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Dirk Coetzee nach der Amnestie in seinem Haus, die Waffe in Reichweite.

© akg-images / africanpictures

Gesellschaft: Killer im Auftrag der Apartheid

Dirk Coetzee wird vom Jäger zum Gejagten, als er seine Untaten in einem Interview öffentlich macht. Dezember 1993 endet die Rassentrennung – und er hofft auf Gnade.

Es ist ein sonniger Tag auf Mauritius, und die zwei Männer, die da mit einer Dose Bier am Strand sitzen, werden gleich Geschichte schreiben. Sie sind jung: Circa dreißig der eine, Mitte vierzig der andere, beide aufgewachsen in Pretoria, Südafrika. In ihrem Hotel haben sie unter falschem Namen eingecheckt. Später werden sie einander in ihrem Zimmer gegenübersitzen. Der Jüngere wird sein Tonbandgerät einschalten und aufzeichnen, was der Ältere ihm erzählt. Gemeinsam werden sie an diesem wunderschönen Tag die Apartheid erschüttern.

Vor 20 Jahren, am 22. Dezember 1993, wurde die Rassentrennung in Südafrika abgeschafft. Vor allem Nelson Mandelas Beharren ist es zu verdanken, dass an diesem Tag die Interimsverfassung ratifiziert werden konnte. Sie versprach demokratische Wahlen und Gleichberechtigung, kurz: ein freieres Land.

Es war ein langer Kampf bis zu diesem Ziel. Und eine wichtige Station auf diesem Weg war das Treffen in jenem idyllischen Strandhotel auf Mauritius, vier Jahre vor dem Verfassungsakt – als ein junger Journalist namens Jacques Pauw den 44-jährigen Dirk Coetzee interviewte. Der Ex-Polizeihauptmann wird im Gespräch mit dem Reporter die Existenz einer geheimen Einheit bezeugen: eine Todesschwadron des Apartheidregimes, die Oppositionelle folterte und mehr als 100 Menschen bestialisch ermordete, mit Messern, Pistolen, Gift und Bomben.

Nicht, dass es noch eines Beweises für die Unmenschlichkeit des Regimes bedurft hätte: Längst war Südafrika aus der UN-Vollversammlung ausgeschlossen worden. Doch erst durch Coetzees Enthüllungen wurden auch weiße Südafrikaner gewahr, zu welchen Gräueln das System fähig ist.

Coetzees erstes Leben, das eines Buren aus Südafrika, beginnt 1945 in einem abgelegenen Vorort von Pretoria. Die Jugend des stotternden Jungen besteht vor allem aus Rugby und Braai, dem südafrikanischen Barbecue. Nach der Schule geht er, genau wie sein Vater, zur Post. Dann schließt er sich der Polizei an und wird der Beste seines Ausbildungsjahrgangs.

Der damalige Ministerpräsident von Südafrika, P. W. Botha, entwirft in diesen Jahren sein Bild von einem friedlichen Südafrika: Von paramilitärischen Einheiten bewacht, sollen die entrechteten schwarzen Südafrikaner „zivilisiert“ und kontrolliert werden. „Totale Strategie“ nennt er seinen Versuch, die Opposition zu unterdrücken. Alles für Volk und Vaterland.

Auf diesem Höhepunkt der Apartheid erhält Dirk Coetzee den Auftrag, eine Polizeieinheit für besondere Aufgaben zu gründen. Er und seine Männer sollen Apartheidgegner ausspionieren, entführen oder töten. „Ich war der Kommandant einer Todesschwadron“, erzählt Coetzee seinem Interviewer auf Mauritius. „Ich war im Herzen der Hure.“

Bekannt wird die Hure später unter dem Namen ihres Gründungsortes Vlakplaas („Flachplatz“) bei Pretoria. Offiziell – falls man das von einer geheimen Organisation so sagen kann – nennt man sie C1, C für Counterinsurgency, Aufstandsbekämpfung.

Coetzee muss für seine Einheit schwarze Südafrikaner anwerben, die verdeckt arbeiten können – und im Bedarfsfall morden. „Askaris“ nannte man diese Undercover-Kommandos, es ist das Swahili-Wort für Soldat. Coetzee führt die Askaris an.

So auch an einem Abend im Oktober 1981. Sizwe Kondile, ein junger schwarzer Student, ein Mitglied des African National Congress (ANC) mit guten Kontakten, soll „umgedreht“ werden. Man hatte ihn entführt, ihn bedroht und gefoltert, so, wie man das immer tat. Nun, glaubt man, würde er endlich seine Freunde verraten und die Seiten wechseln.

Stundenlang erzählt Coetzee dem Journalisten die Details seiner Taten

Doch Kondile widersteht allen Drohungen, allen Schmerzen. Mit gefesselten Händen stürzt er sich während des Verhörs aus dem Fenster und landet auf dem Kopf. Coetzee lässt Kondile erschießen.

„Dann haben wir ihn verbrannt“, spricht Coetzee in das Diktiergerät von Pauw, „auf einem Haufen Reifen und Holzscheite. Es dauert ungefähr acht Stunden, bis ein Mensch zu Asche geworden ist.“

„Und was haben Sie währenddessen gemacht?“, fragt Pauw.

„Wir haben ein bisschen abseits gegrillt. Wir hatten unser eigenes Feuer“, antwortet Coetzee. Von Zeit zu Zeit sei jemand aufgestanden, um die Leiche zu wenden. „Und wir haben die ganze Zeit getrunken. Brandy und Rum. Wir haben damals die ganze Zeit gesoffen.“

Stundenlang erzählt Coetzee dem Journalisten die Details seiner Taten. Er sagt, er habe noch weit mehr Menschen getötet, erschossen, erstochen, verstümmelt, verbrannt, und wenn er es nicht selbst tat, gab er den Befehl. Sein letzter Axthieb trifft nun keinen Menschen mehr, er trifft ein System.

Unter dem Titel „Die Blutspur der Südafrikanischen Polizei“ veröffentlicht Pauw das Interview am 17. November 1989. „Ich war im Herzen der Hure“ wird zum Schlüsselsatz des siebenseitigen Gesprächs mit Coetzee. Seine Enthüllungen schaffen es bis in die „New York Times“. Nur die Mainstream-Medien in Südafrika verschweigen oder bestreiten alles.

Coetzees zweites Leben beginnt. Pauw, der als Reporter bei einer linksalternativen Anti-Apartheid-Zeitung arbeitet, hatte lange gebraucht, um Coetzee zum Reden zu bringen. „Ich erzähle alles“, willigte Coetzee schließlich ein. „Aber bringt mich außer Landes. Und sorgt für mich und meine Familie.“ Als die Zeitung mit seinem Gesicht als Aufmacher erscheint, hat Coetzee sich auch aus Mauritius abgesetzt. Seine Frau, seine zwei Kinder und seine Hunde hatte er in Südafrika zurückgelassen. Coetzee ist über Nacht zum meistgesuchten und meistgehassten Mann Südafrikas geworden: Schwarze verabscheuen ihn wegen dem, was er getan hat, Weiße deshalb, weil er davon erzählt.

Die geheime Polizeieinheit Vlakplaas existiert zu diesem Zeitpunkt immer noch, und sie jagt ihn. Seine Odyssee führt Coetzee von Mauritius über die Kontinente. Aus Angst vor seinen Häschern wechselt er in den kommenden zwei Jahren 38-mal die Wohnung.

Coetzees Ziel ist London. In der britischen Hauptstadt tritt Coetzee, der mehrfache Mörder schwarzer Afrikaner, dem ANC bei und bittet um Vergebung. Seine früheren Feinde nennen ihn von da an „Genosse“. Der Mann, der sich um seine Sicherheit kümmert, ist der heutige Präsident Jacob Zuma. So findet der ehemalige Staatsterrorist Coetzee Unterschlupf bei einer schwarzen Untergrundorganisation: ein reuiger Killer, der half, das Morden zu beenden. „Ich habe nie erlebt“, wird der Journalist Pauw später sagen, „dass Coetzee auch nur eine rassistische Bemerkung gemacht hat. Was auch immer ihn zum Mörder machte: Hass gegenüber Schwarzen war es nicht.“

In Südafrika sind im Jahr 1989 noch die alten Männer im Amt. Das Land ist noch immer ein Polizeistaat, in dem alles und jedes als „kommunistische Aktivität“ deklariert und verfolgt werden kann. Die alten Eliten nehmen den Kampf gegen Coetzees Wahrheit auf, mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Verbrannte Erde ist die letzte Amtshandlung aller Unrechtsstaaten, und wenn nicht Häuser brennen, dann Akten.

Der Leiter der südafrikanischen Polizei weist Coetzees Behauptungen als „lächerlich“ zurück. „Unwahr und unglaubwürdig“ nennt es der damalige Generalstaatsanwalt. Auch der aktuelle Leiter von Vlakplaas, Eugene de Kock, streitet alles ab. „Warum sollte ich diesen Mist glauben?“, poltert ein Richter öffentlich. Warum sollte man den Worten eines flüchtigen Überläufers glauben?

Sorgfältig orchestriert werden Details aus Coetzees Akte an die Öffentlichkeit gebracht. Er trinke gern, leide an Diabetes und sei zeitweilig unzurechnungsfähig. Schließlich setzt man sogar einen Informanten auf Coetzees Ehefrau an, einen Romeo, der sie tatsächlich verführt.

Unterdessen formieren sich die alten Kameraden. Eugene de Kock, Coetzees letzter Nachfolger im Amt als Kommandant der Vlakplaas, befiehlt, Coetzee ausfindig zu machen und zu töten.

Kock vermutet, dass sich Coetzee in Sambia aufhält. Er ordnet an, zwei Walkmans zu kaufen. In die Kopfhörer arbeiten Techniker der Polizei Sprengstoff ein – und probieren die Bombe zuerst an einem Schweinskopf aus. Der Test verläuft erfolgreich. Auch der zweite Walkman wird präpariert. Als Absender schreiben sie den Namen eines jungen Anwalts auf das Paket, den Coetzee kennt. Dann schicken sie alles ab.

Das Paket wird Coetzee, der sich tatsächlich zeitweilig in Sambia aufhielt, nie erreichen. Vielleicht war Coetzee misstrauisch geworden; er wusste, wie man Bomben baut, und nahm das Paket deshalb nicht an. Vielleicht war er auch schon wieder untergetaucht. Weil niemand sie entgegennimmt, geht die Sendung zurück an den vermeintlichen Absender.

Am 15. Februar 1991 erhält Bheki Mlangeni in Johannesburg ein Päckchen. Der junge Anwalt ist frisch verheiratet. Er hat den Abend mit seiner Frau im Kino verbracht und ihr das Päckchen gezeigt, das er bekommen hatte. Er weiß nichts damit anzufangen. Kaum zu Hause angekommen, öffnet er das Päckchen, entnimmt einen Walkman und setzt sich die Kopfhörer auf. Dann drückt er auf Play.

Zeit seines Lebens ist er allen Anschlagsversuchen entkommen

Mlangeni stirbt. Coetzee hat mehr Glück. Mindestens dreimal hat man ihm nach dem Leben getrachtet, aber er ist zeit seines Lebens allen Anschlagsversuchen entkommen. Erst als er sich 1993 sicher genug fühlt, kehrt er nach Südafrika zurück. Das Land hatte die Gesetze zur Rassentrennung aufgehoben, den ANC als Partei zugelassen und Vlakplaas aufgelöst. Coetzee spekuliert darauf, dass ihn seine Genossen vom ANC zum neuen Polizeichef der Post-Apartheid-Ära machen.

Im Jahr darauf wird Nelson Mandela Präsident. Eine seiner ersten Amtshandlungen ist die Einrichtung der Wahrheits- und Versöhnungskommission, nach ihrer englischen Abkürzung TRC genannt. Es ist eine Operation am lebenden Objekt, ein Mammutprojekt: elf Amtssprachen, vier „Rassen“ („schwarz“, „farbig“, „asiatisch“, „weiß“), eine Vergangenheit. Wie soll man sie aufarbeiten? Das Perfide an der Apartheid ist, dass es zu viele Peiniger gab, um sie alle zu bestrafen. Nicht Gerechtigkeit ist deshalb das Ziel, sondern Ausgleich, Vergebung, Versöhnung. Wer der Jury die Wahrheit erzählt, darf darauf hoffen, straffrei zu bleiben. Mehr als 7000 Menschen stellen einen Antrag auf Amnestie, nur jedem Vierten wird sie gewährt.

Einer der ersten Bewerber ist Dirk Coetzee. Seinen letzten großen Auftritt in der Öffentlichkeit bestreitet er 1996 im grauen Anzug. Einem halben Dutzend Jurymitgliedern sitzt er gegenüber. „Applicant“, Antragsteller, steht auf dem weißen Schild vor ihm. Coetzee hofft auf Gnade. Noch einmal wird alles aufgezeichnet, was er sagt, und per Video in die Welt übertragen. Noch einmal erzählt Coetzee seine Geschichte: Wie er Menschen wie Sizwe Kondile, den jungen Studenten, erschießen ließ, wie er sie vergiftete; wie Menschenfleisch riecht, wenn es verbrennt.

Dann stellt ihm der Anwalt von Kondiles Mutter eine Frage. „Sie sagten“, fragt Kondiles Anwalt, „dass sie Frau Kondile gerne begegnen und ihr in die Augen sehen würden?“ – „Ja, das würde ich in der Zukunft gerne tun.“ – „Frau Kondile bat mich, Ihnen zu sagen, dass dies eine Ehre ist, von der sie glaubt, dass Sie sie nicht verdienen. Und wenn Sie wirklich bereuten, was Sie getan haben, würden Sie sich einem Gerichtsverfahren stellen, für das, was sie getan haben!“

Niemand, selbst diejenigen, die – wie der Journalist Jacques Pauw – viel Zeit mit ihm verbrachten, wissen, ob Coetzee je wirklich Gewissensbisse hatte. Vielleicht hatte er auch einen guten Weg gefunden, den alten Coetzee vom neuen zu trennen. Immer wieder wird er in der dritten Person von sich reden. Auf einen anderen Mord angesprochen, sagt er vor der Kommission: „Ich weiß nicht, wie ich“, so Dirk Coetzee, „jemals in meinem Leben einem Mann wie Dirk Coetzee vergeben könnte.“

Die TRC fällt ihr Urteil: Coetzee erhält Amnestie für seine Morde. Er ist ein freier Mann. So frei, wie ein Mensch eben sein kann, der zeit seines Lebens aus Angst vor Racheakten eine Waffe tragen wird.

Bis zum Schluss hält der Journalist Pauw Kontakt mit Coetzee. In seinen letzten Gesprächen mit Pauw bekennt der, er sei ein gebrochener Mann, körperlich und seelisch, krebskrank, zuckerkrank, unfähig, das Haus zu verlassen. Im März 2013 stirbt Coetzee 67-jährig an Nierenversagen.

Eugene de Kock, der letzte Leiter von Vlakplaas bis 1993, der Mann also, der Coetzee ermorden lassen wollte: Auch er hatte damals um Amnestie gebeten. Ihm blieb sie verwehrt. Er, der als das „prime evil“, das oberste Böse in Südafrika gilt, sitzt bis heute im Gefängnis. Zweimal lebenslänglich plus 212 Jahre, de Kock wird für 89 Verbrechen belangt. Doch als Verwandte der Opfer ihn im Gefängnis besuchen, glauben sie ihm seine Gewissensbisse. Sie vergeben ihm.

Gerade weil „Wahrheit“ und „Versöhnung“ im Namen der Kommission so dicht beieinanderstehen, verfielen viele auf den Gedanken, das eine führe zum anderen: Wer sich nur öffne, dem werde verziehen. Coetzee hatte zwar schon die Wahrheit gesagt, als de Kock noch Sprengfallen baute – und erhielt dafür Straffreiheit. Doch Amnestie ist nur ein Verwaltungsakt, Vergebung eine Gnade. Die Angehörigen von Coetzees Opfern vergaben ihm nie.

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