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"Ich heiße Rotes Huhn. Vorname Rotes. Nachname Huhn. Ich bin ein blaues Huhn, das Rotes Huhn heißt.“

© Illustration: Julia Hoße

Gestatten, Rotes Huhn: Eine Vorlesegeschichte von Harald Martenstein

Henne Hertha will, dass alles so bleibt, wie es ist. Doch dann zieht eine extravagante Kollegin auf den Bauernhof – und jemand wird Federn lassen müssen …

Es war einmal ein Bauernhof. Auf diesem Bauernhof lebten Hühner. Die Bäuerin und der Bauer waren ziemlich nett. Man merkte es daran, dass sie ihre Hühner draußen frei herumlaufen ließen und nicht in enge Käfige sperrten. Die Hühner hatten viel Freizeit, sie mussten nur Eier legen. Das können Hühner ja richtig gut.

Viele Menschen essen nun mal Eier. Auf diesem Bauernhof aber durften die Hühner ihre ersten Küken immer behalten und später auch manchmal welche.

Eines Tages sagte der Bauer zu seinen Hühnern: „Meine Damen, ich habe das Gefühl, ich sollte mal wieder ein neues Huhn kaufen.“ Er hatte in der Zeitung nämlich etwas über eine interessante neue Hühnersorte gelesen.

Die Hühner freuten sich auf ihre neue Kollegin. Es war gut, mal jemand Neues zum Reden zu haben und zum Gemeinsam-im-Sand-Scharren. Auf einem Hühnerhof ist nicht viel los. Ehrlich gesagt, es ist langweilig dort. Raus auf die Straße darf man als Huhn nicht, das wäre viel zu gefährlich, wegen der Autos. Hühner sind oft vergesslich. Sie vergessen, nach links und rechts zu schauen, bevor sie loslaufen. Hühner dürfen auch nicht ins Kino, obwohl es Hühnerfilme gibt, zum Beispiel „Flussfahrt mit Huhn“. Die Klappsessel im Kino sind nur für Menschen gemacht. Wenn sich ein Huhn draufsetzt, klappt der Klappsessel hoch, weil das Huhn zu leicht ist, und das Huhn wird eingequetscht.

Das Huhn war blau

Der Bauer fuhr also in die Stadt, wo der Hühnergroßhandel ist, und brachte einen großen Pappkarton mit. Der Karton hatte Luftlöcher. „So, meine gefiederten Freundinnen, viel Spaß“, sagte der Bauer, stellte den Karton auf den Boden, öffnete ihn und ging ins Haus, um die Bäuerin zu fragen, was er als Nächstes tun soll. Nach einer Weile kam das neue Huhn heraus.

Es war blau.

Nein, nicht ein bisschen blau, sondern voll und ganz. Sogar der Schnabel und die Krallen waren blau. Es stand da, guckte sich um und sagte nichts.

Bei den Hühnern gibt es immer eine Chefin, das Leithuhn. Dieses hieß Hertha Henne.

Hertha Henne sagte: „Oho. Du bist ja blau.“

„Gut erkannt“, sagte das neue Huhn. „Ganz genau, ich bin ein blaues Huhn. Das höre ich übrigens oft.“

„Seit wann gibt es denn blaue Hühner? Bist du denn überhaupt ein echtes Huhn?“

„Einiges deutet darauf hin“, sagte das neue Huhn und gackerte verächtlich. Es war etwas verärgert wegen der blöden Frage.

Hertha wollte keinen Streit. „Ich bin die Hertha und eine Führungspersönlichkeit. Also zeig mal besser ein bisschen Respekt. Wie heißt denn du, blaues Huhn?“

„Rotes Huhn.“

„Wie? Du bist doch gar nicht rot, Kleines!“, sagte Hertha.

„Gut erkannt. Du hast mich nicht nach meiner Farbe gefragt, sondern nach meinem Namen, schon vergessen? Ich heiße Rotes Huhn. Vorname Rotes. Nachname Huhn. Ich bin ein blaues Huhn, das Rotes Huhn heißt.“

„So etwas geht gar nicht“, rief Barbarella, eines der anderen Hühner.

„Ihr seht doch, dass es geht.“

Die Hühner waren fassungslos.

Das blaue Huhn, das Rotes Huhn heißt, sagte: „Meine Mama hat mich eben so genannt. Ich finde meinen Namen extravagant.“

Extra – wie? Dieses Wort hatten die anderen Hühner noch nie gehört.

„Extravagant bedeutet besonders“, sagte das blaue Huhn, das Rotes Huhn hieß.

„Ist deine Mama blau oder rot?“

„Meine Mama ist grün.“

„Was seid ihr denn für eine schräge Truppe“, sagte Barbarella. „Hühner sind braun. Oder schwarz. Weiß geht auch.“

Hunde sind nun mal nicht so klug wie Hühner

„Meine Mama“, sagte Rotes Huhn, „heißt übrigens Schwarzes Huhn. Habt ihr noch nie von ihr gehört? Sie ist Zirkusartistin, sie reitet auf einem Hund. Er ist lieb, aber Hunde sind nun mal nicht so klug wie wir Hühner. Die können nicht mal Eier legen. Ihr Gackern hört sich an wie ein Traktor. Aber wenn man ein bisschen Geduld mit ihnen aufbringt, lernen sie doch so einiges. Meine Mama und ihr Hund sind überall auf der Welt aufgetreten, Krefeld, Fischen im Allgäu, Tempelhof, überall.“

Davon wollten die anderen Hühner im Moment aber gar nichts hören. Sie dachten nach. Sie waren neugierig.

„War dein Papa denn auch im Extraversand?“, fragte das Huhn Lolita.

„Extravagant heißt das. Mein Papa war ein wunderschöner schwarzer Hahn und hieß eigentlich Schwarzer Hahn. Aber dass er nicht Schwarzer Hahn heißen konnte, ist euch wohl klar, meine Mama ist ja schon Schwarzes Huhn. Das hätte für Verwirrung gesorgt. Also nannte er sich Grüner Hahn.“

Die Hühner riefen: „Dein Vater hat den Namen deiner Mutter angenommen, alle Achtung. So kennt man die Hähne gar nicht. Also, noch mal, deine Mutter heißt Schwarzes Huhn, obwohl sie grün ist. Und dein Vater ist schwarz, aber er heißt Grüner Hahn. Haben wir das richtig verstanden?“

„Genau.“

Es dauerte ein paar Tage, bis sich die Aufregung der Hühner gelegt hatte. Das blaue Huhn, das Rotes Huhn hieß, war wirklich ein Huhn wie alle anderen, und sie kamen gut mit ihm aus. Das blaue Huhn, das Rotes Huhn hieß, hatte schon viel von der Welt gesehen, und es erzählte gern davon, wie es zum Beispiel in Tempelhof ist oder in Fischen im Allgäu. In Tempelhof zum Beispiel regnet es Gerstenkörner, die so groß sind wie ein Hühnerkopf, die heißen Kastanien.

Wie würde wohl das Ei aussehen?

Die große Frage, die alle Hühner sich stellten: Wie würden wohl die Eier von Rotes Huhn aussehen? Bald würde sie ihr erstes Ei legen, das stand fest.

Hertha sagte: „Rotes Huhn ist blau. Ihr Ei wird deshalb auch blau sein. Kinder ähneln der Mutter, Namen sind Schall und Rauch. Ihr Küken ist zuerst gelb, wie alle Küken. Dann wird es wahrscheinlich blau werden, und Rotes Huhn wird ihr blaues Kind Graues Huhn oder Gelbes Huhn nennen oder nach sonst einer Farbe, aber auf keinen Fall Blaues Huhn. Ist doch logisch.“

Barbarella sagte: „Rotes Huhn ist extravagant, ihr Ei wird deshalb auf gar keinen Fall rot oder blau sein oder weiß oder braun wie unsere. Das wäre zu langweilig für jemanden wie sie.“

Lolita sagte: „Rotes Huhn ist vor allem klug. Ihr Küken wird weiß oder braun wie wir, weil es dann gut zu uns passt und nicht immer wegen seines Aussehens blöde Fragen zu hören kriegt.“

Das Ei war weiß mit roten Punkten.

„Ich wusste es doch gleich, dein Ei ist rot“, sagte Hertha zu Rotes Huhn.

„Ein weißes Ei, ich wusste es von Anfang an“, sagte Lolita.

„Ein Überraschungsei, extravagant, war doch klar“, sagte Barbarella.

Das Küken war natürlich gelb, wie alle Küken. „Wie wirst du dein Küken denn nennen?“, fragten die anderen Hühner.

„Mein Küken heißt Tyson und wird mal ein ganz lieber brauner Hahn, eine Mutter spürt das.“
„Mein Küken heißt Tyson und wird mal ein ganz lieber brauner Hahn, eine Mutter spürt das.“

© Illustration: Julia Hoße

Das blaue Huhn, das Rotes Huhn hieß, sagte: „Mein Küken heißt Tyson und wird mal ein ganz lieber brauner Hahn, eine Mutter spürt das.“

„Tyson ist eher ein Name für Hunde, und zwar für Hunde, die Hühner jagen“, sagte Hertha. „Willst du uns Angst machen?“

„Der Name ist total langweilig“, sagte Barbarella, „das passt gar nicht zu dir.“

„Küken, die Tyson heißen, werden es im Leben einmal sehr schwer haben“, sagte Lolita.

Rotes Huhn sagte: „Der Hund, auf dem meine Mama im Zirkus geritten ist, hieß so. Er war lieb. Wie ein Huhn ist oder ein Hund, kann man nicht an der Farbe erkennen und auch nicht am Namen. Das könntet ihr euch langsam mal merken.“

Die Hühner schämten sich ein bisschen. Das war wirklich nicht nett gewesen, so etwas zu sagen. „Also, zuerst mal herzlichen Glückwunsch“, sagte Hertha.

„Für ein Huhn ist Tyson natürlich schon ein extravaganter Name“, sagte Barbarella.

„Hähne, die so heißen, werden wenigstens respektiert“, sagte Lolita, „wenn der Fuchs wieder um den Hof schleicht und der Bauer ruft diesen Namen, haut der Fuchs sofort ab. Du bist schlau, Rotes Huhn.“

Dann kam der Bauer und sagte: „Na, Mädels, was macht der Nachwuchs?“

Tyson wurde tatsächlich ein starker brauner Hahn, und er durfte auf dem Hof bleiben, weil der Bauer oft verschlief und jemanden brauchte, der morgens kräht. Als Hertha alt und noch vergesslicher wurde, wurde Rotes Huhn das neue Leithuhn. Abends, wenn alle auf ihrer Stange saßen, erzählte sie Geschichten über den Zirkus. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann gackern sie noch heute.

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