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Jared Leto: Meine Liebe zu Berlin

Im Grunewald fühlte er sich wie im Horrorfilm. Das war toll, sagt Jared Leto, Rockmusiker und Hollywoodstar. Hier seine Sicht auf die Stadt.

Wenn ich an Berlin denke, habe ich ein gespenstisches Bild im Kopf: das einer halb verfallenen Kirche, die gerade renoviert wird. Ich sehe mich mit den anderen beiden Musikern von Thirty Seconds to Mars, meinem Bruder Shannon und Tomo Milicevic, wie wir an einem Sonntagnachmittag vor zehn Jahren unser Hotel verlassen, durch die Straßen von Mitte spazieren und plötzlich vor dieser Kirche stehen.

Drumherum ist alles eingezäunt, wir finden aber ein Loch und quetschen uns durch. Niemand sieht uns, niemand bewacht die Baustelle. Wir gehen in die Kirche hinein, sie ist voller Tüten, Säcke und natürlich Dreck. Es staubt überall, wo wir hintreten. Langsam bahnen wir uns einen Weg zum Altar, als wir dahinter durchsichtige Plastiktüten entdecken.

Dutzende liegen da, sie sind prall gefüllt, wir können aus der Ferne nicht erkennen, womit. Wir gehen näher – und kapieren es dann: Es sind menschliche Überreste. Ich sehe einen Schädel, Knochen, entdecke noch ein paar Knochen, die offensichtlich nicht mehr in die Tüten hineingepasst haben und einfach auf dem Boden liegen. Gruselig! Wir sind auf einmal sehr froh, dass wir diesen Fund tagsüber gemacht haben.

Sofort stellen wir Spekulationen an. Was kann passiert sein? Waren das wirklich nur geöffnete Gräber, die für die Zeit der Restaurierung freigelegt wurden? Oder war das Dach der Kirche in früheren Zeiten eingestürzt und hatte diese Menschen unter sich begraben? Waren es Leute, die am Ende des Zweiten Weltkrieges in die Kirche geflüchtet waren, als ein Bombenangriff die Stadt erschütterte, und die den Angriff nicht überlebt hatten? Waren sie Verschüttete?

Die Stadt verführt zu solchen Spekulationen. Wir sind schließlich in Berlin. Jeder Amerikaner, der wie ich in den 80er Jahren ein Teenager war, mit Ronald Reagan als Präsidenten aufwuchs, hat von Berlin Bilder von Krieg und Verwüstung im Kopf. Schwarz-Weiß-Fotos, die wir in der Schule gesehen haben. Filmaufnahmen, die im Fernsehen liefen. Berlin war die Stadt, die am Ende des Krieges in Schutt und Asche lag.

Mit dieser Assoziation kam auch ich 2002 das erste Mal nach Berlin – und fand diese Kirche. Ich habe damals das erste Album meiner Band Thirty Seconds to Mars beworben, ich erinnere mich, wie ich im Auto vom Flughafen ins Hotel fuhr, wie ich an den Gebäuden hochsah und an vielen Wänden Graffiti entdeckte. In Amerika heißt das automatisch: Achtung, schlechtes Viertel! Ich fand das cool, mich kann so etwas nicht aus der Fassung bringen, ich bin in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, war aber immer von Künstlern umgeben. Und diese Reibung von Wirklichkeit und Kunst habe ich sofort in Berlin gespürt. So begann meine Liebe zu der Stadt.

Wenn ich in einer Metropole außerhalb der USA leben würde, dann würde meine Wahl auf Berlin fallen. Ich war in den vergangenen Jahren bestimmt ein Dutzend Mal hier. Dieses Jahr haben wir unsere neue Platte in Berlin vorgestellt, wir haben für unsere Tour in einem Studio in Pankow geprobt und in Mitte gewohnt. Zuerst hatte ich sogar die Idee, dass wir unser Basislager für die Europatour in Berlin einrichten und jeden Abend wieder hierher zurückfliegen. Das ließ sich leider logistisch nicht einrichten.

Ich bin in Louisiana aufgewachsen, meine Mutter hat meine Liebe zur Malerei immer unterstützt, obwohl wir so arm waren, dass wir von Essensmarken lebten. Ich habe als Teenager oft gedacht: Entweder werde ich Drogendealer oder Künstler. Dazwischen gab es nichts, das waren mein Yin und Yang. Ein bisschen von dieser kompromisslosen Haltung sehe ich in Berlin wieder.

Obwohl sich die Stadt seit meinem ersten Aufenthalt stark verändert hat. Es gibt viel mehr Restaurants als früher. Damals haben wir die Bars von außen kaum erkannt, heute sind sie offener, überall sitzen Menschen davor – und ich höre viel mehr Sprachen als noch vor zehn Jahren. Was ich wirklich auffallend finde: In Mitte und Prenzlauer Berg sehe ich überall Kinder. Ich habe noch nie so viele Kinderwagen auf einem Fleck gesehen. Geben Sie hier Viagra ins Trinkwasser?

In Los Angeles höre ich kaum Kinder, ich sehe kaum welche, weil sich alles in den Wohnungen, Häusern oder Autos abspielt. Nie gehen mal kleine Kinder auf dem Bürgersteig entlang oder spielen auf öffentlichen Plätzen. Das Kreischen der Kinder, das ist für mich der Klang Berlins – zusammen mit dem Schnurren der Straßenbahn, die durch Prenzlauer Berg fährt.

Bei meiner ersten Ankunft haben mich einige der Straßenzüge noch an New York in den 80er Jahren erinnert. Unser Hotel lag in einer Straße, in der sich ein Künstlerhaus befand, eine riesige Ruine, deren Wände die Künstler bemalt hatten. Es war das Tacheles, für mich der ultimative Ausdruck für das Berlin jener Zeit: eine Kommune in einem heruntergekommenen neoklassizistischen Gebäude.

Lebten alle Berliner so? Als ich das erste Mal Bekannte in ihrer Wohnung besuchte, wusste ich: Nein. Sie lebten in Lofts! Wohnungen, die vergleichsweise wenig kosteten. In den USA wären sie ein Vermögen wert gewesen. Heute sehe ich allein an den Fassaden, dass die Stadt teurer geworden sein muss. Neue Fenster sind eingesetzt worden, die Wände gestrichen. Es gibt mehr Vorhänge. Allerdings finde ich nach wie vor eine typische Eigenheit von Berliner Wohnungen: unverputzte Wände.

Der Geruch von Berlin steigt mir in die Nase: der von verbranntem Holz. Das liegt daran, dass ich oft in der Vorweihnachtszeit hier war. Es ist nicht die schönste Zeit des Jahres, um vier Uhr am Nachmittag wird es dunkel, es ist kalt – aber ich kann mich einschließen und ein paar Lieder schreiben. Für unser neues Album sind einige in der Stadt entstanden. „Hurricane“ zum Beispiel. Sie erzählen von einer bestimmten Atmosphäre, zu der mich Berlin inspiriert. Wie eine Muse kann das auch eine Stadt leisten, ohne dass ich das Lied deshalb „Alexanderplatz“ nennen muss.

So oft bin ich in Berlin gewesen, dass ich aufgehört habe, meine Aufenthalte zu zählen. In den Studios von Potsdam-Babelsberg habe ich „Mr. Nobody“ gedreht, ich bin mit meiner Band in der Arena aufgetreten und habe mir andere Musiker angesehen. Mal waren es kleine Konzerte im White Trash an der Schönhauser Allee, von Bands, deren Namen ich wieder vergessen habe, mal war es ein Auftritt von Björk oder Arcade Fire.

Selten habe ich Partys besucht, war in großen Nachtclubs, die jeder in Berlin so toll findet. Berghain? Fehlanzeige. Ich erinnere mich an eine Clubnacht, zu der wir vor ein paar Jahren gingen. Sie fand in einem leeren Bürogebäude statt, die Menschen tanzten zu elektronischer Musik. Ich glaube, länger als eine Viertelstunde war ich gar nicht da, es hat mir einen kleinen Einblick in das gegeben, was viele in der Stadt suchen.

Es ist ein Ort für Menschen, die einen Traum vom Leben haben, den sie woanders nicht erfüllen können. Deshalb fühlt sich die Stadt wie ein eigenständiges Land an und so verschieden von anderen Städten, die ich kenne.

Zum Beispiel von New York. In Manhattan können Sie als junger Kerl nicht einfach mal ein Restaurant oder einen Club aufmachen, vielleicht versuchen Sie es drüben auf der anderen Seite des East River in Brooklyn, und selbst das ist nicht einfach.

In Berlin gibt es Chancen, seine Ideen umzusetzen. Es wird schwieriger, solche Standorte zu finden, aber so weit ich höre, existieren sie noch: alte Lagerhäuser, wo man dunkle Plastikplanen an die Fenster klebt und eine Party veranstaltet. In New York kann man nicht mehr experimentieren, die Orte dafür fehlen, und die finanziellen Hürden liegen viel zu hoch. Vor ein paar Jahren habe ich ein paar Tage Urlaub in Berlin gemacht. Im Hotel „Lux 11“ in der Rosa-Luxemburg-Straße habe ich mir ein Appartement gemietet und bin jeden Tag spazieren gegangen. Ich habe das Restaurant „Monsieur Vuong“ entdeckt, und versuche seitdem, jedes Mal hinzugehen, wenn ich in Berlin bin. Ich habe mir die großen Museen auf der Museumsinsel angesehen, zeitgenössische Kunst im Hamburger Bahnhof und in den Galerien der Auguststraße. Ich habe das Deutsche Historische Museum Unter den Linden besucht, hatte jedoch das Gefühl, ich lerne mehr, wenn ich die Straßen in Mitte entlanggehe. Ich sah die alten Gemäuer, in denen Granatsplitter aus dem Zweiten Weltkrieg Löcher hinterlassen hatten. Ich habe mir das Denkmal auf dem Bebelplatz angesehen, das an die Bücherverbrennung erinnert. Dieses Loch im Boden, in das man durch eine Glasplatte hineinschaut, ich finde, das ist eine wunderbare Lösung, um dieser schrecklichen Ereignisse zu gedenken.

Ich habe versucht, die Gegenwart zu verstehen und bin am Wochenende zum Biomarkt auf den Kollwitzplatz gegangen. Diese Stände voller Brot-, Käse- und Wurstsorten. Wie liebevoll alles präsentiert wird, als wären es kostbare Luxusgüter. Ich bin mit der U-Bahn gefahren, um die Stadt zu erkunden. Am Anfang habe ich überhaupt nicht kapiert, dass ich bezahlen muss. Es gab keine Schranken wie in den USA. Ohne es zu wissen, bin ich schwarz gefahren. Erst als ich mit einem Freund in einen Zug einsteigen wollte, machte er mich darauf aufmerksam, dass wir vorher ein Ticket lösen müssten.

Ein anderes Mal wollte ich eine echte Berliner Erfahrung machen und habe mir im Mauerpark ein Rad gekauft. Eine blöde Idee, denn es war November, und am selben Tag begann es zu schneien. Trotzdem bin ich zum Flohmarkt gegangen, ich sah ein altes gebrauchtes Fahrrad, das mir gefiel, und bin stolz losgeradelt. Ein paar Straßen vom Park entfernt ging das Rad kaputt, es fiel fast auseinander. Sofort bin ich zurück zum Mauerpark, um den Verkäufer zu finden, aber er war natürlich längst weg.

Nachts gefällt es mir, durch Berlin zu joggen. Am liebsten das Flussufer entlang über die Museumsinsel, da ist es so herrlich ruhig. Die Kulisse ist filmreif. Und für eine Metropole ziemlich dunkel, auch wenn einige Gebäude beleuchtet sind. Das ist ein wenig gespenstisch, wie das erste Mal in Berlin – oder eine meiner Übernachtungen im Schlosshotel im Grunewald. Ich hatte das Gefühl, ich war der einzige Gast. Unten im Hotel gab es ein altes Schwimmbecken, jeden Abend ging ich hinunter und zog ein paar Bahnen. Auf dem Rückweg in mein Zimmer habe ich nie jemanden gesehen, ich ging die vereinsamten Gänge entlang und fühlte mich wie im Horrorfilm „Shining“. Toll!

Aufgezeichnet von Ulf Lippitz

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