Kolumne begann, war es höchstens eine Ahnung, dass die folgenden Monate eine Zeit des politischen Umbruchs sein würden. Ich wollte in Kurzessays versuchen, die Zeit zu lesen. Manchmal, wenn ich mich durch die Welt bewegte, las aber umgekehrt die Zeit mich auf: So fanden auch Musiker in den Bahnstationen Berlins, in den Parks Limas, Museumsführerinnen in Warschau, Karten spielende Senioren in Italien, U-Bahn-Wüteriche und Menschen, die aus den Fenstern fallen ihren Weg zu unserer kleinen Verabredung an jedem zweiten Samstag hier.

Wir gaben der Reihe den Namen „Einträge ins Logbuch“. Ich stellte mir ein fragmentiertes imaginäres Logbuch vor, in dem ich nur ein Verzeichner unter vielen bin – in das viele Menschen ihre Einträge machen zum Kurs unserer Gesellschaft.

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lesenden bedanken, die regelmäßig oder unregelmäßig zu dieser Verabredung gekommen sind. Einige haben mir Briefe oder E-Mails geschickt oder mich nach einer Veranstaltung angesprochen; mit mir geteilt, was diese Texte für sie bedeutet haben oder mit mir diskutiert, wenn sie anderer Meinung waren.

Den ersten Eintrag schrieb ich im Sommer 2017 im Anschluss einer Reise nach Polen über die Suche so vieler Menschen in Europa nach einem Umgang mit erstarkenden autoritären Regimen und reaktionären Auftrieben – und wie sich diese Suche in einem Kreuzpunkt von Hoffnung und Verzweiflung in die Gesichtszüge einschreibt. Von heute aus betrachtet sind die gesellschaftlichen und politischen Folgen der Bundestagswahl im Herbst 2017 im Kontext einer weltweiten Anzweiflung der Autorität des besseren Arguments zentral für meine Einträge in dieses Logbuch gewesen.

Das Abrücken der Politik vom Rationalen

Ein Themenstrang, der sich hieraus entwickelte, schloss Beobachtungen und Überlegungen zum Rassismus in Politik, Behörden und Gesellschaft ein: die Normalisierung rechtsextremer und verfassungsfeindlicher Positionen in Parlament und Gesellschaft; das Abrücken der Politik – wenigstens teilweise – von einer rationalen Programmatik hin zur Verwendung emotionaler Stimuli meist auf Kosten von Geflohenen. Ein anderer Themenstrang bezog sich auf eine Rhetorik der „Verteidigung der liberalen Idee“: Ist die offene Gesellschaft, um die wir bangen, eine Gesellschaft offener Märkte? Hier diskutierte ich in den Einträgen ökonomische Theorien und Praktiken, von der Klage eines peruanischen Bauern gegen RWE, der sich vom Klimawandel bedroht sieht, bis zum Methodenstreit in der Wirtschaftswissenschaft.

Diese Themenstränge führten letztlich immer wieder zu der Frage: Wie sieht eine Gesellschaft aus, die eine ehrliche Begegnung zwischen Menschen zulässt? Momentan scheinen wir uns eher von einer solchen Art – einer solidarischen Art – des Zusammenlebens zu entfernen, in Deutschland und weltweit. Und doch habe ich während der Arbeit an diesen Kolumnen in den letzten beiden Jahren viele Menschen getroffen, die unermüdlich nach anderen Möglichkeiten gesucht haben. Hier, bei den Suchenden, liegen bereits die Potenziale empathischer Lebensentwürfe, die der Zukunft gewachsen sind.

- Deniz Utlu beendet mit diesem Text seine Kolumne. Er bleibt dem Tagesspiegel als Essayist verbunden, seinen ersten Essay veröffentlichen wir im Februar. An dieser Stelle lesen Sie ab Mitte Februar im wöchentlichen Wechsel mit Pascale Hugues Texte der Autorin Hatice Akyün.

Deniz Utlu

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