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Spandau zu Füßen. Die weißen Wohnblocks am Horizont sehen aus wie Bergketten.

© Julia Prosinger

Hotelkolumne: In fremden Federn: Berlin, wie weit weg du bist!

Als Touristin in der eigenen Stadt: Select Hotel Spiegelturm, Spreewaldgurken in der Minibar, „Spandau heute“ auf dem Nachttisch. Ist Heimweh nicht das schönste Geschenk?

Von Julia Prosinger

Dass die Freiheit manchmal direkt neben dem Schlangengraben liegt, das hat einen das Leben schon gelehrt. Und deshalb biegt man jetzt furchtlos rechts ab, bevor es gleich hoch hinaufgeht, an der „Freiheit 5“, in den 14. Stock des Spiegelturms für eine Nacht, in der einem die Stadt, na gut, Spandau, zu Füßen liegt.

Außer Autohof an Autohof schlängelt sich „Am Schlangengraben“ zum Glück wenig. Reifen stapeln sich hinter Baucontainer, Busse warten bei MAN auf Wartung, Rohre lugen unter Gebrauchtwagen hervor, am Ende der Straße sitzt der Tüv. Salzsteine beleuchten die Spitzengardinen der wenigen Wohnhäuschen, und die Autos bremsen geduldig, wenn man den Schlangengraben quert. Spandau bei Berlin. Eine Metropole, denkt man, ist erst eine, wenn sie solche Ausläufer hat.

Eine Ecke weiter sitzen im „Kaiserhof“ einsame Männer über Schnitzeln Wiener Art. Auf den gepolsterten Stühlen liegen zusätzlich Kissen, die Kellnerin bringt den Verschnupften Ingwertee. Die Männer kommen aus der echten deutschen Provinz, erzählen sie, und schaffen für kurze Zeit bei einer der ansässigen Firmen: Siemens, Osram, Deutag. Auch sie übernachten dort, wo Freiheit und Schlangengraben ineinander übergehen.

Vorm Einschlafen noch in der „Spandau heute“ blättern, die auf dem Nachttisch liegt, dazu eine Spreewaldgurke aus der Minibar. Spandaus Spielplätze sind top, erfährt man, und dass es sich an Ostern in der Villa Schützenhof gut brunchen lässt. Heiraten ebenso, heißt es wenige Seiten weiter. Und wo rauschte laut Bericht gerade ein Reiseball? In der Villa Schützenhof. Berlin, wie weit weg du bist! Ist Heimweh nicht das schönste Geschenk, das einem die Fremde machen kann?

Die Sonne zieht die Spandauer ins Freie

Und dann dieser unglaubliche Blick vom Frühstückssaal! Sonnenaufgang hinterm Heizkraftwerk. Aus dem Qualm der Müllverbrennungsanlage schält sich verschlafen der Fernsehturm. Die weißen Wohnblocks am Horizont sehen aus wie Bergketten. Kaffee und Kladow, Havel und Hörnchen, Obstsalat und Olympiastadion, Zimtschnecke und Zitadelle.

Zweites Frühstück in der Altstadt. Auf dem Marktplatz tratscht der Postbote rauchend mit ein paar Trinkern. Die Sonne zieht die Spandauer ins Freie. Sie wissen hier noch nicht, dass fellbesetzte Kapuzen aus der Mode sind. Die Konditorei Fester wirbt mit ihrer Tradition (seit 1928!) und den vielen Etagen ihrer Torten (bis zu zehn!). Man bestellt in jedem Fall Filterkaffee. Und die Schrippe haben sie einem schon mal bis zur Hälfte aufgeschnitten. Auf dem Dorf helfen die Menschen einander noch.

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