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Norbert Dickel spielte von 1986 bis 1990 für Borussia Dortmund.

© imago/Revierfoto

Interview mit Norbert Dickel: „Ich kann nur Borussia Dortmund“

Er war als Spieler der „Held von Berlin“ und ist seit 27 Jahren Stadionsprecher beim BVB. Nobbi Dickel über den Fußballgott und Matthias Sammers Küche.

Herr Dickel, warum humpeln Sie?

Es ist erst drei Monate her, dass ich ein komplett neues Kniegelenk bekommen habe. Ich hatte lange Angst vor der Operation. Wenn alles verheilt ist, soll ich erstmals schmerzfrei sein, nach 30 Jahren.

Seit dem 24. Juni 1989. Sie waren Mittelstürmer bei Borussia Dortmund, der Verein stand nach 23 Jahren ohne Titel im Pokalfinale. Sie verletzten sich kurz vorher am Knie, liefen trotzdem auf, schossen zwei Tore. Der BVB wurde Pokalsieger und Sie der „Held von Berlin“. Und außerdem Sportinvalide. War es das wert?

Die Verletzung und das Spiel haben mir auch das gegeben, was ich immer wollte: nämlich, beim Fußball zu bleiben. Andere Ex-Profis stehen heute mit nichts da. Damals zu spielen, war kein Fehler.

Sie haben sich für den Verein geopfert.

Ach. Wir dachten alle, ich würde in 14 Tagen wieder topfit sein und weiter Fußball spielen. Hat ja nicht so gut geklappt.

Nach Ihrer Karriere als Spieler wurden Sie Stadionsprecher beim BVB. Seit 27 Jahren sagen Sie an jedem Heimspieltag die Mannschaftsaufstellung durch, die Tore und die Auswechslungen. Nur zweimal haben Sie gefehlt. Was war da los?

Einmal war ich einfach krank, hatte Grippe. Das andere Mal war vor sieben oder acht Jahren. Ich hatte offenbar die Füße im Büro dermaßen komisch übereinandergeschlagen, dass der Knöchel dick wurde. Der Mannschaftsarzt hat mich punktiert, ich musste mich auf die Pritsche legen.

Was macht der BVB an so einem Tag?

Angemessen wäre es gewesen, das Spiel zu verschieben.

Opernsänger vermeiden scharfes Essen, dehnen ihre Gesichtsmuskeln und trinken viel Tee, um ihre Stimme zu pflegen. Welche Tricks nutzen Sie?

Ich habe einen befreundeten HNO-Arzt, der mir im Fall der Fälle ein Präparat besorgt, das die Stimme schnell fit macht. Ich weiß gar nicht, ob das noch erlaubt ist.

Ihr Name ist heute untrennbar verbunden mit Borussia Dortmund, der Verein wiederum mit dem Ruhrgebiet. Dort hat gerade die letzte Zeche geschlossen. Spüren Sie eine Veränderung in der Gegend?

Wir wandeln uns zur Dienstleisterregion. Hier gab es Hoesch, das Stahlwerk, da haben viele Leute gearbeitet. Dortmund war ja immer eher eine Stahlstadt, keine Zechenstadt. Da, wo früher das Werk stand, ist heute der Phoenixsee.

Haben Sie Angst, dass sich auch der BVB verändert?

Nicht Borussia Dortmund, sondern der Fußball an sich. Die 222 Millionen Euro für Neymar waren für nichts in der Welt gut. Dieses ewige Treiben – immer mehr, immer teurer, immer größer – finde ich bedenklich. Wir müssen aufpassen, dass die Traditionsvereine ihre Traditionen bewahren. Wir hatten zum Glück immer entscheidende Leute, denen das wichtig ist. Damit kein falscher Eindruck entsteht: Auch der BVB zahlt nicht mit Erdnüssen, aber wenn wir einen einzigen Spieler hätten, der, sagen wir, 60 Millionen verdienen würde – dann wäre das schwer zu vermitteln.

Sie standen dagegen nach Ihrer Knieverletzung kurz vor dem Ruin. Die Karriere war zu Ende, die Versicherung weigerte sich, zu zahlen.

Als Spieler hast du in der Spitze höchstens 300 000 Mark brutto im Jahr verdient. Heute kassieren das manche Topspieler in zwei Tagen. Ich hatte mir im Mai 1989 ein Haus gekauft, im Juni war das Finale, im Dezember habe ich meine aktive Karriere endgültig beendet. Keine Millionen, keinen Job mehr, ein Haus an der Backe. Ich habe angefangen, Antriebstrommeln für Fördergurtanlagen zu verkaufen. Ich weiß bis heute nicht so genau, was das ist. Danach habe ich jedenfalls bei einem Sportartikelhersteller gearbeitet und später ein Küchenstudio aufgemacht. Anfang der 90er hatte ich also drei Jobs in drei Jahren, von denen ich null Ahnung hatte.

Sie haben damals Ihrem früheren Fußballerkollegen Matthias Sammer die Küche eingerichtet. Hatte er besondere Anforderungen?

Ich glaube, Matthias Sammer hat sich mit der Küche nicht eine Minute beschäftigt. Das hat seine liebe Frau Karin gemacht.

„Wir haben vor dem Anpfiff einen schönen Brauch“

„Held von Berlin“. Norbert Dickel jubelt 1989 im Berliner Olympia mit dem DFB-Pokal.
„Held von Berlin“. Norbert Dickel jubelt 1989 im Berliner Olympia mit dem DFB-Pokal.

© imago/Laci Perenyi

Nick Hornby schrieb einmal: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“ Wie haben Sie sich verliebt?

Als Zehnjähriger, damals noch im Sauerland, wurde ich mal ausgewechselt. Das war das Schlimmste, was man mir antun konnte. Ich habe geheult und bin weggerannt. Ich habe so gerne Fußball gespielt, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Dann haben die mir irgendwann auch noch Geld dafür gegeben. Und zwar gar nicht so wenig. Total geil!

Zum Profifußball brachte Sie Heinz Slupek.

Der war Angestellter bei der Post. Im Sommer wickelte er nebenbei Fußball-Transfers ab. 1983 hatten wir zum ersten Mal Kontakt. Am 19. Dezember starb mein Vater. An dem Tag rief Heinz Slupek mich an, sagte mir, wie leid es ihm tue und dass er dafür sorgen werde, dass ich im Sommer einen Profivertrag bekomme. Ich dachte, er hat Drogen genommen, das geht schon irgendwann wieder weg. Ein paar Monate später habe ich beim 1. FC Köln für zwei Jahre unterschrieben.

Was war Ihr größtes Talent auf dem Platz?

Ich war kein begnadeter Techniker. 1984 wurde ich mit Icke Häßler gemeinsam Profi beim 1. FC Köln. Wir sollten den Ball hochhalten: Fuß, Oberschenkel, Kopf, Oberschenkel, Fuß. Immer im Kreis. Ich habe ständig neu angesetzt, war irgendwann bei fünf oder sechs Wiederholungen. Da hörte ich neben mir Icke zählen: 48, 49, 50. Aber ich wusste einen Ball anzunehmen und ins Tor zu schießen, deshalb war ich Mittelstürmer. Und ich habe mehr trainiert als andere.

Was wäre der Stürmer Norbert Dickel heute wert?

Damals habe ich 20 Saisontore in der Liga gemacht, damit wärst du heute vielleicht bei 30 Millionen. Und du kriegst ja mit mir noch einen geilen Typen dazu.

Einen Typen, der sich nicht nur Freunde macht. Sie kommentieren die Spiele des BVB live aus dem Stadion fürs Netradio, den Fan-Sender des Vereins. Dafür bekommen Sie immer mal wieder Ärger. 2011 mussten Sie 2500 Euro Strafe an den DFB zahlen. Sie hatten den Schiedsrichter Wolfgang Stark beschimpft mit den Worten „Lächerlich. Stark, du Blinder!“ und „Arschloch!“.

Mein Kollege Boris Rupert, mit dem ich gemeinsam kommentiere, setzte noch einen drauf. Deshalb wurde er zusätzlich für zwei Spiele gesperrt. Der Chefankläger des DFB lud uns nach Frankfurt in die Zentrale vor. BVB-Boss Aki Watzke saß auf der Fahrt dorthin neben mir im Auto und sagte zu uns: „Tut mir einen Gefallen: Seid einfach ruhig.“

Gegenspieler, Schiedsrichter – bei allen sind Sie für Ihre Radiosendung berüchtigt. Sie sagen Sachen wie „Mistbock“ und „Bauern-Dussel“, fordern „Doppelrot“. Wer ist Ihr Lieblingsgegner?

Die Rivalitäten haben sich verschoben. Der Konflikt mit den Schalkern regelt sich ja meist sportlich, wir spielen derzeit einfach deutlich weiter oben. Momentan geht es eher um die Bayern.

Vor den Heimspielen essen Sie an jedem Spieltag eine „Siegerwurst“. Wo gibt’s die?

Immer am Stand an der Nordtribüne. Dann kommt mein Freund Tom aus Kassel, wir bestellen eine Bratwurst, anschließend muss er wieder gehen. Er hat Stadionverbot, weil er Unglück bringt. Nur am letzten Spieltag darf er mit, wenn alles entschieden ist. Aber wir haben vor dem Anpfiff einen schönen Brauch, das Senf-Orakel. Das entscheidet, wie das Spiel ausgeht. Manchmal sind weitere Freunde dabei, wir essen unsere Wurst und machen ordentlich Senf und Ketchup drauf. Senfgelb steht natürlich für den BVB, Rot für den Gegner. Irgendwann platscht was auf den Boden. An den Flecken lesen wir das Ergebnis ab.

Und wenn es nur rot platscht?

Das passiert nicht, weil manche von uns keinen Ketchup nehmen.

Sie hatten früher mal eine eigene Currybude. Was macht denn eine gute Currysauce aus?

Die wichtigste Zutat bei der Sauce ist wirklich Cola oder Orangensaft. Da kriegt die so eine gewisse Säure. Ohne schmeckt’s nicht.

Der Ex-Dortmunder Kevin Großkreutz betreibt in der Stadt das Restaurant „Mit Schmackes“.

Es ist eine Kunst für sich, einfaches Essen gut zu machen. Das Schnitzel dort ist Bombe. Die Kneipe hat vorher nie funktioniert, so lange ich in Dortmund bin. Aber Kevin, der hat das hingekriegt. Alle lieben Kevin. In der Öffentlichkeit wurde er ja zuletzt nicht fair dargestellt. Vor einer Weile hat er mir mal seine Sicht auf all die Geschichten erzählt, die über ihn kursieren. Als es zum Beispiel hieß, er habe jemanden mit einem Döner beworfen. Wisst ihr, wo er den hingeschmissen hat? Direkt vor seine eigenen Füße! Der hat niemanden getroffen, das hat aber wohl gespritzt und der andere Typ hat direkt geschrien: Aua, aua!

„Es gibt kaum eine Stadt wie Dortmund“

In seinem Element. Dickel kommentiert die BVB-Spiele live aus dem Stadion fürs Netradio.
In seinem Element. Dickel kommentiert die BVB-Spiele live aus dem Stadion fürs Netradio.

© imago/Moritz Müller

Großkreutz hat die Skyline von Dortmund auf die Wade tätowiert und spielt heute trotzdem bei Uerdingen. Würden Sie, für sagen wir 100 Millionen Euro, zu einem anderen Verein wechseln?

Die Summe wäre angemessen. Aber ich kann nur Borussia Dortmund.

Sie sind begeisterter Golfer, haben den Verein „Gofus“ gegründet, die „Golf spielenden Fußballer“. Was ist so toll daran?

Man lernt Golf nie so ganz. Ich würde gern häufiger spielen, um besser zu werden. Mal schauen, wie es mit meinem neuen Knie klappt. Mein Handicap liegt bei 4,7. Bei 54 fängt man an, bei 4 geht es langsam in den Profibereich. Wenn ich den ersten Ball in die Wicken haue, kann ich die Golfrunde vergessen. Ich habe während meiner Reha damals den ganzen Tag mit anderen Oppas gespielt. Von denen habe ich all die Kleinigkeiten gelernt, wie man einen Ball unterm Baum weg spielt und so weiter. Du musst einen Schläger nehmen, den du normalerweise nicht für 30 Meter nimmst, sondern für 180. Damit darfst du dann aber nicht ganz so fest schlagen, damit der Ball flach bleibt.

Der BVB ist der einzige börsennotierte Fußballverein der Liga. 2017 machte ihn das buchstäblich zur Zielscheibe. Jemand verübte einen Anschlag auf den Mannschaftsbus, um dadurch den Aktienkurs in den Keller zu treiben. Wie haben Sie den Tag erlebt?

Das war ganz grausam. Als ich ins Stadion kam, war ja noch nichts. Dann kam die Info, dass etwas am Mannschaftshotel passiert sei. Später hieß es, das waren Böller. Aber niemand sprach davon, dass jemand verletzt worden sein könnte. Mit der Zeit wurde der Grad der Explosion in den Berichten immer größer. Da war klar, wir müssen irgendwas verkünden, weil der Bus nicht losfährt und das Spiel wahrscheinlich nicht stattfinden wird.

Auf der Südtribüne stehen 25 000 Zuschauer pro Spiel. Achtmal so viele, wie Hoffenheim Einwohner hat. Wie verhindert man da eine Massenpanik?

Indem du ruhig bleibst. Am schlimmsten wäre die Durchsage gewesen: „Liebe Fans, hier spricht die Polizei, bitte verlassen Sie das Stadion durch die vorgegebenen Ausgänge.“ Ich habe gar nicht aufgefordert, ruhig zu bleiben, sagte nur: Das Spiel wird verschoben, wir treffen uns morgen. Die vertraute Stimme war wichtig. Mir kam der Anschlag von Paris in den Sinn, damals ging es ja auch los mit einem Attentat am Stade de France.

Glauben Sie an Gott?

Ja. Aber ich bin kein regelmäßiger Kirchgänger.

Gibt es einen Gott und einen Fußballgott, oder ist das der gleiche?

Wenn ich kommentiere, spiele ich manchmal mit dem Motiv und sage: Wenn es einen Fußballgott gibt, lass uns bitte ein Tor schießen. Doch vollends überzeugt bin ich nicht mehr, seit schon Jürgen Kohler Fußballgott genannt wurde.

Für manche Menschen ist das Stadion ein Kirchenersatz. Wieso?

Da muss man die Uhr mal 60 Jahre zurückdrehen. Es gab wenige Dinge, an denen man sich festhalten konnte. Der gemeinsame Stadionbesuch war so ein Punkt. Das gilt vor allem fürs Ruhrgebiet. Es gibt kaum eine Stadt wie Dortmund, die mit einem Verein so leidet und feiert. Am Samstag hängt hier die Omma das Banner raus. Wie viele machen das wohl in Süddeutschland?

Wer war der größte BVB-Spieler aller Zeiten?

Wir hatten so viele gute. Michael Zorc sicherlich, weil er nie den Verein gewechselt hat, aber auch Andy Möller. Der hat alles gewonnen.

Haben Sie ihm den Wechsel zu Schalke verziehen?

Wir haben nach wie vor guten Kontakt.

Das deuten wir als Nein.

Stimmt.

Ihr Rezept, um einen Montag nach einer 0:4-Klatsche zu überstehen?

Da gehe ich in mein Büro und mache die Tür zu.

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