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Italien: „Ich kämpfte gegen Vetternwirtschaft“

Schutzgeld, der „Duce“ am Kiosk und Berlusconis Töchter auf dem Vormarsch: Italien darf man trotz allem noch lieben, findet Lilli Gruber.

Lilli Gruber, 56, war die erste Anchorwoman des italienischen Fernsehens. 2004 wurde „Lilli la Rossa“ ins Europäische Parlament gewählt. Die Journalistin stammt aus Bozen und lebt mit ihrem Mann in Rom. In „Das Erbe“ notierte sie anhand der Tagebücher der Urgroßmutter ihre Südtiroler Familiengeschichte

Frau Gruber, ist Italien Silvio Berlusconi nun endlich los?

Se non vedo, non credo – solange ich es nicht sehe, glaub ich es nicht.

Man nennt Sie „Lilli la Rossa“, die rote Lilli. Nicht nur wegen Ihrer Haarfarbe, Sie sind auch für Ihre politische Kritik bekannt. Jetzt freuen Sie sich doch mal!

Berlusconi ist nur in einem Punkt berechenbar: Er ist ein großer Kämpfer. Er hat einfach viel zu viele Interessen, als dass er jetzt die Politik aufgeben würde. Er wird sicherlich versuchen, sie auch indirekt zu beeinflussen.

Es geht das Gerücht um, seine Tochter Marina könnte den Vorsitz in der Partei „Popolo della Libertà“ übernehmen.

Marina gilt als scheu, zurückhaltend, sie gibt nur Interviews, wenn sie den Vater im „Corriere della Sera“ verteidigen will. Doch die Älteste aus zweiter Ehe, Barbara Berlusconi, wäre eine gute Nachfolgerin. Sie ist ein großes Kommunikationstalent, das hat sie von ihrem Vater. Ihm wird’s wichtig sein, dass der Name Berlusconi wieder auf dem Wahlzettel steht.

Seit 1993 war Berlusconi vier Mal Premierminister. Ist Italien in dieser Zeit ein anderes Land geworden?

Er hat die Werteskala verändert. Wenn wir uns nur anschauen, was mit den Frauen passiert ist. Von mir aus soll er seine ganze Schar junger „Escorts“ um sich haben, das ist mir egal. Aber die Botschaft, dass, wenn man jung, hübsch und verfügbar ist, man alles erreichen kann, dass Kompetenz und Leistung zweitrangig sind, ist verheerend. Er hat den Italienern den Gedanken vermittelt, mit Geld könne man jeden kaufen. Schrecklich, wo in Italien Qualifikation eh schon nicht sehr ernst genommen wird. Das ist mit ein Grund, dass sich so viele in Berlusconi verliebt haben. Wir kennen einfach keine cultura delle regole: Zu viele Italiener sind Steuerhinterzieher, Gesetze legen sie als Empfehlungen aus. Ich kann mich erinnern, als ich frisch gewählte Europa-Parlamentarierin war …

… Sie gewannen 2004 haushoch gegen Berlusconi, der sich fürs Europaparlament hatte aufstellen lassen, während er noch Ministerpräsident war …

… da gab es gleich ums Eck an der Piazza Navona eine Bar. Ein kleiner Familienbetrieb, die kannten mich seit Jahren. Am Tag nach der Wahl fragt mich die Tochter, ob ich nicht ihrem Sohn helfen könne, einen Job zu finden, ich sei doch jetzt Politikerin. Das hat mich sehr geärgert: Ich habe in der Rai, dem staatlichen Fernsehen, genau gegen solche Vetternwirtschaft gekämpft, und dann fragt sie ausgerechnet mich?

Von 1982 bis 2007 haben Sie für die Rai gearbeitet. In den 80ern waren Sie die erste Frau, die die Abendnachrichten moderiert hat.

Ich habe jahrelang zusammen mit einigen Kollegen und der Journalisten-Gewerkschaft versucht, die politischen Parteien aus dem öffentlichen Fernsehen rauszukriegen. Wir wollten, dass Journalisten über Ausschreibung aufgenommen werden, nicht über das Parteibuch oder die Betten. Immerhin haben wir erreicht, dass 50 Prozent über Wettbewerb angestellt werden müssen. Auch wenn das in den Berlusconi-Jahren rückgängig gemacht wurde.

Für viele Italiener gehörten Sie quasi zur Familie.

Ich wurde in sehr kurzer Zeit sehr schnell bekannt, wir hatten bis zu zehn Millionen Zuschauer. Ich bekam Blumen per Post, Heiratsanträge, sogar mit Kontoauszug und Foto.

Paparazzi fotografierten Sie 1994 oben ohne. Sie gingen gerichtlich dagegen vor …

… und ich habe 80 Millionen Lire, etwa 40 000 Euro, erstritten. Das war ein Bonbon. Mir war es wichtig zu gewinnen, weil ich nicht ins Fernsehen gegangen bin, um berühmt zu werden, sondern um eine gute Journalistin zu sein.

2000 haben Sie einen französischen Kollegen geheiratet, genau dort, wo 100 Jahre zuvor Ihre Urgroßmutter geheiratet hat. In Südtirol.

Es war mir wichtig, für die Hochzeit nach Hause zurückzukehren. Mein Vater hat sich sehr gefreut, dass wir in unserem Familienhaus geheiratet haben. Das wunderschöne Hochzeitskleid war übrigens ein Geschenk von Giorgio Armani.

Ein guter Freund von Ihnen?

Ich liebe ihn, weil er als Erster Frauen in der Arbeitswelt gekleidet hat wie sich’s gehört: mit Hosen und Sakko.

In welcher Sprache war die Messe: Deutsch, wie in der Region üblich, oder Italienisch?

Ich glaube, auf Italienisch. Ich habe „oui“ gesagt und Jacques hat „sì“ gesagt.

Was Lilli Gruber über ihre Familie erzählt

Fehlt Ihnen manchmal ein deutsches Wort im Italienischen?

Heimat. Das ist nicht die patria, das wäre das Vaterland, nicht terra natìa, das Geburtsland. Auch nicht focolare domestico, das Zuhause.

Begrüßen Sie Ihre Mutter daheim in Südtirol eigentlich mit „Wie geht’s“ oder mit „Come stai“?

Natürlich frage ich sie, bei einem guten Glasl Wein, einem Blauburgunder aus meinem Heimatort Pinzon: „Wie geht’s?“ Wir Südtiroler sprechen zu Hause Deutsch. Ich gebe manchmal einen italienischen Brocken rein. Drum sagen die anderen: Du bist ja mittlerweile eine „Welsche“ – ein abfälliges Wort für Italiener. In den 60er und 70er Jahren hieß es bei meinen Cousinen immer: Dass ihr mir ja nicht mit einem Welschen daherkommt!

Die Gründe für diese Feindschaft findet man in Ihren Familienmemoiren „Das Erbe“.

Als ich das erste Mal das Tagebuch meiner Urgroßmutter Rosa Tiefenthaler gelesen habe, wollte ich ihre schwierige Geschichte festhalten. Früher ist mir das auf die Nerven gegangen, diese ganze Rhetorik über die armen Südtiroler, was die alles durchgemacht haben. Seit meinen Nachforschungen ist mir klarer geworden, wie schwer es war, plötzlich – gegen seinen Willen – einem anderen Land angegliedert zu werden. In Südtirol wirst du automatisch mit der Vergangenheit konfrontiert. Und gerade die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war sehr kontrovers.

Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte Südtirol zu Österreich, danach wurde es Italien zugesprochen. Mussolini ließ ab 1922 die deutsche Sprache verbieten.

Oft habe ich meine Großeltern gefragt: Wie konntet ihr antifaschistisch sein, aber nicht gegen Hitler? Die Antworten waren stets dieselben.

Und zwar?

Du kannst nicht verstehen, was das bedeutet, wenn man unter einem fremden Joch leben muss, verfolgt wird, plötzlich seine Muttersprache nicht mehr sprechen kann. Meine Großmutter Elsa hat ihr Leben lang gesagt: „Nicht um die Burg, ich lerne kein Italienisch!“ Später hat sie behauptet, sie habe einfach keine Begabung für Fremdsprachen. Dabei hat sie natürlich alles verstanden. Die Nazi-Thematik war ein Tabu – das ist es heute noch. Da machen viele ältere Menschen, die die Zeit miterlebt haben, einfach zu.

Ihre Großtante Hella wurde zur glühenden Kämpferin für alles Deutsche und arbeitete im Untergrund als Nationalsozialistin.

Hella Rizzoli wird bis heute in Südtirol als Heldin verehrt. Sie wurde in den 30er Jahren Aktivistin, reiste durch die Region. Sie organisierte Katakombenschulen, heimliche Klassen, wo Kinder Deutsch lernen konnten. Aus Sicherheitsgründen traf man sich bei anderen Familien. Die Lehrbücher, zum Teil aus Deutschland reingeschmuggelt, musste man notfalls ins Feuer werfen, wenn eine Kontrolle kam. Das alles bedeutete natürlich auch viel Freiheit für eine junge Frau. Hella hat jedoch einen hohen Preis für ihre Überzeugungen bezahlt: Sie wurde beschattet, verhaftet, war sechs Monate im Gefängnis und wurde zu fünf Jahren Verbannung in die Basilikata verurteilt.

Weil Sie sich zwischen zwei Übeln, dem „Duce“ und dem „Führer“, für Letzteren entschied.

Ich hätte sie gern gefragt, was sie an Hitler faszinierend fand, aber sie ist lange vor meiner Geburt gestorben. Auf beiden Seiten war die Propagandamaschine beinhart. Die Alten sagen heute: Wir wussten nicht, was Deutschland für eine Diktatur war. Dazu habe ich Friedl Volgger befragt, ein Lokalpolitiker nach dem Krieg …

… er war Mitbegründer der Südtiroler Volkspartei, die sich dafür einsetzte, die Region als autonom anzuerkennen …

… und 1939 gehörte er zu den 13 Prozent, die sich für Italien entschieden hatten, in jener Zeit, als die Südtiroler wählen durften, ob sie lieber nach Deutschland abwandern oder in Italien ohne abgesicherte Rechte bleiben wollten. Volgger hat zugegeben, dass er wie die anderen gehandelt hätte – wenn er nicht 1938 mit dem Fahrrad durch Deutschland gefahren wäre. Der junge Friedl war mit Geistlichen in Kontakt gekommen, die gegen Hitler waren und ihn warnten.

Was ihm in Südtirol niemand glaubte.

Wenige, die Gesellschaft war zu stark polarisiert. Obwohl eine überwältigende Mehrheit für Deutschland optiert hatte, wollten doch die wenigsten ihr Land verlassen. Viele Frauen waren strikt dagegen. Wir sind ja oft klüger als die Männer.

Zehntausende gingen doch ab 1940 nach Deutschland.

Menschen, die nichts zu verlieren hatten. Für sie war das Dritte Reich eine neue Chance. Rund 70 000 sind abgewandert, etwa 40 000 nach dem Krieg wieder zurückgekommen. Die Großgrundbesitzer haben es sich gut überlegt, ob sie ihr Land aufgeben. Sie haben einen Umzug mit allen Mitteln hinausgezögert. Nach dem 8. September 1943 war das sowieso kein Thema mehr. Hitler besetzte Italien, die Südtiroler begrüßten ihn mit Blumen. Man hoffte, er würde nun das Land retten und sie heim ins Reich holen. Lange galten wir in Italien deshalb als filonazi. Nicht nur weil hartnäckige Einheimische darauf beharrten, deutsch zu reden.

Haben Sie das je zu spüren bekommen?

Als ich Kind war, haben wir acht Jahre in Verona gelebt. Dietlinde, mit diesem Vornamen war ich schon die Fremde. Die Erziehung meiner Eltern war auch viel zu fortschrittlich für die 60er Jahre in Italien. Meine Freundinnen hätten nie mit dem Radl allein in die Schule oder zur Tanzstunde fahren dürfen. Mit 16 sind eine Freundin und ich alleine nach England gereist, um die Sprache zu lernen. Undenkbar in anderen Familien.

Was die Journalistin über die Aufarbeitung des Faschismus denkt

Sind Sie in jener Zeit nach Deutschland gefahren?

In Südtirol gab es eine große Verbundenheit mit dem geteilten Deutschland. Ich kann mich gut an die Erzählungen meiner Großmutter erinnern – von tragischen Familientrennungen. In meiner Familie wurde immer betont, wie schlimm die Kommunisten sind. Das war für uns Kinder eine Mahnung, wie grausam das sowjetische Regime ist.

Hat Sie das abgehalten, sich den Kommunisten Italiens zu nähern?

Ich war nie Kommunistin und habe nie ein Parteibuch besessen, aber die Kommunistische Partei in Italien war ganz anders, die kann man nicht mit der im Ostblock vergleichen. Der damalige Chef der Partei, Enrico Berlinguer, hat 1981 den strappo verkündet, die Abkehr von der Sowjetunion. In Italien konnte man jahrelang die Kommunisten wählen, ohne mit den Sowjets verglichen zu werden. Als ich noch in Südtirol ansässig war, habe ich meistens die Grünen gewählt. Weil sie sich für ein friedliches Zusammenleben zwischen Deutschen und Italienern einsetzten.

In Italien verkaufen die Zeitungskioske tatsächlich bis heute Kalender vom „Duce“.

Entsetzlich ist das! Was die Aufarbeitung des Faschismus angeht, können die Italiener etwas von den Deutschen lernen. Diesbezüglich herrscht in Italien eine viel zu große Toleranz.

Woran liegt das?

In erster Linie weil der Großteil der Italiener überzeugt ist, dass der Faschismus nicht so brutal wie der deutsche Nationalsozialismus war. Gerade in der Judenverfolgung. Zum anderen spricht man von einem typisch italienischen Phänomen des trasformismo.

Was heißt das?

In der Umgangssprache bedeutet das „Verwandlungskünstler“: Je nachdem, wie der Wind bläst, gehst du in die eine oder andere Richtung. Ein Italiener kann sehr schnell seine Meinung wechseln. Schon bald nach der Verkündung des Waffenstillstandes mit den Anglo-Amerikanern am 8. September 1943 war plötzlich kein Italiener mehr Faschist. Und in der Nachkriegszeit wollten alle schnell vergessen. Die Macht der Verdrängung!

In italienischen Fußballstadien werden schwarze Spieler ausgebuht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem verdrängten Faschismus und Rassismus?

Ich denke schon. Viele Jugendliche sind Andersdenkenden gegenüber sehr intolerant.

Nicht nur Jugendliche. Der Vizepräsident des Senats, Renato Calderoli, sagte öffentlich, er müsse immer an einen Orang-Utan denken, wenn er die schwarze Integrationsministerin sieht.

Das wäre in Deutschland undenkbar. Und müsste es bei uns auch sein. Wer das sagt, muss eine Minute später zurücktreten. Das hat aber wieder mit dieser italienischen Toleranz gegenüber der Intoleranz zu tun.

„Ineffizient, unorganisiert, unbequem und obendrein noch anmaßend“, so beschreibt ein kanadisches Pärchen in Ihrem Buch Italien. Hat es recht?

Dass Italien desorganisiert ist? Zum Teil natürlich, besonders im südlichen Italien. Glückliche Inseln, so nennen wir diese Ausnahmen, Inseln der Effizienz, wo Unternehmer an die Mafia keinen pizzo bezahlen, kein Schutzgeld. Und dabei ihr Leben riskieren. Es gibt immer wieder solche Helden. Sonst könnte Italien gar nicht überleben.

Wie anstrengend ist der römische Alltag?

Gerade erzählte mir eine Mitarbeiterin, sie habe vier Stunden bei Acea gewartet, Roms Stromgesellschaft. Vier Stunden, um einen neuen Stromzähler zu bekommen? Ob man das nicht online machen kann? Das würde dann zehn Mal so lange dauern, hat man ihr gesagt. Wenn man ein paar Tage auf Urlaub kommt, kann das alles recht lustig sein. Wenn man hier leben muss, weniger.

Wofür dürfen wir das Land dann noch lieben?

Gestern bin ich mit meinem Mann mit dem Mountainbike zum Sonnenuntergang durch den Park der Villa Borghese gefahren. Oberhalb der Piazza del Popolo haben wir haltgemacht. Von hier aus sieht man ganz Rom, den Petersdom, Piazza Venezia, den Gianicolo, die Spanische Treppe. Einfach wunderschön und einmalig.

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