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Rudi Dutschke und sein Sohn Hosea-Che 1971 auf einer Pressekonferenz in Dänemark.

© ullstein bild

Hosea-Che Dutschke: Mein Vater Rudi Dutschke

Er war eine Ikone der 68er-Studentenbewegung: Rudi Dutschke. Ein Besuch bei seinem ältesten Sohn Hosea-Che im dänischen Århus. Er erinnert sich an antiautoriäre Erziehung – und wie er den toten Vater vorfand.

Von Barbara Nolte

Rudi Dutschkes Ältester hat die Statur eines Ringers und einen kräftigen Händedruck. „Hosea, hallo!“, stellt er sich vor. 45 Jahre ist er alt, nur wenig größer als 1,70, breitschultrig. Im Laufschritt durchquert er das Foyer des Rathauses von Århus, wo er arbeitet. Vollständig heißt er: Hosea-Che Dutschke. Den Namen Che hat er abgelegt, was er nicht als Abgrenzung von Che Guevara, seinem Namenspatron, verstanden wissen will. Er hält Doppelnamen schlicht für zu kompliziert. Und dass er seinen schillernden Nachnamen unterschlägt, liegt an den Umgangsformen unter Dänemarks Bürokraten: Selbst die Bürger werden in den Behördenbriefen geduzt.

„Ist alles ein bisschen informeller hier“, sagt Hosea Dutschke. Das kommt ihm gelegen, denn, sobald er seinen Nachnamen nennt, wird er auf Familienähnlichkeiten gescannt. Er hat die braunen Augen vom Vater, nur hinter Brillengläsern verborgen. Während Rudi Dutschke eindringlich sprach, gibt sich der Sohn beiläufig. Wie jemand, der kein großes Aufhebens um sich macht. Als Verwaltungsdirektor sitzt er in einem Großraumbüro im vierten Stock. Genauer gesagt: Er steht dort an einem brusthohen Schreibtisch. „Ist gesünder“, sagt er und lacht ein wenig verlegen. Um die Kollegen nicht zu stören, setzt er sich fürs Gespräch in den Konferenzraum, der mit einer Glaswand abgetrennt ist.

Welches Bild haben Sie im Kopf, wenn Sie an Ihren Vater denken?

Ich sehe ihn mit seiner Baskenmütze vor mir, habe seine Dose mit den Pillen vor Augen, die er gegen seine Epilepsie nehmen musste. Regelrecht eingebrannt in mein Gedächtnis hat sich sein Tod: wie meine Mutter im Badezimmer aufschrie, wie ich hinrannte und Rudi nackt da liegen sah. Ich habe in der Küche einen Topf mit Wasser geholt und ihm über das Gesicht gekippt. Dann habe ich Mund-zu- Mund-Beatmung versucht.

Sie waren elf Jahre alt, als Ihr Vater am Heiligen Abend 1979 nach einem epileptischen Anfall in der Badewanne ertrank. War Ihre Bindung zu ihm sehr eng?

Ja, Rudi war ein engagierter Vater. Wenn er da war. In den Jahren vor seinem Tod war er ja oft in Deutschland, wo er die Gründung der Grünen mit vorbereitete.

In seinem Tagebuch schrieb Ihr Vater einmal über Sie: „Ho drückt schon jetzt proletarischen Klassencharakter aus.“ Da waren sie anderthalb.

Was für ein Satz!

An anderer Stelle notierte er: „Verhalte mich Hosea-Che gegenüber manchmal nicht richtig. Reste der autoritären Strukturen aus der eigenen Periode der Erziehung zeigen sich in solchen Fällen.“ Ein sehr theoretischer Blick auf Sie.

Ich habe so nicht über meine eigenen Kinder gesprochen. Doch was uns heute natürlich erscheint, mussten sich unsere Eltern erarbeiten. Sie waren selbst autoritär erzogen worden, wollten verständlicherweise alles anders machen als ihre Eltern. Deshalb formulierten sie erst ihre Erziehungsmaxime, um dann möglichst danach zu handeln. Aber einmal hat mir mein Vater tatsächlich einen Klaps auf den Hintern gegeben. Ich regte mich fürchterlich auf. Da drehte Rudi sich um, zog seine Hose runter, und ich durfte ihm den Hintern versohlen. Ein großer Spaß.

Im Juni 1970 schrieb Ihr Vater: Ihre „antiautoritäre Struktur“ entwickele sichdeutlicher. Erkennen Sie heute bei sich die antiautoritäre Struktur, die Ihr Vater meinte?

Schon. Gleichzeitig bin ich Chef von 7000 Leuten. Im Zweifelsfall bestimme ich. Dennoch ermuntern wir hier in der Verwaltung von Århus unsere Mitarbeiter ausdrücklich, Kritik zu üben.

Solange es Hierarchien gibt, ist Kritik wie auch Lob oft taktisch motiviert.

Wir bemühen uns ja um möglichst flache Hierarchien, weil wir glauben, dass wir so ein besseres Produkt kriegen: bessere Hilfe für die Kranken und Schwachen. Aber, klar, am Ende habe ich die Macht.

„Was ist denn da los?“, sagt Hosea Dutschke und schaut erschrocken. Hinter der Glasscheibe stehen Menschen in Trauben zusammen. Immer neue kommen hinzu. „Ganz schön was los!“, sagt er jetzt, peinlich berührt, dass er, der Chef, so exponiert dasitzt und interviewt wird. Doch nicht er ist der Anlass der mittlerweile mittelgroßen Versammlung, sondern ein Baby, das von Arm zu Arm gereicht wird. Ein Mitarbeiter, erklärt Dutschke, der eigentlich in der Elternzeit sei, sei ins Rathaus gekommen, um sein Kind den Kollegen zu zeigen.

Herr Dutschke, Sie lagen, als Sie so alt waren wie das Baby dort drüben, einmal auf zwei Kilo Plastiksprengstoff ...

Der italienische Verleger Feltrinelli stand mit einem Paket Sprengstoff vor unserer Tür. Er wollte meine Eltern überreden, ihm zu helfen, einen Anschlag auf ein amerikanisches Kriegsschiff zu verüben. Mein Vater versteckte den Sprengstoff unter der Matratze meines Kinderwagens und setzte mich als Tarnung darauf. So holperten wir durch Berlins Straßen. Meine Mutter hatte wahnsinnige Angst, dass wir in die Luft fliegen. Letzlich brachten sie den Sprengstoff bei Bekannten vorbei, die ihn zu entsorgen versprachen. Das Ganze war ein großer Schwachsinn.

Wenig später, am Gründonnerstag 1968, schoss der Anstreicher Josef Bachmann Rudi Dutschke in den Kopf, mit der Folge, dass er das Sprechen neu lernen musste und seitdem unter Epilepsie litt. Erinnern Sie sich an Ihren Vater als kranken Mann?

Schon, wenn auch ich unseren Erinnerungen generell nicht über den Weg traue. Erinnern wir uns tatsächlich an eine Begebenheit selbst? Oder an Fotos oder spätere Erzählungen davon? Ich weiß noch, dass mein Vater nach epileptischen Anfällen sehr schwach war. Es dauerte Tage, bis er sich erholte. Ich sehe Rudi andererseits aber auch als körperlich stark vor mir. Mit meiner Schwester und mir hat er in Århus viel Fußball gespielt.

Hat Ihr Vater Sie auch politisch erzogen?

Wenig. Einmal hat er einen Freund und mich mit nach Stammheim genommen, wo er Jan-Carl Raspe besuchte. Er wollte uns die Angst vor Gefängnissen nehmen. Er wollte uns mitgeben, dass man sich in seinem politischen Tun nicht einschüchtern lassen sollte von den Sanktionsdrohungen der Staatsmacht. Aber wir Kinder durften schließlich gar nicht mit rein, weil mein Vater nur für sich eine Besuchserlaubnis beantragt hatte.

Er stand dem deutschen Terrorismus nahe. Am Grab von Holger Meins, der an den Folgen eines Hungerstreiks gestorben war, rief er: „Holger, der Kampf geht weiter!“

Rudi stand Holger Meins und Jan-Carl Raspe als Menschen nahe. Es waren Freunde von früher.

Er kannte auch Ulrike Meinhof …

…nur in der Zeit, bevor sie Terroristin wurde. Meine Mutter erzählt, dass Ulrike Meinhof meinen Vater gefragt hätte, ob er mit ihr fortgehen würde: in ein fremdes Land, nicht in den Untergrund. Mich, das Kleinkind, wollte sie auch mitnehmen. Doch mein Vater wollte lieber bei meiner Mutter bleiben.

Ihr jüngerer Bruder Marek kritisierte das Verhältnis Ihres Vaters zur Gewalt.

Ich glaube, dass Rudi den Kampf mit der Waffe legitim fand, wenn sich Völker der Dritten Welt gegen die Kolonialmächte erhoben haben. Sonst nicht.

„Kleinen Moment“, sagt Hosea Dutschke und hastet zur Glaswand. Dort hält ihm sein Mitarbeiter das Baby entgegen. Dutschke gratuliert auf Dänisch – mit der Selbstverständlichkeit eines Muttersprachlers. Dabei ist seine Mutter Gretchen Amerikanerin.

Die Dutschkes strandeten in Århus, nachdem sie vor der aufgeheizten Stimmung in Berlin geflohen waren. Die Familie lebte zunächst in einer Kommune. Hosea Dutschke schlägt vor, sich vom Dach des benachbarten Museums aus die Stationen der Familie in Århus anzusehen. Der Künstler Olafur Eliasson hat dort einen spektakulären Dachaufbau gestaltet. Programmatischer Titel: „Your Rainbow Panorama“. Ein Rundweg auf Stelzen, die Seitenwände aus buntem Plexiglas. Århus sieht von hier oben farbenfroh und überschaubar aus. Hosea Dutschke zeigt auf eine Rasenfläche. Dort, im Botanischen Garten, sagt er, sei der Vater oft spazieren gegangen in seinen Holzclogs, die außer ihm nur noch ein paar alte Bauern getragen hätten. Die Mutter habe sich bei Fruchtbarkeitstänzen entspannt. Sie versorgte die Familie mit biodynamischem Müsli. Manchmal, sagt Dutschke, seien ihm die Eltern, die so anders waren als die Eltern seiner Freunde, ziemlich peinlich gewesen.

Kurz nach dem Anschlag ließ sich Ihr Vater durch einen Leibwächter beschützen. Blieben Sie in Dänemark unbehelligt?

Manchmal bekamen wir diese Anrufe. Wenn man abnahm, waren nur seltsame Geräusche zu hören. Telefonterror halt.

Ihr Vater suchte mit zwei Briefen Kontakt zu seinem Attentäter. „Ich bin Ihnen wirklich nicht böse“, schreibt er, „ich hasse die bestehende ,Ruhe und Ordnung’ dieses beschissenen Systems.“

Die Briefe lesen sich christlich und sozialistisch zugleich: Rudi ist auf Versöhnung aus, außerdem sucht er die Schuld nicht beim Einzelnen, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnisssen. Damals hat die Springer-Presse den Hass geschürt, wenn sie schrieb, dass man die „Drecksarbeit“ nicht der Polizei überlassen dürfe. Doch einer muss die Pistole ziehen und abdrücken. Das war Bachmann.

Empfinden Sie Wut auf Bachmann?

Das ist alles so lange her. Früher manchmal schon. Mal war ich auch auf das Schicksal wütend und mal sogar auf meinen Vater, weil er mich verlassen hat.

Sie haben den Vater tot aufgefunden. Das muss traumatisierend sein.

Heute bekommen Familien in Dänemark automatisch psychologische Hilfe, wenn ein Elternteil früh stirbt. Das hätte uns sicher gut getan. Ich habe damals Gespräche abgeblockt, den Schmerz verdrängt. Ich wollte, dass das Leben weitergeht.

Ihre Mutter nannte Rudi Dutschke rückblickend einmal einen Halbgott. Das klingt, als wäre Ihr Vater noch immer der moralische Fixpunkt in Ihrer Familie.

Meine Mutter hat das im Scherz gemeint. Die Heldenverehrung von Rudi, wie sie von außerhalb der Familie an mich herangetragen wird, ist mir suspekt. Ich finde, dass Rudi eine historisch wichtige Figur ist, aber eben eine historische Figur. Für mich ist er in seiner Vaterrolle bedeutsam.

In Ihrem Buch „Rudi und ich“, aus dem Sie am 17. Oktober im Berliner Kino Babylon lesen, klingen Sie auch schwärmerisch: „Ich will seine Eigenschaften übernehmen, seinen Status, seine Fähigkeiten.“

Das Buch ist aus der Perspektive von mir als Jungen geschrieben. Ich hatte damals ein ungebrochenes Verhältnis zu ihm, was für einen Elfjährigen nichts Ungewöhniches ist. Die Ablösung in den Teenagerjahren fiel dann ja aus. Die Konflikte hatte ich mit meiner Mutter.

Ihr Verlag sagte, dass Sie sich auch von der „Bild am Sonntag“ interviewen lassen.

Mal sehen, was da rauskommt. Der Streit mit dem Springer-Verlag ist Geschichte.

Hat sich Springer einmal bei Ihrer Familie entschuldigt?

Offiziell nicht. Sven Simon, Axel Springers Sohn, hatte einmal extra Kinderkleider gekauft und sie über eine Mittelsfrau meiner Familie geschenkt. Ich glaube, er wollte uns helfen, weil wir nicht viel Geld hatten. Ich habe die Sachen getragen.

Sie wirken da viel moderater als Ihr Vater.

Ja? Mein Vater hat für die Gleichberechtigung gekämpft, für antiautoritäre Erziehung und gegen die Reste des autoritären Nazideutschlands. Ist das wirklich so revolutionär?

Ihre Eltern sprachen von sich selbst als von Revolutionären.

Und ich bin Evolutionär.

Sieht sich Ihre Mutter noch als Revolutionärin?

Ich glaube, sie sieht sich als Großmutter.

Was meinen Sie mit Evolutionär?

Ich bin der Ansicht, dass sich in Demokratien die Gesellschaft durch parlamentarische Prozesse verbessern lässt, auch wenn diese Prozesse langwierig sind. Zurzeit stört mich sehr, dass der amerikanische Geheimdienst uns abhört. Trotzdem finde ich es sinnlos, mit Terrorakten gegen so was vorzugehen.

Dutschke geht mit einem dreistufigen Verwarnsystem gegen Raucher vor. Er ist auch für die Gesundheitsvorsorge mit zuständig. In Århus’ Verwaltung darf während der Arbeitszeit, einschließlich der Pausen, nicht mehr geraucht werden. Da glaubt man die Rigorosität des Vaters zu erkennen. Genauso beim Pathos, mit dem er stellenweise sein Buch versehen hat. Während seine Mutter und sein Bruder wieder in Berlin leben, in Friedrichshain, möchte er dort begraben werden. Wie er schreibt: aus Verbundenheit zu Berlin und zum Vater.

Denken Sie wirklich schon über Ihre Beerdigung nach?

Nur als ich mich mit Rudi beschäftigte. Bis zu meinem Tod ist es hoffentlich noch lange hin.

Zum Abschied steht er da mit einer Banane und einen Apfel in der Hand. Vitaminreiche Wegzehrung für den Gast aus Berlin. Hosea Dutschke ist sehr pragmatisch, aber kein Mann der großen Worte.

„Ich bin halt ein Beamter“, sagt er.

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