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Thompson in seinem Arbeitszimmer.

© Paul Harris/Getty Images

Hunter S. Thompson: Dichtung und Wahnsinn

Vor zehn Jahren steckte sich der legendäre Schriftsteller Hunter S. Thompson eine Waffe in den Mund und drückte ab. Die Trauerfeier wurde so exzentrisch wie sein Leben.

Der Welthit „Spirit in the Sky“ lief in voller Lautstärke über riesige Boxen, dabei wurde das 47 Meter hohe Denkmal für Hunter S. Thompson enthüllt, ein langer Vorhang schwebte zu Boden. Das glänzende, mit Drahtseilen festgezurrte Monument war höher als die Freiheitsstatue. Obendrauf saß die Gonzo-Faust – mit zwei Daumen und einem grün leuchtenden Peyotekaktus in der Mitte. Unter den 400 geladenen Gästen in Aspen/Colorado befanden sich Bill Murray, John Kerry, Lyle Lovett, Harry Dean Stanton und Sean Penn.

Hollywoodstar Johnny Depp zündete die Feuerwerkskörper, in denen sich die Asche Thompsons befand, und jagte sie in die Luft. So hatte sich der Schriftsteller seine Trauerfeier gewünscht.

Bereits 30 Jahre davor hatte sich der Exzentriker von seinem Freund und Illustrator seiner Werke, Ralph Steadman, das Denkmal entwerfen lassen. Johnny Depp, der 1998 in dem Kinofilm „Angst und Schrecken in Las Vegas“ die Figur Thompsons spielte, sagte: „Fuck you, Hunter. You want a Gonzo Cannon? We’ll give you a Gonzo Cannon.“ Zwei bis drei Millionen Dollar ließ sich Depp diesen Abschiedsspaß kosten.

Depp war ein Bewunderer Thompsons: „Ich liebte ihn und wollte sicher gehen, dass sein letzter Wille erfüllt werden würde.“ In der Nähe der Owl Farm, in der der Autor gewohnt hatte, wurde ein kleiner Palast aufgebaut – mit einer Bühne im Las-Vegas-Stil der 70er. Den Eingang zierten Porträts der Schriftsteller, die Thompson verehrte: Hemingway, Faulkner, Conrad, Twain und Fitzgerald. In der Mitte stand eine Bar. Ralph Steadman las Briefe des Toten vor, Jann Wenner, der Ex-Chefredakteur des Blattes, für das Thompson lange arbeitete, bezeichnete ihn als „die DNA des Rolling Stone“. Und George McGovern, dessen Präsidentschaftswahlkampf für die Demokraten Thompson 1972 begleitet und über den er einen Bestseller geschrieben hatte, erinnerte an einen Mann, dem er ein tiefes Gefühl für Gerechtigkeit und Idealismus attestierte.

Dann sprach man den letzten Toast: „Der König ist tot. Lang lebe der König.“

Der Weg zum „König“, zu einem Autor, dessen Buch „Angst und Schrecken in Las Vegas“ als der große Drogenroman der amerikanischen Literatur gilt, ist für Thompson schwierig. Bereits mit 17 ist er ein jugendlicher Straftäter, „die Antwort von Louisville auf Billy the Kid, und nicht mal meine Freunde konnten sich vorstellen, dass ich älter als 20 werden würde“.

Kurz vor Abschluss der High School, 1955, wird Thompson von der Polizei festgenommen, zu Unrecht wegen Raubes angeklagt und zu 60 Tagen Jugendstrafe verurteilt, weil er bereits durch unerlaubten Besitz von Alkohol, Trunkenheit und Beschädigung fremden Eigentums auffällig geworden war. Er fliegt von der Schule, der Weg zu einer Eliteuni, den seine Freunde gehen, ist ihm versperrt. Als er entlassen wird, fährt er mit zwei Freunden in den schicken Vorort des Schulinspektors und wirft diesem mit 24 Bierflaschen sämtliche Fenster an der Vorderseite des Hauses ein.

Das geschah zu einer Zeit, als sich viele Heranwachsende gegen ihre Eltern zu wehren begannen. Gegen die moralisch rigiden Vorstellungen, die noch so waren, wie John Wayne sie im Film vertrat; Thompson beschrieb den Schauspieler später als „Hammerhai“, als „ultimativen Ausdruck für alles, was mit dem amerikanischen Traum falsch gelaufen ist“.

Rebellion ohne Grund? Von wegen.

Thompson in seinem Arbeitszimmer.
Thompson in seinem Arbeitszimmer.

© Paul Harris/Getty Images

Filme wie „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ mit James Dean, der seiner Nachkriegsgeneration ein Gesicht gab und zum Star wurde, oder Marlon Brando, der in „Der Wilde“ als Anführer einer Motorradgang die Einwohner einer Kleinstadt terrorisiert, verstanden die Jugendlichen nicht als Abschreckung; sie bewunderten die Rebellen. Bei Thompson wurde aus der „Rebellion ohne Grund“ der Wille, dem abgeschotteten Verein der reaktionären alten Männer, die in der Gesellschaft das Sagen hatten, die Hölle heiß zu machen.

Thompson flüchtete mit 19 zum Militär und wurde in der Eglin Air Force Base in Florida Sportredakteur beim „Command Courier“. Er entging nur knapp einer unehrenhaften Entlassung, siedelte nach New York über und bekam einen Job bei der Zeitschrift „Time“; allerdings nur als Bürobote, was er nicht aushielt. Er probierte es beim „Middletown Daily Record“, doch als er dort einen Süßigkeitenautomaten eintrat, wurde er rausgeworfen.

Diese Episode taucht in einem Briefwechsel zwischen Thompson und William Kennedy wieder auf, der für den Roman „Ironweed“ 20 Jahre später den Pulitzer-Preis bekommen sollte. Kennedy war damals Redaktionsleiter einer neuen Zeitung in Puerto Rico, des „San Juan Star“, und Thompson bewarb sich um eine freie Stelle: „Der Niedergang der amerikanischen Presse war schon lange abzusehen, und mir ist meine Zeit zu schade, um sie mit Anstrengungen zu vergeuden, die auf den ,Mann auf der Straße’ abzielen, mit dem täglichen Quantum an Klischees.“ Kennedy lehnte ab und schloss mit der Bemerkung, er würde sich wieder melden, sobald sie einen Süßigkeitenautomaten in der Redaktion hätten und jemand bräuchten, der ihn zertrümmert. Die Antwort kam prompt: „Ihr Brief war niedlich, mein Freund, und Ihre Interpretation meines Briefs wiederum ist bezeichnend für einen jener intellektuellen Kretins, die für den Niedergang der amerikanischen Presse verantwortlich sind. Glauben Sie aber bloß nicht, dass mich Ihre Absage daran hindern wird zu kommen, und wenn ich da bin, erinnern Sie mich daran, dass ich Ihnen die Zähne einschlage.“

Aus diesem Briefwechsel entstand eine lebenslange Freundschaft.

Mitte der 60er wohnte Thompson mit seiner Frau in San Francisco und versuchte immer noch, sich mit journalistischen Arbeiten das Leben zu finanzieren. Die Hells Angels machten Schlagzeilen, und die einzige Quelle, die die Presse benutzte, war der sogenannte Lynch-Report, ein Untersuchungsbericht des kalifornischen Generalstaatsanwalt Thomas C. Lynch, eine 15-seitige Auflistung übelster Gewalt und Brutalität. Thompson sprach mit einigen Hells Angels, überprüfte die Behauptungen des Berichts und veröffentlichte einen Artikel in der linken „Nation“. Er dämonisierte die Angels nicht einfach: „Sie sind völlig offen, sie sprechen zu- und übereinander mit einer Ehrlichkeit, die zivilisierte Leute nicht ertragen können.“ Als der Artikel erschien, bekam er mehr als ein Dutzend Angebote von Verlagen, die wahre Geschichte der Hells Angels zu schreiben.

Ein Jahr lang war er mit den Rockern unterwegs und freundete sich mit einigen an. Thompson schrieb eine sehr präzise Analyse und sparte nicht mit harter Kritik, weshalb das Buch von Sonny Barger, dem Chef der Angels, weltweit auf die schwarze Liste gesetzt wurde; noch 20 Jahre später bedrohten die Rocker einen deutschen Übersetzer.

Einem begeisterten 14-jährigen Jungen, der sein Buch gelesen hatte und sich sehnlich wünschte, möglichst schnell alt genug zu sein, um sich eine Harley kaufen und mit den Hells Angels herumziehen zu können, schrieb er: „Als ich selbst 14 war, war ich ein wilder kopfloser Rabauke, der eine Menge Ärger machte und die Welt am liebsten in Stücke reißen wollte – allein aus dem Grund, weil es so schien, dass diese Welt nicht recht zu mir passte … aber ich habe seitdem mindestens eine entscheidende Lektion gelernt. Und das ist die Idee, nach seinem eigenen Rhythmus zu leben – und nicht auf den Spuren zu wandeln, die andere hinterlassen haben.“

Zwar vermasselte Thompson seine Promotionstour für das Buch im Radio und TV, weil er häufig betrunken war und vor lauter Aufregung wirres Zeug redete, aber plötzlich war er bekannt, die Zeitungen standen ihm offen und in den aufregenden Jahren Ende der 60er schien alles möglich, aber auch alles auf der Kippe – denn nun begann die Ära Nixon.

Richard Nixon, den er gern mit Hitler verglich und für den „hinterhältigsten, bösartigsten Lügner mit der hässlichsten Familie in der Geschichte der Christenheit“ hielt, lernte er 1968 auf einer Wahlkampfveranstaltung kennen und bedauerte in einem Artikel zutiefst, dass er den „Scheißkerl“ nicht in die Luft gejagt hatte, als er neben ihm an der Gangway einer Maschine stand, die gerade mit Kerosin gefüllt wurde, während Thompson sich eine Zigarette anzünden wollte.

Er wollte Aspen in "Fat City" umtaufen

Thompson in seinem Arbeitszimmer.
Thompson in seinem Arbeitszimmer.

© Paul Harris/Getty Images

Später war er eine Woche lang in Chicago, als die Demokraten entschieden, wer gegen Nixon im Wahlkampf antreten sollte, und diese Woche war „viel schlimmer als der schlimmste Acid-Trip, von dem ich gerüchteweise gehört hatte“. Denn der Bürgermeister Richard J. Daly ließ Polizei und Militär mit extremer Brutalität gegen Demonstranten vorgehen, die gegen die Präsidentschaftskandidaten protestierten, weil diese nicht die Absicht hatten, das Militär aus Vietnam abzuziehen. In Thompson reifte die Überzeugung heran, „dass es für mich nicht mehr die geringste Möglichkeit gab, einen Waffenstillstand mit einer Nation aufrechtzuerhalten, die in der Lage war, eine bösartige Monstrosität wie Chicago auszubrüten und voller Stolz zu hätscheln.“

Der Konflikt kulminierte, und er politisierte Thompson. Er kandidierte in Aspen für das Amt des Sheriffs mit dem Versprechen, den Namen Aspen in „Fat City“ umzuwandeln, um es den „Geldschneidern, Immobilienhaien und sonstigen menschlichen Schakalen unmöglich zu machen, aus dem Namen Aspen Kapital zu schlagen.“ Und obwohl er keinen Hehl daraus machte, dass er Mescalin nahm, verlor er mit seiner „Freak Power Bewegung“ nur knapp.

Noch Mitte der 70er führte er ein „Leben auf der Überholspur“, aber dann waren die Zeiten vorbei, auf denen ein Autor wie er wie auf einer großen Welle vor San Francisco surfen konnte. Drogen und Alkohol, die ständigen Begleiter seiner Ausschweifungen, zeigten Wirkung. Doch immer noch war er beim Schreiben zu groben, schockierenden Scherzen aufgelegt.

Seinen Freund und Nachbarn Jack Nicholson besuchte er einmal in dessen Canyon und ließ von den Bergen herab über Lautsprecher die Aufnahme „Vom Todeskampf eines Schweins, das lebendig von Bären gefressen wird“ erklingen. Er richtete Suchscheinwerfer mit einer Million Watt auf das Haus und zündete einen Leuchtfallschirm, der das Tal 40 Sekunden lang so grell erleuchtete, dass jeder annehmen musste, „es handle sich um den ersten gleißenden Detonationsblitz einer mittelschweren Atombombenexplosion“.

Kein Wunder, dass sich Nicholson mit seiner Familie auf dem Anwesen verschanzte und dem an die Tür hämmernden Thompson nicht aufmachte, der als Geschenk das noch blutende Herz eines Wapitis zurückließ. Am nächsten Tag kam der Sheriff bei Thompson vorbei und warnte ihn vor einem Verrückten, der sich in der Gegend herumtreibe.

Frei erfunden? Wer weiß.

Ob er nun delirierende Prosa schrieb, beißende Kritik, präzise politische Analyse oder in seinen weit mehr als 20 000 Briefen die Adressaten manchmal wüst beschimpfte, seine Schriften sind stilistische Meisterwerke. „Thompson war eine Rock ’n’ Roll-Mischung aus Hemingway, F. Scott Fitzgerald und H. L. Mencken, eine Art wilder Mann der Literatur, der auf Speed und mit großer Anmaßung Amok lief, aber auch mit einer kontrollierten Anmut“, schrieb der Literaturprofessor und Herausgeber seiner Briefe, Douglas Brinkley. Thompson selbst nannte seine Art zu schreiben „Gonzo“.

Und er hatte einen Sinn für Gerechtigkeit, den George McGovern hervorhob; in seinen letzten Lebensjahren setzte sich Thompson für die fälschlicherweise wegen Polizistenmordes in Denver zu lebenslänglich verurteilte Lisl Auman ein, eine Unbekannte, von der niemand sonst Notiz nahm. Diese Wut über Ungerechtigkeit war auch Antrieb seines Schreibens, ohne dass seine Prosa darunter gelitten und ohne dass er seinen Humor dabei verloren hätte.

Doch irgendwann war der Spaß vorbei. Er war 67 und der Meinung, dass er bereits 17 Jahre zu lange gelebt hatte. Er litt nicht nur an seinem körperlichen Verfall, der ihn in den Rollstuhl zwang, sondern auch an Depressionen. Als er eines Abends versehentlich fast seine Frau erschoss und beide darüber in Streit gerieten, war es soweit. Am Morgen danach, am 20. Februar 2005, polierte Hunter S. Thompson seine 45er, las in seinem Lieblingsbuch „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad und telefonierte mit seiner Frau, die sich im Fitness-Club befand.

„Komm nach Hause, Anita, es ist wirklich alles okay“, waren die letzten Worte von Thompson, dann hörte seine Frau ein Klicken in der Leitung. Sie nahm an, die Verbindung sei unterbrochen.

Das Klicken jedoch kam von der Waffe, die er gerade durchlud. Er steckte sich den Lauf in den Mund und „machte allem ein Ende“, wie er 1964 über den Freitod Hemingways schrieb, der genauso wie letztlich auch Thompson am Versuch gescheitert war, „die Realität in den Griff zu bekommen, wie unerquicklich sie ihm auch erscheinen mochte“.

Der Autor ist Verleger der Edition Tiamat, in der einige Bücher von Hunter S. Thompson erschienen sind. Aktuell die Brief- und Textauswahl „Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten. Gonzo-Briefe 1958– 1976“. Zum zehnten Todestag des Schriftstellers stellt Klaus Bittermann am 19. Februar im Roten Salon der Volksbühne die „Gonzo-Briefe“ vor, die Schauspieler Sophie Rois und Axel Wandtke lesen daraus.

Klaus Bittermann

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