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Der Hermannplatz ist das Herzstück von Kreuzkölln.

© imago/Klaus Martin Höfer

Hotelkolumne: In fremden Federn: Landung in Kreuzkölln

Zwischen Programmkino und Punksongs und polnischen Piroggen - als Tourist in der eigenen Stadt, diesmal am Hermannplatz.

Von Julia Prosinger

Drei Minuten vor Ladenschluss sitzt im Karstadt am Hermannplatz noch immer ein alter Mann, blättert in Reiseführern, die sich in seinem Schoß stapeln, und trällert dazu ein türkisches Lied. Er liest nicht, er betrachtet nur die Bilder von Wüsten, Meeren und Dschungeln weltweit, sanft streicht er über die Seiten. Hat da einer Heim- oder Fernweh? Mit seinem Holzstock sieht er jedenfalls nicht so aus, als stünde der große Aufbruch bevor.

Draußen prasselt der Regen, also am besten, es dem Alten gleichtun, hier verreisen – und sei es nur in Gedanken. Im Programmkino Moviemento kurz mal nach Havanna, danach eine vietnamesische Pho-Suppe bei Kotti Dang in der Lenaustraße schlürfen – hervorragende selbst gemachte Nudeln – und anschließend im mondänen Coda, Friedelstraße, die Desserts und Drinks auf Sterneniveau probieren, als käme man gerade aus Sydneys Oper.

Der Regen beruhigt sich, Landung in Kreuzkölln. Auf ein paar Bier ins Ori, wo der Wirt in eine Pause zwischen zwei Punksongs hineinsagt: „Ich bin ein Arbeiterkind, für uns gehört Saufen dazu, und wenn du mit 15 nicht deinen ersten Vollrausch überlebt hast, bist du irgendwie komisch.“

Frühstücken ist das neue Ausgehen geworden

Der Satz trägt einen nach Hause, ja, richtig gelesen, so fühlt sich das kleine Hotel am Hermannplatz an, 14 Zimmer auf zwei Etagen eines Altbaus, drunter die Allgemeinmedizinerin, drüber die Studenten-WG. So saubere, große Räume mit Stuck, Verzeihung, hätte man jetzt von außen nicht erwartet, schon gar nicht zu diesen niedrigen Preisen (ab 55 Euro) ... Ragner Kilian, der die Unterkunft seit mehr als 20 Jahren betreibt, lächelt bescheiden. Früher, sagt er, sei dies ein Stundenhotel gewesen, der Eingang müsste mal wieder renoviert werden, und, na ja, der Kottbusser Damm sei eben nicht gerade leise. Aber wer will schon ausschlafen in diesem Teil der Stadt.

Kreuzberger Nächte sind lang, Kreuzköllner Morgende noch länger. Frühstücken ist das neue Ausgehen geworden. Und man könnte gleich seine Reise fortsetzen: türkisch-neuseeländische Avocadobrote im Café Brick gegenüber, Zimtschnecken in der dänischen Bread Station am Maybachufer, polnische Piroggen im Katulki ... doch da trägt Herr Kilian im kleinen Frühstücksraum seines Mini-Hotels schon selbst gemachte Marmelade von seiner Mutter heran, gelbe Pflaumen, geerntet in der Datsche am Saatwinkler Damm. „Kaffee habe ich literweise“, sagt er, serviert Orangensaft und perfekt weiche Eier und steckt einem Gast zwei Plastikbeutel zu: damit er sich Proviantbrote schmiere, für die lange Reise. Egal, wo die heute hingeht.

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