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Christian Stückl, 58, leitet die Passionsspiele zum vierten Mal.

© pa/dpa

„Jesus war mir nicht vergönnt“: Wie Christian Stückl den Wahnsinn in Oberammergau organisiert

Ein Moslem als Jünger? Unbedingt! Christian Stückl, Leiter der Passionsspiele in Oberammergau über Leidenschaft, Tradition und Rebellion. Ein Interview.

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Christian Stückl, 58, leitet das Münchner Volkstheater und die Oberammergauer Passionsspiele, die ab dem 16. Mai 2020 für knapp fünf Monate stattfinden und das Leben in dem 5000-Einwohner-Ort bestimmen werden. Oberammergau lebt mit und von der Passion. Wie alle zehn Jahre werden Hauptdarsteller – immer doppelt besetzt – ihre Jobs oder ihr Studium unterbrechen, Kinder nach der Schule auf der Bühne stehen, Gastronomie und Hotellerie boomen. 23 Millionen kosten die Darstellergagen, acht kostet die Inszenierung, gut 20 bringt das Spektakel dem Ort dennoch ein, die „New York Times“ listete ihn gerade als einen seiner „places to go“ 2020.

Stückl, dessen Familie das örtliche Wirtshaus Rose betreibt, organisiert außerdem das jährliche Heimatsoundfestival und Theater zwischen den Passionen. Der gelernte Holzbildhauer inszenierte elf Jahre lang den Salzburger „Jedermann“ und 2006 die Eröffnungsfeier der Fußball-WM.

Das Gespräch findet in Stückls Atelier im 1930 erbauten Passionstheater statt. Zuvor hatte er über die Bühne und durch die Werkstätten geführt, wo gigantische Engelsflügel von Hand mit Federn beklebt werden und Tausende Ledersandalen lagern. Wie schon vor zehn Jahren hat Stückl Teile des Textes umgeschrieben, das Bühnenbild erneuern lassen, derzeit laufen die Proben. Fast drei Stunden erzählt er begeistert, am Ende wird er einen Aschenbecher vollgeraucht und einige Cappuccinos gestürzt haben. Manchmal klingelt das Telefon, Stückl nimmt Gratulationen entgegen. Er arbeitet nämlich immer – auch an seinem Geburtstag.

Herr Stückl, Sie inszenieren nun zum vierten Mal die Oberammergauer Passionsspiele, die nur alle zehn Jahre stattfinden und bei denen das ganze Dorf beteiligt ist.
Wer hier geboren ist oder seit 20 Jahren lebt, hat das Recht, mitzuspielen. Die ansässigen Kinder dürfen alle. 1990 hatte ich 1400 Erwachsene auf der Bühne, heute sind es 1800. Da muss man zusätzliche Volksszenen erfinden.

Bislang haben Sie mehr Frauen auf die Bühne gebracht, es wird Hebräisch gesungen, Muslime dürfen mitspielen. Welche Tradition brechen Sie diesmal?
Aktuell gibt’s ein Bürgerbegehren gegen mich, weil wir einen Teil des Theaterdachs verändern wollen und das einigen im Dorf nicht passt.

Es ist der Ort mit den zweitmeisten Bürgerbegehren in Bayern.
Und zu 80 Prozent geht’s ums Passionsspiel.

Sie sind in Oberammergau geboren und aufgewachsen, haben als Kind schon mitgemacht, leben mit der Passion. Welche Figur hätten Sie gern mal gespielt?
Jesus. Aber das war mir nicht vergönnt. Als 15-Jähriger war für mich klar: Mein Großvater war Kaiphas, der Hohepriester, der für Jesu Verurteilung verantwortlich war, mein Vater war Kaiphas. Ein Erbbauernhof, die Rolle krieg ich auch mal. Doch letztlich kreist die Geschichte immer um Jesus. Wir waren gerade mit den Hauptdarstellern in Jerusalem, die jüngste Mannschaft, die wir je hatten. Dort kann man ganz anders über Jesus nachdenken. Da sind zum Beispiel wahnsinnig viele Soldaten auf den Straßen. Wie zu Zeiten Jesu, als römische Soldaten patrouillierten. Wir gehen immer nach Yad Vashem, treffen Holocaustüberlebende. Und dann diskutieren wir tagelang.

Worüber?
Vor 20 Jahren haben meine Schauspieler dort noch theologische Fragen gestellt: Sind wir durch Jesus von unseren Sünden erlöst? Das ist den jungen Menschen heute völlig wurscht. Sie erinnert Jesus eher an Sophie Scholl. Dass da einer ganz gradlinig einer Idee hinterhergegangen ist, im Bewusstsein, dass er umgebracht werden könnte. Sie wollen wissen, was dieser Jesus für eine Botschaft hat.

Und was hat er für eine?
Wenn ich auf bibleserver.com „Flüchtlinge“ eingebe, merk ich, wie häufig das Wort in Altem und Neuem Testament steht. Oder Arme, Zöllner, Huren – Jesus ist am Rand der Gesellschaft ständig anwesend. Es gibt eine Szene, die mich gerade sehr interessiert, da sagt einer der Priester: Jesus, deine Jünger halten sich an nichts, ich habe einen beobachtet, er hat sich vor dem Essen die Hände nicht gewaschen. Da sagt Jesus sinngemäß: Nichts, was in euren Mund hinein geht, macht euch unrein. Es geht hinten raus und fällt in die Grube. Unrein macht euch, was aus eurem Mund herauskommt, eure bösen Wörter, eure bösen Gedanken.

Wie hat sich Ihr eigenes Jesusbild im Laufe der 33 Jahre als Passionsspielleiter verändert?
Als ich anfing, war mein Jesus ein lauter Revoluzzer, über die Jahrzehnte wurde er immer leiser und sozialer. Diesmal habe ich das Gefühl, der kleine Sozialarbeiter reicht nicht, er muss gegen die Art und Weise aufstehen, wie in Deutschland andere niedergemacht werden, gegen diese Verrohung der Sprache. Dass ein Gericht zunächst sagt, man darf Künast so beleidigen, darauf muss ich mit meinem Jesus reagieren.

1800 Oberammergauer haben 2020 ein Recht darauf, auf der Bühne zu stehen.
1800 Oberammergauer haben 2020 ein Recht darauf, auf der Bühne zu stehen.

© Passionsspiele Oberammergau

In dieser Szene der Spiele 2010 betritt Jesus Jerusalem
In dieser Szene der Spiele 2010 betritt Jesus Jerusalem.

© Passionsspiele 2020

Um die richtigen Darsteller zu finden, laufen Sie mit einem Castingblick durch Oberammergau.
Da vorn ist eine Eisdiele, ich saß da, telefonierte. Von links habe ich eine Stimme gehört, irgendwann habe ich mich umgedreht und gesagt: „Du hast a richtig gute Stimm’, geh mal mit ins Theater“. Das war der Céngiz Görür. Jetzt ist er Judas. Einen anderen habe ich aufgefordert, sich fünf Freunde auszusuchen, das sind die Kaiphas-Diener. Der erste, den er gewählt hat, war der Sohn von meinem größten Gegner hier. Total gut. So muss es kommen!

1634 wollten die Oberammergauer Gott mit den Spielen besänftigen, damit die Pest ausbleibt ...
… damals hat man nicht gewusst, wo diese großen Krankheiten herkommen, man hat sie als Zorn Gottes verstanden. Ich stelle mir Gott eh nicht als einen vor, der da droben mit nem Salzstreuer sitzt und straft. Als in den 80ern Aids aufkam, sagten die katholischen Priester, das sei die Strafe Gottes für die Verderbtheit der Homosexuellen. Da hab ich gedacht, jetzt geht das wieder los.

Sie haben permanent Streit mit irgendwem im Dorf. Ihre Stärke ist das Besänftigen nicht, oder?
Es wirkt vielleicht von außen so, als würd ich unbedingt immer rebellieren. Darum geht’s mir nicht. Ich bin aufgewachsen im Wirtshaus meiner Eltern, am Stammtisch. Meine Freunde hatten andere Dinge im Kopf, ich wollte ständig übers Passionsspiel diskutieren. Mit 15 hab ich meine erste Theatergruppe gegründet. Ich war Vortänzer im Trachtenverein, war bei der Blaskapelle, im Kirchenchor, überall da, wo es eine lange Tradition gibt. Und dabei habe ich gemerkt, dass mir manche Sachen einfach fremd waren.

Was denn?
Wir bekamen jedes Jahr Besuch von einer amerikanischen Familie mit ihrem Adoptivsohn. David war schwarz und mein Freund. Ich hab ihn mitgenommen zu einer Schuhplattlerprobe. Irgendeiner sagte: Was bringst einen Neger mit? Oder 1978, da war ich 16, sind drei Frauen vor Gericht, weil verheiratete Frauen im Passionsspiel nicht mitmachen durften. Ich dachte, was soll der Scheiß? Niemand fragt, ob der Jesus-Darsteller verheiratet ist!

Die Antisemitismen waren Ihnen auch fremd.
Der Antijudaismus in den Passionsspielen ist ein Problem seit dem Mittelalter. 1930 kommen Simone de Beauvoir und Sartre nach Oberammergau. Sie schreibt eine begeisterte Kritik. Gleichzeitig sitzen da Hitler und Goebbels drin und sind ebenfalls begeistert, weil man den Pilatus wie einen Fels „im wogenden Meer des jüdischen Abschaums“ sieht. Die Spiele wurden dann zur „reichswichtigen Sache“ erklärt, Goebbels übernahm das Marketing. Unser Bürgermeister und sein Bruder, der Spielleiter, waren gradlinige Parteigenossen. Nach dem „Dritten Reich“ hat man das „reichswichtig“ in der Schublade verschwinden lassen. Die katholische Kirche klärte ihr Verhältnis zum Judentum, aber die Antisemitismen blieben.

Warum waren die Oberammergauer so stur?
Die wollten einfach ihre Ruhe. Nach dem Krieg war Billy Wilder für die Entnazifizierung der Künstler zuständig, er sollte verhindern, dass Altnazis in der Ufa unterkommen. Der Oberammergauer Spielleiter hat Wilder seine Besetzung vorgelegt. Der wollte die Passion nicht auch noch überprüfen, weil sie nur ein Laienspiel ist. Ihm war aber klar, dass alle Hauptdarsteller mit Ausnahme von Judas 1934 strenge Parteigenossen gewesen waren. Er soll gesagt haben: „Tut mir einen Gefallen: Nehmt echte Nägel für euren Jesus. Verdient hat er’s!“

Wie ist es Ihnen gelungen, das zu verändern?
1970 gab es von zwei Organisationen, der Anti-Defamation League und dem Jewish Committee, einen Boykottaufruf. Viele Gäste, gerade aus Amerika, blieben weg. Zum Beispiel hatten die Priester bis dahin Hauben auf, die wirkten wie Hörner. Dann war Judas bei uns aus der Tradition raus gelb gekleidet. Judas, der böse Jude unter den christlichen Aposteln, die alle römisch angezogen waren. Dieser Konflikt Christus gegen Juden hat sich in der ganzen Darstellung gezeigt, Jesus als erster Christ, der mit Petrus seine neue Kirche aufbaut, und die Juden machen das zunichte. Bei uns in der Inszenierung ist Jesus immer mehr Jude. Jesus war Jude.

Ihre Familie lebt schon seit Generationen im Dorf. War die Vergangenheit Thema bei Ihnen daheim?
Ich merkte als kleiner Junge am Stammtisch: Der Opa will dem Thema aus dem Weg gehen – da hat’s mich besonders interessiert. So war ich mit 14 der Spezialist zum Thema Antijudaismus in der Passion. Mit 24 wurde ich zum Spielleiter gewählt, den Traditionalisten im Dorf war klar geworden: Wenn wir weitere zehn Jahre ins Land gehen lassen, läuft uns die Jugend weg. Früher stand in vielen Theaterkritiken: fad wie Oberammergau, seicht wie Oberammergau, öd wie Oberammergau.

Jungsein als Qualifikation?
Ich war damals schon Regieassistent an den Münchner Kammerspielen. Und man hatte das Gefühl, selbst wenn der Junge zu viel will, der Opa wird ihn schon bremsen.

Sie waren nicht zu bremsen!
Ich sollte ’86 die jüdischen Organisationen am erzbischöflichen Ordinariat in München treffen, und ein von der Kirche bestellter Theologe über meine Arbeit wachen. Aber man wollte ihnen gar keine Zugeständnisse machen! Die Rabbiner wurden immer wütender. Ich lud sie nach Oberammergau zum Kaffee – da war die Hölle los. Man hat mir vorgeworfen, ich sei der Totengräber des Dorfes. „Zieh Leine, sonst bekommst du nasse Beine“, stand auf dem Plakat, das man mir ans Haus hängte.

Inzwischen stehen Sie in regelmäßigem Austausch mit den jüdischen Organisationen, gerade waren wieder einige Rabbiner zu Besuch. Wie kann es sein, dass das Passionsspiel in Zeiten von erstarkendem Antisemitismus noch immer heikle Stellen enthält?
2000 Jahre Geschichte kann man nicht einfach umstürzen. Und die Rabbiner kommen nicht hierher, damit wir ein Kosher-Siegel erhalten. Wir diskutieren, wie man verfestigte Antisemitismen loswird. Wie kriegt man es hin, dass das Publikum in der Szene, wo 1000 Menschen rufen, „Kreuzige ihn!“, nicht denkt: Das ganze jüdische Volk schreit gegen Jesus. Vor meinem Volkstheater in München …

… dessen Intendant Sie seit 2002 sind …
… hat sich montags immer Pegida aufgebaut. Nix zu machen, Demonstrationsfreiheit. Dann bauten sich die Linken auf. Die Polizei musste dazwischen. An diese Situation will ich die Szene anlehnen.

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Finden Sie die Schauspieler fürs Volkstheater eigentlich ebenfalls auf der Straße?
Nein, aber oft geht es schnell. Brigitte Hobmeier hat auf der Bühne einmal in eine Quarktasche gebissen, ich habe mich kaputt gelacht. Manchmal leiden meine Berufsschauspieler unter mir, weil ich mit denen so umgehe wie mit meinen Laien – ich spiel wahnsinnig viel vor. Das mögen die nicht.

Dort haben Sie auch einen jungen Afghanen kennengelernt.
Ich habe Nabucco inszeniert, da kam drei Tage lang ein junger Mann vorbei, schaute zu. Ich sagte: Wer bist eigentlich? Er hat nur auf die Bühne gezeigt: „Schön!“ So gehört der Raouf seit drei Jahren zu unserer Familie, meine 80-jährigen Eltern haben ihm bei sich ein Apartment freigemacht. Und wie es hier im Dorf so ist, springt alles aufs Passionsspiel über. Da bekomme ich einen Brief von einem richtigen Traditionalisten, er möchte eine sofortige Aussage, ob Flüchtlinge mitspielen dürfen oder nicht. Die Antwort: Flüchtlinge werden behandelt wie jeder andere hier. Neulich sagt einer zu mir, kannst bitte den Raouf nicht in die Kneipe mitbringen, Flüchtlinge stinken. Da sag ich: Ich will dich im Passionstheater nicht sehen, leck mich am Arsch.

Sind Sie so dickfellig, oder tun Sie nur so?
Einer muss halt sagen, wo es lang geht. Sehen Sie hier, an meinem Computer ...

... eine Tabelle voller Zahlen.
Die Liste mit Spielberechtigten, jeder kriegt eine Nummer. Die Nullen stehen für die, die in letzter Zeit gestorben sind, die bleiben erstmal drin, so sind sie irgendwie noch dabei. Hier die 440er, das sind römische Soldaten, sehr begehrt, denn die dürfen sich die Haare schneiden.

Alle anderen müssen seit dem Erlass vom Vorjahr Haare und Bärte wachsen lassen. Im Dorf sieht man lauter zugewucherte Männer.
Bei jeder Entscheidung weiß man: Ein anderer ist jetzt sauer. Grad kam wieder einer reingerannt, der mich hier sitzen sah, du hast dem falschen Sohn eine Rolle im lebenden Bild gegeben! Der andere leidet so unter der Scheidung von meiner Frau, du musst das auffangen.

Und – fangen Sie es auf?
Ich kann es nicht. Weil sich dann der nächste meldet. Hier liegt gerade ein Foto von einem Bub auf dem Tisch, da habe ich mit dem Vater geredet: Dein Sohn ist 19 und kommt im Dorf nicht vor! Vielleicht komme ich zu viel vor, sagt der Vater. Ich habe auch den Kilian, meinen Assistenten, zu den Flüchtlingen geschickt, mach ihnen einen Vortrag, was das Passionsspiel ist. Hinterher haben sich alle gemeldet, jetzt spielen 15 schwarze Kinder mit. Wir waren im städtischen Kinderheim, in der Sozialwohnungssiedlung. Da wohnen 39 Kinder. Wir gehen von Haus zu Haus und erklären den Eltern, dass es doch schön ist, wenn alle Kinder mitmachen, auch ihres.

Welche Rolle spielt Gott für Sie im Leben?
Ich hatte eine Tante, die hat gemeint, am Ende ist der Deckel zu und bleibt zu. Am Tag, bevor sie gestorben ist, bittet sie meine Mutter: Hol den Pfarrer. Sicherheitshalber. Ich glaube an Gott, und ich mag das Bild von Adam und Eva. Der Mensch, in einen eigentlich paradiesischen Zustand geschmissen, sagt: Ich möchte selber vom Baum der Erkenntnis fressen. Gott sagt: Dann geh und tu. Er hat uns in die eigene Verantwortung entlassen.

Gehen Sie noch in die Kirche?
In meiner Position werde ich manchmal gezwungen dazu. In München war ich kürzlich bei der Beerdigung unserer Souffleuse. Da habe ich schnell gemerkt, keiner kennt mehr den katholischen Ritus. Wirklich fatal. Der Pfarrer sagt: „Der Herr sei mit Euch“, nur ich antworte: „Und mit Deinem Geiste.“ Hinterher fragten mich die anderen: Habt ihr das einstudiert? Ich war mal Chef der katholischen Jugend im Dorf und hab dem Pfarrer damals gesagt, wie der Gottesdienst zu feiern ist.

Das glauben wir sofort.
Wisst ihr, wie in der katholischen Kirche die Osternacht losgeht? Die Kirche ist ganz dunkel, die Osterkerzen werden angezündet. Der Priester singt in die totale Dunkelheit hinein: Lumen, Lumen Christi! Alle antworten: Deo gratias! Nachdem zwölf Kerzen für die Aposteln entzündet sind, breitet das Feuer sich aus. Da hab ich damals zum Pfarrer gesagt: Entschuldigung – die Notausgangsschilder – aus! Es ist totale Dunkelheit. Rein liturgisch, rein dramaturgisch, in die Dunkelheit fällt kein Licht! Es gibt keinen Notausgang! Notausgang ist kontraproduktiv!

Sie wären als Protestant nicht sonderlich geeignet.
Meine Oma war Protestantin. Als Kind bin ich mit ihr mal in die Kirche, dann heim zum Opa und hab gesagt: Danke, dass ich katholisch bin! Es ist so langweilig. Der Pfarrer hat nicht mal ein gescheites Gewand. Aber ich glaube, dass beide Kirchen die gleichen Probleme haben: Sie haben die Sprache verloren, wie sie an die Leut’ rankommen.

Sie sind Euphoriker, umarmen die Menschen, reden viel, schlafen wenig. Wie erholen Sie sich von allen Anstrengungen?
In der katholischen Kirche geht man davon aus, dass ein Priester sich berufen fühlt für seinen Job. Und das ist ein 24/7/365-Tage-Job. Ich mach den wahnsinnig gern. Ich kann fünf Stunden durchproben und merk plötzlich, die anderen haben keine Kraft mehr. Nur manchmal muss ich mich von der Dummheit der Leute erholen.

Die Federn für dieses Engelskostüm wurden einzeln aufgeklebt.
Die Federn für dieses Engelskostüm wurden einzeln aufgeklebt.

© Andreas Stückl/Oberammergau 2020

Christian Stückl verlegte das Spiel in den Abend, um die besondere Stimmung einfangen zu können.Im Saal haben 5000 Zuschauer Platz.
Christian Stückl verlegte das Spiel in den Abend, um die besondere Stimmung einfangen zu können. Im Saal haben 5000 Zuschauer Platz.

© Passionsspiele Oberammergau

Urlaub machen Sie in Indien, was finden Sie dort?
Vor Jahren war ich mit dem Goethe-Institut in Südindien, in einer kleinen Stadt,150 Kilometer von Bangalore entfernt, die haben eins der wenigen subventionierten Häuser des Landes, das Nationaltheater von Karnataka. Ich kam zu einer Theatergruppe in dieses Dorf und dachte: Ich bin zu Hause. Komisch. Jetzt glaub ich langsam doch an Wiedergeburt, ich war da schon mal!

Ähnelt es etwa Oberammergau?
Überhaupt nicht! Indien wäscht mir den Kopf. Es ist alles anders. In Deutschland hat sich der Wohnraumbedarf des Einzelnen in den letzten 30 Jahren verdreifacht. Da drunten leben sie auf so engem Raum! Geht auch. Oder arrangierte Hochzeiten: Find ich schrecklich. Meine Freundin Kamatschi findet: Ihr mit Eurer Liebesheirat! Ihr seid’s verliebt bis zum Tag der Hochzeit, dann wird’s Arbeit. Wie bei uns. Oder: In unserem deutschen Sozialsystem ist alles geregelt. Dort bin ich mit meinen Freunden unterwegs, und plötzlich tut’s Handy, und der Dhananjaya sagt, Christian, ich muss ins Krankenhaus, da braucht jemand meine Blutgruppe. Die haben das als App! Da kann man viel lernen.

Auch fürs Theater?
Ich würd dort am liebsten was Großes machen, wie das Passionsspiel, mit 1000 Indern. Es gibt einen Propheten, der im 12. Jahrhundert aufgetreten ist und innerhalb des Hinduismus den Monotheismus gepredigt hat, eine Art Jesus. Seit Modi an der Regierung ist, verändert sich das Klima. Brutal. Plötzlich streiten sich meine Freunde, ein Moslem und ein Hindu, über Isis. Ich rufe: Hört’s auf, hört’s auf! Der Modi bringt Euch auseinander! Dann bin ich ins Hotel und hab „Nathan der Weise“ gelesen. Spielen wir jetzt am Volkstheater. Früher dachte ich, das ist das langweiligste Stück der Welt. Es wurde die zweiterfolgreichste Produktion in meinem Haus.

In Oberammergau zählen die Einwohner in Passionen: Ist dein Kind vor oder nach der Passion geboren?
In Oberammergau zählen die Einwohner in Passionen: Ist dein Kind vor oder nach der Passion geboren?

© Stephan de Paly

Ganz Oberammergau lebt von der Passion, hier das sogenannte Pilatushaus.
Ganz Oberammergau lebt von der Passion, hier das sogenannte Pilatushaus.

© Passionsspiele2020

Für die Passion werden Tausende Kostüme handgeschneidert. Übertreiben Sie es nicht ein bisschen?
Wir müssen richtig arbeiten, dass wir das Haus voll kriegen. 50 Prozent unserer Gäste sind aus dem Ausland, viele evangelisch. Ich war in Amerika, in Südafrika und mache Werbung. Wenn wir uns nicht bewegen und ständig erzählen, was wir da Großes machen, vergessen uns die Leut’, der Zehnjahresrhythmus ist tödlich.

Herr Stückl, können Sie eigentlich Hochdeutsch?
Ich weiß nicht, warum ich das nie gelernt habe. Unter den Rabbinern, die jetzt zu Besuch waren, gab’s einen, Rabbiner David aus Pittsburgh, der ist 70 oder so. Er sprach Jiddisch: „Ham wir ein scheenen Tag.“ Und: „Das Leben isch a feine Sach.“ Ich hab lachen müssen, weil seine Sprache so nah an meiner ist.

Sie haben Ihren ersten Wohnsitz immer in Oberammergau gelassen. Können Sie mit dem Begriff Heimat was anfangen?
Schwierig. Aber ich merk, was Volksmusik in mir auslöst. Oder die Gerüche am Land. Der Frühling, der Sommer, das riechst du in der Stadt nicht. Ich fühl mich da wahnsinnig verbunden. Trotzdem ist der Begriff lustig. Letzthin bin ich von der Polizei aufgehalten worden. Personenkontrolle. Ein 25-jähriger Depp, meinen Pass in der Hand, fragt: Welcher Landsmannschaft gehören Sie an? Ich hab gesagt: Entschuldigung, Sie haben meinen Pass in der Hand. Er wieder: Wollen Sie mich nicht verstehen? Ich irgendwann: Ja, Deutscher, Bayer! Da hat er gesagt: Aber reinrassig auch nicht, oder? Und ich: Ich bin doch kein Yorkshire Terrier! Bei uns ist die Römerstraß’ vorbeigegangen, kann schon sein, dass sich da irgendwann einer bei uns eingemischt hat.

Viele Ihrer Mitarbeiter hier sind auch am Volkstheater. Vetternwirtschaft?
Könnte man sagen. Ich empfinde es nicht als solche. Der Carsten hat bei mir angefangen, Theater zu spielen, ist heute technischer Leiter hier. Fredi, der Jesus spielt, macht mit, seit er zehn ist und wurde später mein Pressesprecher. Dieses Mal spielen seine beiden kleinen Söhne mit. Nur seine Frau fühlt sich ausgeschlossen, sie wohnt noch keine 20 Jahre hier. Und Abdullah durfte nicht mitmachen von seinem Vater aus. Da bin ich hin und hab gesagt: Ich brauch ihn. Ich find, dass auch türkische Kinder mitspielen dürfen. Nach dem dritten Gespräch hat sein Vater zugestimmt. Abdullah hat mich immer beobachtet und wollte deshalb Regisseur werden. Später ist er bei mir Assistent geworden, und jetzt ist er zweiter Passionsspielleiter. Vielleicht schafft er es, als Muslim, in ein paar Jahren mein Nachfolger zu werden.

Sie haben mal gesagt, Sie könnten nicht schlafen, wenn das Passionsspiel ohne Sie stattfände. Wollen Sie ewig weitermachen?
Über was lacht Gott? Über Planung. Ich plan nicht, was in zehn Jahren ist.

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