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Aus der gynäkologischen Abteilung machte die Wehrmacht ein Reservelazarett für verwundete Frontkämpfer.

© Herbert Sonnenfeld/Sammlung Jüdisches Museum Berlin

Jüdisches Krankenhaus: Unter Feinden: Die Rettungsstation im Wedding

Eine Klinik versorgt bis Kriegsende 1945 jüdische Patienten, mitten in Berlin. Der kleine Klaus Zwilsky spielt dort Verstecken mit der Gestapo – und überlebt.

Die Kerzenflammen flackern, als die Tür zum Keller des Krankenhauses aufgeht. Schwere Stiefel setzen auf der Treppe auf. Es erscheint ein Soldat mit Maschinengewehr. Seine Kameraden, die folgen, stützen einen Verwundeten; auf Russisch verlangen sie nach einem Arzt. Hunderte Menschen kauern im Halbdunkel des Kellers, einer von ihnen versucht zu erklären, dass alle im Raum Juden sind. Der Soldat schaut ihn ungläubig an. In gebrochenem Deutsch erwidert er: „Nichts Juden. Juden kaputt.“

Es ist der 24. April 1945. Berlin-Wedding.

Der zwölfjährige Klaus Zwilsky beobachtet die Szene aus dem hinteren Teil des Kellers. Sofort ahnt er, dass die Soldaten „unsere Retter“ sind, wie er heute sagt. Die Ankunft der sowjetischen Armee bedeutet die Niederlage der Nazis. Wie rund 800 andere Juden haben Zwilsky und seine Eltern im Jüdischen Krankenhaus, mitten in der Reichshauptstadt, die Jahre des Nationalsozialismus und den Holocaust überlebt.

Zwilsky, 84, ist einer der letzten Zeitzeugen dieser unglaublichen Geschichte. Er wohnt mittlerweile in New Jersey. „Sie müssen entschuldigen“, sagt er am Telefon. „Meine Erinnerungen verblassen manchmal.“ Seine Stimme klingt fast jugendlich, voller Witz und Energie. Sein Deutsch ist trotz Jahrzehnten in Amerika geschmeidig. Ob er wohl noch dieses schelmische Lächeln hat wie auf dem Foto von 1946?

Mit der „Machtergreifung“ der Nazis muss das Hospital Schikanen hinnehmen

Die letzten zehn Tage des Kriegs, daran erinnert sich Zwilsky gut, hat er mit den anderen im Keller gehaust. Fast täglich starben Patienten in ihren Betten, Medikamente gab es kaum noch. Klaus Zwilskys Vater half, die Leichen zwischen Schusswechseln im Hof zu verscharren. Drinnen aßen sie wässrige Suppe aus einem großen Kessel und lauschten dem Trommelfeuer, das immer näher kam. Ängstlich waren sie – und hoffnungsvoll.

In der Iranischen Straße. Blick auf das Hauptgebäude, Mitte der 30er Jahre. Die Klinik wurde 1914 von der jüdischen Gemeinde errichtet.
In der Iranischen Straße. Blick auf das Hauptgebäude, Mitte der 30er Jahre. Die Klinik wurde 1914 von der jüdischen Gemeinde errichtet.

© Herbert Sonnenfeld/Sammlung Jüdisches Museum Berlin

Warum konnten in dem Krankenhaus bis zum Schluss Verfolgte Zuflucht finden, während überall im Reich jüdische Einrichtungen geschlossen und Juden ermordet wurden – und obwohl Berlin bereits 1943 als „judenfrei“ erklärt worden war?

Rückblende ins Jahr 1933. Sofort mit der „Machtergreifung“ der Nazis muss auch das Hospital an der Iranischen Straße Schikanen hinnehmen. Kassenpatienten dürfen nicht mehr behandelt werden, ab Oktober 1938 auch keine Nicht-Juden mehr, was vorher gang und gäbe war. Zugleich ist das Haus Zufluchtsort für jüdische Ärzte, einige von ihnen renommiert, die nach und nach aus nicht-jüdischen Häusern verdrängt werden; sie finden hier eine neue Beschäftigung. Es entsteht ein reger wissenschaftlicher Austausch, der an den Ruf als „Kleine Charité“ anknüpft, den sich das von der Jüdischen Gemeinde 1914 erbaute Krankenhaus erarbeitet hatte.

Selbst in der Reichspogromnacht 1938 greifen die Nazis die Klinik nicht an. Patienten mit Schusswunden und Knochenbrüchen werden eingeliefert – und Wochen später auch Schwerkranke, die im KZ Sachsenhausen misshandelt wurden. Sie haben riesige eitrige Wunden.

Die Behörden ziehen Zwilskys Mutter zur Zwangsarbeit bei Siemens ein

Der sechsjährige Klaus Zwilsky lebt zu diesem Zeitpunkt in der Klopstockstraße in Tiergarten. Mit seiner Mutter Ruth besucht er häufig den Zoo, noch für den Sommer 1937 haben sie eine Saisonkarte. „Da gab es einen kleinen Sandstrand, an dem ich gern gespielt habe“, erinnert sich Zwilsky. Er sagt, er habe die Karte bis heute aufgehoben.

Dann ziehen die Behörden Zwilskys Mutter zur Zwangsarbeit bei Siemens ein, sein Vater verliert 1939 seine Anstellung als Apotheker. Bald darauf erhält er immerhin einen Job bei der Gesundheitsverwaltung der Jüdischen Gemeinde. So kommt er auch ins Krankenhaus, in das die Verwaltung verlegt wird.

Fast täglich werden nun jüdische Suizidopfer eingeliefert

Scheinbare Normalität. Zwilsky bei seiner Einschulung 1938.
Scheinbare Normalität. Zwilsky bei seiner Einschulung 1938.

© Herbert Sonnenfeld/Sammlung Jüdisches Museum Berlin

Die Familie kann eine kleine Wohnung auf dem Gelände beziehen. Klaus muss dem Gärtner helfen, die Rasenflächen im Krankenhaushof in einen Kohlgarten zu verwandeln, um Patienten und Ärzte zu versorgen. Seit Kriegsbeginn ist die Lage schwieriger geworden. Gestapo-Männer haben die Stationen geplündert, Matratzen, Decken und medizinisches Gerät mitgenommen. Die Gestapo hat schon 1938 eine Polizeistation in der Klinik eingerichtet, auf der sie Gefangene in Schutzhaft hält. 1942 folgt die Wehrmacht. Aus Gynäkologie, Schwesternwohnheim und Infektionshaus macht die deutsche Armee ein Reservelazarett für verwundete Frontkämpfer.

Der Krankenhausbetrieb läuft weiter, obwohl es zunehmend an Personal mangelt. Denn die Ärzte, die geblieben sind, statt zu emigrieren, sind vor Verfolgung nicht mehr sicher. Mehrere werden deportiert, darunter 1942 der renommierte Internist Hermann Strauß, der in Theresienstadt Mitglied des Ältestenrats wird und dort stirbt. Fast täglich werden nun jüdische Suizidopfer eingeliefert, die sich aus Angst vor der angekündigten Deportation mit Schlafmitteln das Leben nehmen wollen, wie Martha Liebermann, die Frau von Max Liebermann, die am 10. März 1943 an einer Überdosis Veronal stirbt. „Es waren so viele, wir legten sie ins Badehaus, weil wir gar keinen Platz mehr hatten“, berichtet eine Krankenschwester später. „Und dann machten wir Magenspülungen, aber ein Großteil war schon tot.“

Die Nazis übertragen den Ärzten und Schwestern des Krankenhauses perfide Aufgaben. So müssen sie die Berliner Juden in den „Sammelstellen“ und an den Bahnhöfen medizinisch betreuen. Manche kehren von diesen Einsätzen nicht wieder zurück, weil sie die Transporte bis in die Lager begleiten. Im Schwesternwohnheim haben jüdische Ärzte von 8 Uhr morgens bis kurz vor Mitternacht unzählige Anträge von Berliner Juden zu bearbeiten, die hoffen, aus gesundheitlichen Gründen als „nicht transportfähig“ erklärt zu werden. Anfangs können die Gutachter der „Untersuchungsabteilung für Transportreklamationen“ noch Deportationen vermeiden oder hinauszögern, doch die Kontrollen der Gestapo werden immer schärfer. Der Leiter der Abteilung, Walter Lustig, ist sogar gezwungen, Deportationslisten von Patienten und Angestellten zu erstellen.

Seine Eltern wussten bis Ende 1944 nichts von der Massenvernichtung im Osten

Wie wohl kaum ein anderes jüdisches Kind in Berlin, spielt der zehnjährige Klaus in diesen Tagen noch mit Freunden unter Kastanien im Hof, sie klettern auf den Turm des Hauptgebäudes, an dessen Spitze es eine Sonnenveranda gibt, und wenn die Gestapo kommt, verstecken sie sich im Keller, wo sie Tretauto fahren und manchmal ein Toter an ihnen vorbei in die Pathologie geschoben wird.

Zufluchtsort. Die Eltern von Klaus Zwilsky, Ruth und Erich, in der Apotheke der Klinik.
Zufluchtsort. Die Eltern von Klaus Zwilsky, Ruth und Erich, in der Apotheke der Klinik.

© Sammlung Familie Zwilsky/Jüdisches Museum Berlin

Abends verschlingt Klaus Zwilsky „Die Geschichten der Bibel“ des Berliner Rabbiners Joachim Prinz, liest sie immer und immer wieder. Oft ist er auch bei Tante und Onkel in der Oranienburger Straße, spielt dort mit seinen Cousinen Eva und Alice – bis 1943. „Eines Morgens habe ich Stimmen gehört, die Gestapo stand vor der Tür“, erzählt Zwilsky. Eine halbe Stunde hatte die Familie, um zu packen. „Ich erinnere mich, wie ich meinen Cousinen zuwinkte, als sie auf dem Lastwagen davonfuhren.“ Man merkt an seinem Ton, wie sehr dieses Erlebnis ihn bis heute belastet. Die beiden starben später in Auschwitz.

„Ich hätte es damals gar nicht schlecht gefunden, auch nach Theresienstadt zu kommen, um weiter mit meinen Cousinen spielen zu können“, sagt Zwilsky. Selbst seine Eltern – das hat er später erfahren – wussten bis Ende 1944 nichts von der Massenvernichtung im Osten. Bis Januar 1945 schickte die Mutter noch regelmäßig Pakete zu den Verwandten nach Theresienstadt. Das Notizbuch, in dem sie jede Sendung akribisch notierte, liegt heute im Jüdischen Museum Berlin.

Das Krankenhaus wird die letzte funktionierende jüdische Einrichtung in Berlin

Am 10. März 1943 halten drei große Lastwagen der Gestapo vor dem Verwaltungsgebäude des Krankenhauses. In den zwei vorhergehenden Wochen sind im Rahmen der „Fabrikaktion“ fast 8000 jüdische Zwangsarbeiter aus kriegswirtschaftlichen Fabriken nach Auschwitz deportiert worden. Jetzt sollen auch die 20 verbliebenen Ärzte und die Patienten des Jüdischen Krankenhauses folgen. Doch Walter Lustig, seit 1942 Direktor des Krankenhauses, schafft es, das Reichssicherheitshauptamt, die zuständige Aufsichtsbehörde, einzuschalten, die den Einsatz zurückpfeift. Die Lastwagen rollen wieder ab.

Lustig, der vor 1933 das Medizinaldezernat des Polizeipräsidiums geleitet hat und die Befehlsmentalität der Gestapo durchschaut, kann durch seine Taktik das Schlimmste verhindern. Doch er bringt sich in eine verzweifelte Lage. Reichssicherheitshauptamt und Gestapo zwingen ihn, bis zum nächsten Morgen eine Liste mit Namen anzufertigen – die Hälfte des Personals soll mit Familien deportiert werden. Lustig kooperiert, wie der US-Autor Daniel Silver in seinem Buch „Refuge in Hell“ schreibt, das die Geschichte des Krankenhauses während der NS-Zeit erzählt. Die ganze Nacht hallt das Tippen der Schreibmaschine in den Fluren des Verwaltungstrakts. Eine Woche später holen Gestapo-Beamte 300 Menschen ab.

Die Gestapo ernennt den gefügigen Krankenhausdirektor im Juni 1943 auch zum Leiter einer „Neuen Reichsvereinigung“ der Juden, nachdem die alte aufgelöst und deren Mitglieder verschleppt wurden. Das Krankenhaus ist nun, neben dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, die letzte funktionierende jüdische Einrichtung in Berlin.

"Jetzt werdet ihr ja Gott sei Dank wieder gut behandelt!"

Auf der Kinderstation. Eine Krankenschwester mit Säugling, 1935.
Auf der Kinderstation. Eine Krankenschwester mit Säugling, 1935.

© Herbert Sonnenfeld/Sammlung Jüdisches Museum Berlin

Die israelische Historikerin Rivka Elkin vermutet, dass es so lange erhalten blieb, weil die Nazis noch nicht entschieden hatten, was mit Juden aus „Mischehen“ und deren Kindern geschehen sollte. Und solange es noch Juden im Reich gab, konnten diese an der Iranischen Straße unter strenger Kontrolle der Gestapo medizinisch versorgt werden. Eine Art Ghetto für Kranke. Auch Machtkämpfe zwischen Behörden über die Kontrolle jüdischen Eigentums könnten nach Meinung der Historikerin eine Rolle gespielt haben.

Lustig bleibt damals nur wenig Spielraum, um noch etwas für die deutschen Juden und das Krankenhaus zu tun. Er kooperiert mit den Behörden, um den Betrieb aufrechtzuerhalten, schützt manche, verrät andere, setzt Schwächere auf Deportationslisten, um Gesunde zu retten. 200 Kranke werden noch im Juni 1943 unter dem Vorwand abtransportiert, sie würden in ein Krankenhaus in Theresienstadt verlegt. 1944 richtet die Gestapo das letzte „Sammellager“ Berlins in der Pathologie ein und schirmt es mit Stacheldraht ab. Bis zum Kriegsende werden von hier aus 394 Menschen in die Konzentrationslager geschafft. Der letzte Transport verlässt Berlin am 27. März 1945.

Auf den Stationen versorgen die wenigen verbliebenen jüdischen Ärzte und Schwestern ihre Patienten notdürftig. Immer mehr jüdische Partner aus „Mischehen“ wohnen jetzt in den Krankenzimmern. Sie werden nach der erzwungenen Trennung von ihren „arischen“ Partnern aus ganz Deutschland hergebracht. Und nach alliierten Bombenangriffen kommen plötzlich auch schwerverletzte Deutsche ins Krankenhaus, um sich von Juden behandeln zu lassen. Bis zuletzt bangen Ärzte wie Patienten, die Gestapo könnte das Haus räumen. Am 22. April verlassen es die Beamten stattdessen fluchtartig, kurz bevor die sowjetischen Soldaten den Wedding erstürmen.

Drei Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht kommt im Jüdischen Krankenhaus ein christliches Kind zur Welt

In den Tagen nach der Befreiung kann der junge Klaus Zwilsky das erste Mal seit Jahren die Tore des Krankenhausgeländes hinter sich lassen. Mit seinem Vater geht er zu einer Pumpe, um Wasser zu holen. Rundum sieht er nur Zerstörung – und Menschen, die Trümmer durchwühlen. „Ein paar Deutsche sagten uns: ‚Jetzt werdet ihr ja Gott sei Dank wieder gut behandelt!’“

Kurz vor seinem 13. Geburtstag feiert Zwilsky am 28. Juli 1945 seine religiöse Mündigkeit in der kleinen Synagoge des jüdischen Altersheims in der Iranischen Straße. Es ist die erste Bar Mizwa im Nachkriegsdeutschland. „Es gab Kaffee und Kuchen, und die Oberschwester vom Krankenhaus schenkte mir ein Taschenmesser, das ich heute noch habe.“ Sein Vater hat inzwischen die Leitung des Krankenhauses übernommen. Doch Mutter Ruth sieht in Deutschland keine Zukunft mehr. In einem Brief schreibt sie: „Wir wollen so schnell wie möglich dieses ,gastliche’ Land verlassen.“ Im Januar 1947 reist die Familie mit einem Passagierschiff von Stockholm nach New York und beginnt dort ein neues Leben.

Im Jüdischen Krankenhaus kommt nur drei Tage nach der Kapitulation der Wehrmacht wieder ein Baby zur Welt. Genauer: am 11. Mai 1945 um 1.25 Uhr. Es ist ein christliches Kind. Vor dem Eintrag im Geburtenbuch hat jemand einen roten Strich gezogen.

Mirco Lomoth

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