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Auf dem Alten Gutshof in Klein Glien kann jeder mit seinem Laptop hin, wo es ihm am besten gefällt.

© Tilman Volgler

Klein Glien: Arbeiten, wo andere Urlaub machen

Groß denken in Klein Glien: Im Brandenburger „Coconat“ sollen abgelenkte Großstädter produktiv werden.

Es riecht angenehm nach Rauch. Obwohl das Feuer in dem großen Kamin aus ist, hat sich der Geruch in Möbel und Wänden festgesetzt. Kurz verlassen die Gedanken den Raum, sind wieder im Skiurlaub des vergangenen Jahres. Schöne Erinnerungen. Jetzt ist keine Zeit zum Träumen. Zurück in Brandenburg, in der Bibliothek des Alten Gutshofs in Klein Glien, südwestlich von Berlin. Wer hierherkommt, kommt mit einem ehrgeizigen Ziel: Urlaub auf dem Land zu machen und dabei zu arbeiten.

Workation nennt sich das Phänomen, eine Kombination aus Arbeiten und Urlaub, work und vacation. Junge Selbstständige ziehen es vor, nicht in einem Büro zu sitzen. Arbeiten können sie dank des Internets überall. So machten sie zuerst das Zuhause zum Arbeitsplatz – Homeoffice – dann besetzten sie die Cafés. Nun soll auch noch der Urlaub dran glauben.

Direkt am Fenster der dunkelgrün gestrichenen Bibliothek ist ein Arbeitsplatz eingerichtet mit einem alten Nähmaschinentisch, auf dem Klavier dahinter steht eine Jugendstil-Lampe. Der Blick fällt nach draußen in den Garten, wo rote Hagebutten aus dem Grün herausragen. „Coconat“ nennt sich der Gutshof seit seiner Wiedereröffnung im Mai. Was vor einigen Jahren noch ein Hochzeitshotel war, soll fleißige Berliner aufs Land locken. Community and Concentrated work in Nature – Gemeinschaft und konzentriertes Arbeiten in der Natur, das will man hier ermöglichen. So entstand der Name Coconat aus einer Kombination der Anfangsbuchstaben.

Die Telekom war schon da

90 Kilometer sind es bis Klein Glien, nur eine Handvoll Häuser stehen im Ort. Mit dem Zug geht es in einer Stunde nach Bad Belzig, dann weiter mit dem Fahrrad. Überall Felder, Bäume, Hochsitze. Hügeliger als in der Hauptstadt ist es schon mal, das Treten ohne Gangschaltung fällt schwer. In der Nähe vom Coconat befindet sich der zweithöchste Berg Brandenburgs, der Hagelberg, ganze 200 Meter. Der große Gutshof steht direkt am Ortseingang. Die Tür knarrt beim Öffnen und unterbricht die Stille im Haus. Kärtchen mit Foto, Namen und Projekt an der Wand verraten, wer zu Gast ist. Insgesamt gibt es 38 Betten in 13 Einzel-, Doppel- und Mehrbettzimmern. 15 Karten hängen da. Zu sehen ist niemand.

Der Gutshof wurde im Mai wiedereröffnet.
Der Gutshof wurde im Mai wiedereröffnet.

© Tilman Volgler

„Sind alle arbeiten“, sagt Janosch Dietrich, einer der Gründer. Seit einem halben Jahr bieten er und sein Team den „Workation Retreat“ an. Neben Einzelpersonen kommen auch viele Firmen, die losgelöst vom Alltag an einem Projekt arbeiten wollen. Die Telekom war zum Beispiel schon da. An diesem Wochenende ist außer den Alleinreisenden noch eine Projektgruppe zu Gast. Das Thema: Wie junge Berliner das Brandenburger Land beleben können.

Früher war „Work and Travel“ die einzige Art, auf Reisen Geld zu verdienen. Man zog von Ort zu Ort und nahm Gelegenheitsjobs an, um sich den Urlaub zu finanzieren. Der Digitalisierung ist es zu verdanken, dass eine weitere dazugekommen ist. Bei einer Workation ist man unterwegs und geht von dort seiner festen Arbeit nach. Ähnlich machen das auch Künstler oder Schriftsteller, die dank Stipendien fernab ihres Wohnsitzes arbeiten können. Die digitalen Nomaden, jene Menschen, die mit Internetanschluss ortsunabhängig arbeiten, sind seit einigen Jahren an warmen Orten in Thailand oder Bali zu finden. Bei Coconat sollen sie in Brandenburg glücklich werden.

Fördert Natur die Kreativität?

Raus aufs Land. Das W-Lan reicht bis an den kleinen See.
Raus aufs Land. Das W-Lan reicht bis an den kleinen See.

© Tilman Volgler

13 Uhr, Mittagszeit. Hier essen alle gemeinsam, das gehört zum Konzept. So sollen sich die Besucher untereinander vernetzen und austauschen. Und nun kommen die 15 Gäste aus den Tiefen des Gutshofes. Da ist Sonja, die ihre Dissertation zu „Lernerfolgen im Freiwilligendienst“ schreibt. Oder Pau, dem nur noch die Einleitung seiner Doktorarbeit in Politikwissenschaft fehlt. Manuel bereitet sich auf seine Prüfung als Psychotherapeut vor. Kieran kommt eigentlich aus Kalifornien, ist 3-D-Game-Designer und arbeitet manchmal zwar auch, will aber hauptsächlich die Natur genießen.

Zum Essen gibt es Ofengemüse mit Salat, alles frisch, regional und vegetarisch. Hier kochen keine gelernten Küchenmeister, sondern Hobbyköche aus den umliegenden Dörfern. Es schmeckt. Und man motiviert sich gegenseitig.

„Wie läuft’s heute mit dem Schreiben?“

„Nicht so mein Tag.“

„Lies am Abend die Seiten noch mal, dann merkst du, was du geschafft hast.“

Je länger man bleibt, desto günstiger wird es

Sonja, Pau und Manuel sind seit einer Woche in Klein Glien. Für Übernachtung, Frühstück, warmes Mittagessen, warmes Abendessen, Kaffee, Tee, Snacks werden 80 Euro pro Tag fällig, je länger man bleibt, desto günstiger wird es. Lohnt sich das? „Sonst wären wir ja nicht hier“, sagt Sonja.

In seiner Form ist Coconat in Deutschland bisher einzigartig. Ähnliche Angebote gibt es nur auf Teneriffa oder Mallorca. Im März zogen die Gründer ein, renovierten zwei Monate mit 80 freiwilligen Helfern. Jetzt, wo es läuft, planen sie weiter. Das Dach ausbauen, damit es mehr Zimmer gibt. Bald soll eine Sauna auf dem Hof dazukommen. Eine ganze Scheune steht noch leer.

Samstagmorgen. Während die Wilden in Berlin nach einer Partynacht ins Bett wanken, sind am Fuße des Hagelbergs die Ersten im Wald, Natur spüren. Ein Hahn kräht in der Ferne, ein Eichhörnchen rast den Baum hoch. Die Schuhe und Socken sind nass vom Morgentau des Grases. Viele Wissenschaftler haben versucht, nachzuweisen, dass Natur die Kreativität fördert. Richtig gelungen ist das nicht. Gut fühlt es sich auf jeden Fall an, aus der Stadt raus zu sein, beim Joggen die Landluft einzuatmen, nicht den Geruch von Abgasen, sondern von feuchtem Herbstlaub in der Nase zu haben.

Kein Telefon klingelt, kein Kollege stört

Die Besucher sollen sich untereinander vernetzen und austauschen.
Die Besucher sollen sich untereinander vernetzen und austauschen.

© Tilman Volgler

Irgendwann muss jeder zurück an den Schreibtisch. Drei Arbeitsräume stehen den Gästen zur Verfügung, jeder kann sich niederlassen, wo er es gemütlich findet. Wie der Platz am Fenster in der Bibliothek, direkt an der Heizung. Und dann passiert es. Alle arbeiten. Niemand lenkt den anderen ab. Manuel und Pau sitzen konzentriert vor den Bildschirmen. Sonja hat sich etwas zu Lesen gegriffen und auf den Klappstühlen in den Strahlen der Herbstsonne Platz genommen. Wer kurz quatschen will, holt sich einen Kaffee in der Küche.

Psychologen warnen vor zunehmenden Belastungen am Arbeitsplatz. Fast jeder zweite Angestellte klagt laut Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin über häufige Unterbrechungen. Knapp zwei Drittel stehen unter dem Druck, mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen zu müssen. All das verursacht Stress, kann zum Burn-out führen. Hinzu kommt der Geräuschpegel in Großraumbüros, der die Nerven strapaziert.

Wer nach Klein Glien kommt, hat meist ein konkretes Projekt dabei. Kein Telefon klingelt, kein Kollege stört. Auf einmal ist in einer Stunde geschafft, wofür man sonst einen ganzen Nachmittag gebraucht hätte. Die Workation läuft.

Urlaub ist das nicht

Am Abend, als der letzte Laptop zugeklappt ist, wird es Zeit für noch mehr Entspannung. Kieran bietet eine Vollmond-Meditation im Wald an. In seiner Heimat in Kalifornien macht er solche Ausflüge mit Angestellten der großen Tech-Firmen. „Um abzuschalten und die Produktivität zu fördern“, sagt er. Draußen pfeift der Wind. „Lasst ihn eure Gedanken wegtragen, euren Kopf freiblasen“, sagt Kieran. Dann geht es rauf auf den Weinberg, wo sich das Grab des ehemaligen Gutsbesitzers befand, das 1945 zerstört wurde. Der Vollmond wirft lange Schatten aufs dunkle Laub. Genau jetzt denkt man an jene Horrorfilme der Jugend wie „Blair Witch Project“. Für einen Moment ist da nur der Wind und das Laub, das leise raschelt. Bis ein Schuss in der Ferne die Meditation beendet.

Zurück in der Bibliothek brennt das Feuer im Kamin. Mit Rotwein in der Hand sitzen die Gäste in kleinen Gruppen auf dem Boden und auf Stühlen. Die Gespräche drehen sich um Politik, das Leben in Berlin. Und darum, warum es sich hier so gut arbeiten lässt. Urlaub ist das nicht. Aber es fühlt sich sehr gut an.

Reisetipps für Klein Glien

Hinkommen

Von Berlin aus geht es mit dem Regionalexpress RE 7 nach Bad Belzig. Er fährt stündlich. Eine Einzelfahrt kostet 8,50 Euro. Wer sein Fahrrad mitnehmen möchte, zahlt noch einmal 3,30 Euro extra. Weiter nach Klein Glien fährt auch der Bus 588 oder 555 (Rufbus). Reisen mehrere Teilnehmer gleichzeitig an, organisiert Coconat einen Shuttle.

Unterkommen

Das Rundum-Sorglos-Paket bei Coconat mit Übernachtung, Mahlzeiten und Arbeitsplatz kostet etwa 80 Euro pro Nacht. Im Mehrbettzimmer wird es 25 Euro günstiger. In der Remise des Gutshofes sind Gemeinschaftsküchen untergebracht, so dass auch selbst Kochen möglich ist. Im Sommer können Gäste hinter dem Haus campen.

Rumkommen

Am besten lässt sich die Umgebung Klein Gliens zu Fuß entdecken. Zahlreiche Wanderwege führen durch die Region. Auch der Europa-Radweg von Boulogne-sur-Mer nach Sankt Petersburg kreuzt den Ort. Wenige Kilometer weiter in Schmerwitz gibt es in der Dorfkirche ein Töpfercafé, das Keramik, Kaffee und selbst gebackenen Kuchen anbietet. Auf Burg Eisenhardt in Bad Belzig können Heimatmuseum und Stadtbibliothek besucht werden. Der Burgturm bietet eine schöne Aussicht auf die Stadt. Falls es regnen sollte, lohnt sich ein Besuch in der Steintherme.

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