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Er hat gut lachen. Jan Wagner hat nach dem Leipziger Buchpreis jetzt den Georg-Büchner-Preis gewonnen.

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Jan Wagner gewinnt Georg-Büchner-Preis: "Am liebsten schreibe ich in meinem alten Ohrensessel"

Jan Wagner hat den Georg-Büchner-Preis gewonnen. Wir haben mit ihm über Haus und Garten seiner Kindheit gesprochen, die ihm Inspiration sind, die Regentonne ebenso wie der Komposthaufen.

Dieses Protokoll erschien erstmals 2015, Jan Wagner hatte gerade als erster Lyriker den Leipziger Buchpreis gewonnen.

"Seit 20 Jahren wohne ich in Berlin, 15 davon in Neukölln. Ich fühle mich als in Hamburg geborener Berliner, würde mich aber nicht als Berliner Lyriker bezeichnen. Ich schreibe keine Berlin-Sonette wie Georg Heym, nicht mal Großstadtlyrik; ich könnte auch anderswo leben, tue es ja teilweise, und dort genau die gleichen Gedichte schreiben. Als Standort, vor allem als atmosphärischer Ruhepunkt aber ist Berlin sehr gut zum Schreiben. Man merkt, wenn man zurückkommt, wie sehr man die Stadt liebt.

Berlin bietet einen guten Nährboden für Dichter. Es wimmelt von Lyrikern, gerade in Neukölln. Schon in den 90ern gab es ein gutes Netzwerk, die Möglichkeit, sich mit anderen Dichtern in Cafés zu treffen, gemeinsam in Kneipen zu lesen oder auf Lesebühnen, dazu viele Zeitschriften, ich habe selbst eine herausgegeben. Dieser Austausch, die Selbstvergewisserung im Gespräch mit anderen Dichtern, die ganze Bandbreite an lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten wie unter einer Lupe zu sehen – das ist schon enorm wichtig. Gerade weil diese Szene zumindest am Anfang weniger auf Verlagsunterstützung bauen konnte, nur auf den eigenen Enthusiasmus und die eigenen Zeitschriften.

Im Moment lebe ich vor allem in München, als Stipendiat der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung. Meine Frau und ich pendeln beide, sitzen immer mit unseren Kalendern da und suchen nach der nächsten weißen Stelle. In Schwabing wohne ich in einer sehr jungen Gegend, aber die alten Schwabinger Orte findet man auch noch. Bei mir in der Straße gibt’s eine wunderbare Kneipe, den Schellingsalon, eine Mischung aus Billardkneipe und bayerischem Bierlokal. In den 20er Jahren war das eine Schachkneipe, in der auch Marcel Duchamp gespielt haben soll. Da gibt es Gestalten, die schon seit 100 Jahren dort sitzen müssen, großartige Originale, die ich auf der Straße selten sehe, die aber alle im Schellingsalon konserviert worden sind.

An einem Tag in Schwabing zu starten und dann in Neukölln herauszukommen, das ist sehr schön. Es sind ja zwei verschiedene Welten, das macht’s so aufregend. Ich fühle mich in Berlin schon sehr zu Hause, beim Berliner Humor geht mir das Herz auf. Nachdem ich das letzte Mal länger im Ausland war, erlebte ich als Erstes ein amerikanisches Touristenpärchen, das in den Bus einstieg und dem Fahrer treuherzig die nicht abgestempelte Fahrkarte hinhielt, der sie anblaffte: Wat denn, soll ick da jetzt reinbeißen oder wat? Der ganze Bus hat sich blendend amüsiert, es war sehr beglückend. Man muss es erkennen als das, was es doch auch ist, eine große Gewitztheit und Freundlichkeit.

Was uns fehlt in Neukölln, ist ein Garten. Ich bin zwischen Stadt und Land aufgewachsen, in Ahrensburg im Süden Schleswig-Holsteins, meine Eltern wohnen immer noch dort. Der Garten war mir schon als Kind wichtig. Es sind ja fast ikonische Dinge, die dort stehen. Der alte Pflaumenbaum, der hat für mich eine Magie. Oder der knorrige Apfelbaum vorm Küchenfenster: Wenn der umfällt und abgeholzt wird, vermisst man ihn schmerzlich.

Auch die Regentonne, der das Titel- Gedicht in meinem neuen Buch „Regentonnenvariationen“ gewidmet ist, verbinde ich mit der Kindheit. In jedem Garten gibt es diese magischen, dunklen und weniger besuchten Ecken – der Komposthaufen gehört ebenfalls dazu, mit seinem Duft, abgestanden und muffig, und seinem merkwürdigen Nachleben, wo die Dinge, die eben noch lebten, verrotten, wo alles so in sich hineinsinkt, eine Art Jenseits im Garten, ein Limbus. Das sind natürlich wunderbare Orte, wo man sich als Kind ranschleicht und denkt: Gott, was geschieht hier überhaupt? Wo man eigentlich reingreifen will, sich aber nicht traut, weil da irgendetwas Finsteres lauert und vor sich hinstinkt. Diesen Kindheitsgarten vergisst man, glaube ich, nie.

Die Gartenfantasien von Jan Wagner

Er hat gut lachen. Jan Wagner hat nach dem Leipziger Buchpreis jetzt den Georg-Büchner-Preis gewonnen.
Er hat gut lachen. Jan Wagner hat nach dem Leipziger Buchpreis jetzt den Georg-Büchner-Preis gewonnen.

© dpa

Es gibt viele Autoren, die in der Kindheit ihr Bildreservoir sehen, was man da erlebt und an Eindrücken bekommt, das bleibt ein Leben lang. All das schlummert lange in einem, und irgendwann kommt es raus. Wenn es reif genug ist, dass man darüber schreiben kann und muss.

Wie wahrscheinlich alle Berliner träumen wir von einer Datsche am See. Rasenmähen, Unkrautjäten – als Kind fand ich das furchtbar, aber heute erscheint es in anderem Licht. Rasenmähen durfte ich damals nicht, das hat mein Vater gemacht, ich musste das Gras zusammenharken, subalterne Tätigkeiten, die man als Kind gar nicht mag. Andere Dinge wie Johannisbeeren pflücken waren wunderschön. Das hat schon mythische Qualitäten, das hallt so lange nach, dass der Garten für immer verzaubert ist.

Ein Balkon ist kein Garten, aber wir haben ein paar Strauchtomaten, Rosmarin, gelegentlich Sauerampfer, Blumen natürlich. Alles, was Bienen lieben, weil wir Bienen und Hummeln lieben. Es ist schön, sie zu beobachten, zu sehen, wie die Hummel von Blüte zu Blüte torkelt, es sind ganz entzückende Wesen. Was dick ist und summt, hat sofort meine Sympathie.

Und dann die Spatzen! In München gibt’s weniger, in Hamburg auch kaum noch, die sind alle in Berlin. Keine großen Sänger, aber gerade deswegen einnehmend. Wir haben eine Spatzenhecke vor dem Haus. Ich weiß nicht, warum, aber es gibt in jeder Straße immer einen Baum oder eine Hecke, in der alle Spatzen sitzen. Die ganze Hecke tobt und schilpt, und plötzlich ist alles stumm und man weiß: Jetzt gucken einen 200 Spatzenaugen an und warten darauf, dass man weggeht. Dann fängt’s wieder an.

Am liebsten schreibe ich in meinem Berliner Arbeitszimmer, in meinem großen alten Ohrensessel. Ein richtiger Trumm, schwerer als ein Kleinwagen, trägt einen aber viel weiter. Ich bin ja nicht an allen Orten gewesen, über die ich schreibe. Ich reise gern, um neue Gegenden kennenzulernen, auch weil man so offen ist wie sonst kaum. Man ist sofort bereit, neue Bilder zu sehen, jeden kleinsten Eindruck wahrzunehmen. Auf Reisen stellt sich das Staunen wie von selbst ein. Aber in meinem Berliner Sessel kann ich fast genauso gut reisen und neue Gegenden im Kopf kennenlernen.

Kommt man an einen anderen Ort, hat man ja immer Angst, ob man da überhaupt schreiben kann. Ich habe schon an verschiedenen Orten als Stipendiat gelebt, auch ein Jahr in der Villa Massimo in Rom. Paradiesisch! Ich habe weniger Zeit am Schreibtisch verbracht als in Berlin, aber mehr produziert, das war eine Art magische Zeitverdoppelung. Ich bin über Märkte gegangen, in Museen und Restaurants, habe, glaube ich, drei Paar Schuhe durchgelaufen, die Annibale, ein famoser Schuster um die Ecke, repariert hat. Die Figuren, die man dort sieht! Ich glaube, in jedem italienischen Park muss es eine alte Dame geben, die die wilden Katzen füttert, und es wimmelt dort ja von Katzen. Mit solchen Leuten zu plaudern, ist berührend.

Oder in Heinrich Bölls Cottage in Irland: eher einsam, aber großartig zum Arbeiten. Der Wind und das Torffeuer, man kann übers Moor spazieren, sitzt an Bölls Schreibtisch und guckt runter auf die Bucht – spektakulär. Meist braucht man eine Eingewöhnungsphase, muss Orte einschreiben, sie gefügig machen, und hofft, dass sie sich dem eigenen Rhythmus anpassen. Das dauert zwei, drei Wochen, aber dann ging es eigentlich immer recht gut.

Als Lyriker ist es kaum möglich, wie ein Romancier zu sagen: Ich arbeite von acht bis zwölf und dann wieder von 13 bis 18 Uhr. Ich trage immer 12 oder 20 Gedichte – oder vielmehr Möglichkeiten von Gedichten – mit mir herum, mache alles handschriftlich und sammle sehr lange, lasse zu, dass etwas heranreift. Wenn es um ein Objekt geht, eine Pflanze oder ein Tier, versuche ich, so geduldig wie möglich zu sein und es, gerade sprachlich, von allen denkbaren Blickwinkeln zu betrachten, zu überlegen, was darin steckt, etwa in der Etymologie. Ich assoziiere sehr lange. Nichts ist schlimmer als Hast. Ich möchte möglichst lange unzufrieden bleiben, nicht zu schnell die Tür zuschlagen und die Möglichkeiten versäumen, die in Gedichten schlummern.

Beim Giersch zum Beispiel, dem das erste Gedicht im neuen Band gewidmet ist. Wir saßen in einer Runde von Freunden, lauter Kleingärtner, ich war der einzige Balkonbesitzer und konnte deshalb nicht wirklich mitreden. Alle jammerten und stöhnten und beklagten sich über den Giersch, weil sie mit ihm ständig zu kämpfen haben, und weil also das Wort Giersch immer wieder fiel, zu einer Art Klagegesumm wurde, merkte ich, was in dem Material drinsteckt, sah die Gier, die passenderweise im Giersch schon enthalten ist, und während ich dort saß und zuhörte, konnte ich mich ganz und gar auf den Sprachgiersch konzentrieren, darauf, was in dem Wort steckt, und im Grunde an Ort und Stelle schon anfangen zu sammeln und zu schreiben.

Von Berlin sehe ich dieses Jahr wenig, das ist ein Jammer. Ich hoffe allerdings, dass ich das junge Meisenpärchen auf unserem Balkon ausfliegen sehen werde."

Protokoll: Susanne Kippenberger

Das Gedicht „nagel“ entnahmen wir dem Band „Regentonnenvariationen“ (© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014), mit dem Jan Wagner, 43, für den Leipziger Buchpreis nominiert ist.

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