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Oxford-Ökonom Paul Collier kritisiert die herablassende Haltung der Metropolen-Bewohner gegenüber dem Rest des Landes.

© AFP/Shaun Curry

Interview mit Paul Collier: „Hätten Sie gern einen kandierten Apfel?“

Grundbesitzer müssen stärker besteuert werden, fordert Paul Collier. Der Ökonom über Bürgerrechte, Süßigkeiten und seine Jugend als Fleischersohn.

Von Anna Sauerbrey

Herr Collier, in Ihrem neuen Buch „Sozialer Kapitalismus!“ beschreiben Sie ein Auseinanderdriften von Arm und Reich, von Stadt und Land. Sie selbst stammen aus der Arbeiterstadt Sheffield. Wie sind Sie dort aufgewachsen?

Ich hatte das Glück, wunderbare Eltern zu haben. Keiner der beiden hatte selbst die Chance auf Bildung. Beide hatten die Schule im Alter von zwölf Jahren verlassen. Mein Vater war Fleischer. Er arbeitete hart. Aber irgendwie hat er es geschafft, an der Abendschule Philosophie zu studieren. Unsere Sonntagsfrühstücke – die einzige Zeit in der Woche, in der er frei hatte – gerieten so zu kleinen Philosophieseminaren. Es war eine glückliche Kindheit. Wir hatten nicht viel Geld, waren aber eine liebevolle Familie.

Wie haben Sie Sheffield in Erinnerung?

Als Gemeinschaft. Sheffield war ein stolzer Ort. Es war die Edelstahlstadt. Nicht einfach Stahl! Weltmarktführer in der Edelstahlproduktion! Schon bei dem Dichter Chaucer wird ein „Sheffield knife“ erwähnt – vor 700 Jahren. Aber kurz nachdem ich weggezogen war, 1967, wurde die Stadt schlicht zerstört. Haben Sie „The Full Monty“ gesehen? Ein großartiger Film über den Verlust der Arbeitsplätze in Sheffield – und über die Demütigung, die damit einherging.

Erinnern Sie sich an Zeichen des Wandels?

Das war kaum zu übersehen! Ein Verwandter putzte Toiletten, als er seine Arbeit in der Stahlindustrie verlor. Es war tragisch.

Was hat Sie außer Ihren Eltern in die Lage versetzt, Ihren Weg zu gehen?

Es gab einfach eine gute Schule, die nichts kostete. Sie wurde von Lehrern geführt, die ihre Bestimmung darin sahen, diese armen Kinder heil den Hügel des Wissens hinaufzubringen.

Haben Sie einmal in Betracht gezogen, die Metzgerei Ihres Vaters zu übernehmen?

Es wurde schon bald deutlich, dass das ein aussterbendes Gewerbe sein würde. Aber als ich klein war, sicher. Als ich vier war, hat man mich auf eine Kiste neben meinen Vater und meinen Großvater gestellt, und wir machten Würste. Ich durfte die Enden drehen. Da stand ich, stolz, und spürte: Ich habe jetzt Teil an dieser Sache. Später wurde mein Vater sehr krank, da habe ich zeitweise das Geschäft geführt. Ich habe das Handwerk gelernt. Meine Familie stammt aus Ernsbach in Baden-Württemberg. Mein Großvater, Karl Hellenschmidt, emigrierte Anfang des 20. Jahrhunderts nach Bradford.

Ihr jüngstes Buch ist Ihrer Cousine gewidmet, Sue. Ihr Leben ist sehr anders verlaufen als das Ihrige.

Wir sind am selben Tag geboren, aber als sie 14 Jahre alt war, ist ihr Vater plötzlich gestorben – ein ziemlich autoritärer Mann. Ihre Mutter war eine fantastische Frau, aber sie war der Rolle als alleinerziehende Mutter einer Heranwachsenden in den 60er Jahren nicht gewachsen. 1963 war gerade die Pille erfunden worden, die sexuelle Revolution begann. Das Leben meiner Cousine geriet aus den Fugen, sie wurde schon als Teenagerin Mutter.

Was wurde aus ihr?

Ihr Leben kam niemals ganz zurück in die Spur – mehr möchte ich dazu lieber nicht sagen. Wir stehen immer noch in engem Kontakt. Sie hat mir das Foto von uns beiden geschickt, das im Buch abgedruckt ist. Ich habe da etwas gesehen: Hier bin ich, mit Gottes Hilfe, ich, der ich unfassbar viel Glück hatte. Und sie hat so viel Unglück erlebt. Da ist es nicht weit zu dem Gedanken: Die Gesellschaft sollte bessere Sicherheitsnetze bereithalten.

Was sind die strukturellen Ursachen dafür, dass Ihre beiden Leben so unterschiedlich verlaufen sind?

Das dichte Netzwerk sozialer Verpflichtungen, das dafür sorgt, dass Menschen würdig leben, ist geschwächt. Das hat auf der Ebene der Gesellschaft dazu geführt, dass Sheffield eine „broken city“ geworden ist, eine kaputte Stadt. Und das hat sich auch im Leben meiner Cousine gezeigt. Wir müssen soziale Verpflichtungen wieder stärken.

Was wäre dazu nötig?

Ich nenne es „sozialen Maternalismus“. Es müsste eine Kette geben vom Baby, das mit einem Gehirn, aber ohne Geist geboren wird, bis zum jungen Erwachsenen, der einen produktiven Geist hat. In der Vorschulphase müssen wir Familien stärker unterstützen, es muss gute, kostenlose Kindergärten und Schulen und eine gute Berufsausbildung geben. Aber der britische Sozialstaat ist auf Kontrolle, nicht auf Hilfe ausgelegt. Und mit den Schulen ist es in Großbritannien wie mit allen anderen Dingen: Die guten sind Weltklasse, die schlechten unterirdisch.

„Was wir heute sehen, ist eine Art Opferkultur“

Pro-Brexit Demonstranten bei einer Kundgebung in London.
Pro-Brexit Demonstranten bei einer Kundgebung in London.

© Stefan Rousseau/PA Wire/dpa

Sie sagen, der Unterschied zwischen den Privilegierten und den schlechter Gestellten weitet sich, sowohl sozial als auch geografisch aus. Der Kluft zwischen der Peripherie und den Zentren wächst.

Ich mag diese Bezeichnungen eigentlich nicht, Peripherie und Zentrum – aber sinngemäß trifft das zu. London und der Südosten sind das „Zentrum“ und der Rest des Landes fristet ein Dasein als „Peripherie“ oder „Provinz“.

Was sind die Ursachen für diese Spaltung?

Um der zunehmenden Komplexität von Produktionsprozessen zu genügen, müssen wir sehr spezifische Fähigkeiten erlernen und viele sehr gut ausgebildete Menschen zusammenbringen. Das führt zur Spaltung, auch räumlich. Das gut ausgebildete Kind zieht irgendwann in die Metropole. Die aber ist voll von gut ausgebildeten Menschen, die alle sehr produktiv sind und untereinander ihre Produktivität verstärken. Die ärmeren Arbeiter verbleiben in der „Provinz“. Die Zentren ziehen alles Prestige an sich – und schauen dabei auf den Rest der Gesellschaft mit Geringschätzung herab. Es haben ja mehrheitlich die Regionen außerhalb Londons für den Brexit gestimmt. Der bekannte „Financial Times“-Kolumnist Janan Ganesh hat kurz danach einmal geschrieben, die Städter würden sich nun fühlen, als seien sie „shackled to a corpse“ – an eine Leiche gekettet. Was für eine verletzende Sprache! Er sieht diese Menschen offenbar nicht als Gleichrangige.

Die Menschen spüren das, Sie sprechen von einer „Meuterei gegen die Eliten“…

Wenn man 40 Jahre lang Menschen mit Herablassung behandelt, kommt es zur Meuterei.

Welche Form nimmt diese Meuterei an?

In Großbritannien drückte sie sich im Brexit aus. Dasselbe in den USA mit Trump.

Ein Referenzpunkt in Ihrem Buch sind die Jahre 1945 bis 1970. Sie argumentieren, dass der Kapitalismus in dieser Zeit halbwegs intakt war. Die Lohnunterschiede waren geringer, die Bessergestellten eher bereit, sich solidarisch zu zeigen und ihre Steuern zu zahlen. Seitdem hätten sich Ungleichheiten verstärkt. Diese Erzählung funktioniert aber nur, wenn man die Kluft rein ökonomisch misst. Was zum Beispiel die Ungleichheit der Geschlechter angeht, ist die Entwicklung andersherum verlaufen. Die Gesellschaft ist heute gerechter.

Ja, unbedingt. Es liegt mir fern, die Kultur dieser Zeit zu verteidigen. Natürlich hat es Verbesserungen gegeben, für die Frauen, aber auch, was den Rassismus angeht. Dennoch hat diese Bewegung in jüngster Zeit aus meiner Sicht zu einer Abnahme von Solidarität in der Gesellschaft beigetragen: Als die Frauenbewegung begann, war sie eine inklusive Bewegung. Frauen wollten Bürger sein – mit allen Rechten und Pflichten. Es war ein Kampf um Teilhabe. Was wir heute sehen, ist hingegen eine Art Opferkultur – das Einfordern des Rechts auf einen Opferstatus. Es sind oft nicht einmal die Benachteiligten selbst, die das einfordern. Es sind die Gebildeten in den Metropolen. Sie wollen als Heilige posieren, indem sie die Opfer retten. Aber ein Opfer hat nur Rechte, keine Verantwortung.

Das ist ein strittiger Punkt in Ihrem Buch. Sie sagen, dass wir heutzutage die Rechte von Minderheiten, von Bürgern überhaupt, überbetonen – und zu wenig über Pflichten sprechen.

Ja. Nicht Rechte, sondern Pflichten müssen Priorität haben. Ohne Verpflichtungen kann es Rechte nicht geben – und die Verpflichtungen sind die gesellschaftliche Herausforderung, nicht die Rechte. Rechte sind wie kandierte Äpfel vom Jahrmarkt. Hätten Sie gern einen kandierten Apfel? Natürlich! Das Schwierige ist, ihn bereitzustellen. Aber wir denken stets von den Rechten her. Das beginnt schon mit der Aufklärung: Der Mensch ist frei geboren.

Klingt doch gut!

Aber es ist lächerlich, wenn Sie darüber nachdenken. Sie sind nicht frei geboren, ich bin nicht frei geboren! Wir sind abhängig geboren. Wir überleben die ersten Jahre unseres Lebens überhaupt nur, weil es ein dichtes Netzwerk von Verpflichtungen gibt – und wenn wir älter werden, müssen wir dazu beitragen, dass das Netz tragfähig bleibt.

„Grundbesitzer verdienen eine Menge Geld in den Metropolen“

Der Aufstieg Londons zur Finanzmetropole wurde durch kollektive Entbehrung an anderen Orten ermöglicht, sagt Collier.
Der Aufstieg Londons zur Finanzmetropole wurde durch kollektive Entbehrung an anderen Orten ermöglicht, sagt Collier.

© imago/Mint Images

Ich sehe trotzdem nicht, warum Rechte Pflichten schwächen. Rechte sollen doch lediglich einen Minimalstandard garantieren.

Ja, aber wie funktioniert die Durchsetzung von Rechten? Wenn ein Kind droht, im See zu ertrinken, helfen wir ja nicht, weil das Kind ein Recht darauf hat, sondern weil es unseren tiefsten moralischen Impulsen entspricht. Um dieses intuitive Verpflichtungsgefühl sorge ich mich. Verpflichtungen funktionieren nicht nach dem Prinzip: Ich gebe dir einen Penny, und du musst mir deshalb dies und das geben. Sie funktionieren, weil es eine größere, abstrakte Gegenseitigkeit gibt, die wir eben nicht exakt nachrechnen. Es ist wie in einer Ehe: Wenn man anfängt, aufzurechnen, wer was gemacht hat und deshalb worauf ein Recht hat, ist man in kürzester Zeit geschieden. Die sogenannte Identitätspolitik, die immer mehr Rechte für einzelne benachteiligte Gruppen fordert, fragmentiert uns. Dabei ist doch die große politische Herausforderung, ein großes „Wir“ zu schaffen.

Sie schlagen als Lösung vor, Städte höher zu besteuern, um den Unterschied zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ auszugleichen …

Ja, zu meiner Freude hat sich gerade Bill Gates diesem Vorschlag angeschlossen. Meine Überlegung ist, dass eine Stadt wie London großen Profit daraus schlägt, dass sich hier Fähigkeiten und Bildung sammeln. Aber warum sind die Menschen dort so produktiv? Sie sind es, weil wir über Hunderte von Jahren all unsere nationale Anstrengung darauf verwandt haben, London zu dem zu machen, was es ist. Dort haben wir all unsere Bahn- und Straßenknotenpunkte errichtet, unsere internationalen Flughäfen gebaut, unsere Regierung angesiedelt. Ermöglicht wurde das durch kollektive Entbehrung an anderen Orten. Es ist also gerechtfertigt, wenn jetzt der Rest des Landes sagt: Wunderbar, dass ihr so produktiv seid. Aber ein bisschen was davon gehört auch uns. Wir müssen Orte wie Sheffield wieder produktiv machen.

Wie könnte das funktionieren?

Man kann das gut am Beispiel Edinburgh zeigen, die einzige Stadt in Großbritannien, die das geschafft hat. Dort arbeiten vier Akteure seit zehn Jahren zusammen, um die Stadt zukunftsfest zu machen: die Finanzindustrie, die Wirtschaft, die Regierung und die Universitäten. Vor zehn Jahren hatte die Stadt nur zwei IT-Firmen. Heute sind es 400, das größte IT-Cluster in Europa. Aber dazu müssen wir Großbritannien dezentralisieren, Kompetenzen aus London abziehen. Die Banken müssen wieder lokal Kredite vergeben können, die örtlichen Regierungen eigenständiger werden. Man könnte mit den Steuern aus den Metropolen Agenturen schaffen, die das fördern.

Aber würden höhere Steuern in den Metropolen nicht dazu führen, dass sie weniger attraktiv sind? Der arbeitsteilige Kapitalismus braucht die Städte.

Als Erstes müsste man die Grundbesitzer besteuern. Sie verdienen eine Menge Geld mit der Produktivität der Metropolen. Der erste Milliardär in Großbritannien war der Duke von Westminster. Er hat nicht besonders hart gearbeitet, er verdiente sein Geld damit, dass er große Besitzungen in London hatte und andere, die hart arbeiteten und für das Privileg zahlten, auf diesem Land leben zu dürfen. Ökonomen sprechen von Agglomerationsgewinnen – und die sollten wir besteuern. Aber natürlich müssen wir dabei vorsichtig vorgehen, Schritt für Schritt. Wir wollen ja nicht die Gans umbringen, sondern nur ihre Eier einsammeln.

Viele scheinen an eine Schritt-für-Schritt-Reform des Kapitalismus nicht mehr zu glauben und schlagen radikale Lösungen vor. In Berlin will eine Bürgerinitiative ein Referendum zur Enteignung großer Wohnungseigentümer. Werden graduelle Reformen bald nicht mehr akzeptiert?

Ich weiß es nicht. Wichtig wäre, dass die Politik das Problem anerkennt und sich klar zu dem Ziel bekennt, die Produktivität benachteiligter Regionen wieder zu erhöhen.

Warum lohnt es, den Kapitalismus zu retten?

Weil er sich in den 10 000 Jahren menschlicher Kultur als das einzige Wirtschaftssystem erwiesen hat, das in der Lage ist, den Lebensstandard der Menschen in der Breite massiv zu verbessern.

Sie möchten, dass Menschen wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit haben. Wo ist eigentlich Ihre Heimat?

Ich fühle mich als Bürger Großbritanniens, aber auch für Sheffield empfinde ich immer noch große Loyalität. Ich fühle mich deshalb verpflichtet, eines klarzumachen: Wie schlecht wir – die gebildeten Bewohner der Metropolen – uns gegenüber dem Rest des Landes verhalten haben.

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