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Klosprüche in Berlin: Geschäftskorrespondenz

Ästhetische Barbarei oder Kulturgut? Berliner Toiletten sind wahre Leinwände – und jeder kann sich dort verewigen. Eine Feldforschung mit Analyse.

Es ist verwunderlich, dass die Rechtspopulisten und Scharfmacher dieser Welt, wenn sie Gründe für die Notwendigkeit einer Zero-Tolerance-Politik aufzählen, nie auf die Zustände in bundesdeutschen Großstadtoiletten verweisen. Dabei ließe sich an deren Beispiel anschaulich erklären, was geschieht, falls Vandalismus nicht frühzeitig Einhalt geboten wird: Wo ein Klospruch steht, ist der nächste nicht weit. Und wo viele stehen, sinkt die Hemmung für Trittbrettfahrer, sich selbst zu verewigen, einen weiteren Satz hinzuzufügen. Die Vornutzer haben es ja schließlich auch getan. Dann ist bald die ganze Wand voll, ach was: der ganze Raum inklusive aller Ecken, Kabinen, Türen, Handtrockner und Kondomautomaten. Ein Gastwirt, der seine Toiletten spruchfrei halten möchte, muss also immer schon den allerersten Buchstaben umgehend entfernen.

In Berlin findet man selten Kneipiers, die das Konzept von Zero Tolerance gutheißen. Vielleicht sind sie auch einfach zu faul. Das ist ein Glück. Denn obwohl ästhetisch selten ansprechend, können Klosprüche witzig, bedenkenswert und lehrreich sein, den Toilettengang intellektuell bereichern. Sofern man sich darauf einlässt.

Klosprüche sind die kleinen, infantilen Brüder von Street Art. In der Sprache drastischer, im Inhalt radikaler. Das liegt unter anderem an der größeren Anonymität: Für Graffiti-Sprayer bleibt, selbst wenn sie bei Dunkelheit operieren, immer ein Restrisiko, von Passanten beobachtet zu werden und sich dann verantworten zu müssen. Auch wirken Klosprüche in ihrer Gestaltung meist liebloser. Grafisch ausgereifte, mehrfarbige Bemalungen findet man praktisch keine. These: Wer einen Klospruch hinterlassen möchte, zeichnet den nicht erst dünn mit Bleistift vor. Wahrscheinlich wartet im Schankraum oder an der Bar jemand darauf, ein Gespräch fortzusetzen.

Um das Phänomen Klospruch zu begreifen, reicht es nicht, an einem Abend in seinem Kiez durch ein paar Toiletten für das eigene Geschlecht zu streifen. Ernsthafte Feldforschung ist nötig.

„Hey, du bist hier auf dem Damenklo.“

„Entschuldigung. Das ist eine Recherche für den Tagesspiegel.“

Nach Wochen intensiver Beobachtung ergeben sich dann aber überraschende Erkenntnisse.

1. Es gibt auf öffentlichen Toiletten keine Korrelation zwischen Spruchdichte und allgemeiner Hygiene. In Berlin finden sich Kneipen, in denen die WC-Wände beschmiert, alle Klobrillen aber blitzblank sind. Der umgekehrte Fall findet sich auch.

2. Auf Rechtschreibung wird geachtet, Kommasetzung dabei jedoch vernachlässigt.

3. Spiegel werden in der Regel nur beschrieben, wenn alle übrigen Flächen bereits verziert sind. Ein Indiz dafür, dass die Sprücheschreiber eben nicht Zerstörungswut umtreibt – dass ein Interesse besteht, die anderen Gäste nicht zu behindern.

4. Decken sind stets dort betroffen, wo Spülkästen nicht in die Wand eingebaut wurden.

5. Bei spruchverzierten Wänden im Endstadium, wie man sie etwa auf den Toiletten der Kneipe „Clash Berlin“ in der Kreuzberger Gneisenaustraße vorfindet, verdichten sich die verschiedenen Spruchschichten zu einem unleserlichen Mischmasch, in dem leider alle Sinnzusammmenhänge verloren gehen.

6. Lässt man die kryptischen, zu arg dahingeschmierten Schriftzüge außen vor, kann man Klosprüche in der Regel den Themenbereichen Reviermarkierung („Günther was here“), politische Forderung („Nazis raus“) oder Lebensweisheit („Alles Schlampen außer Mutti“) zuordnen. In letzterer Kategorie dominieren die ironischen und vulgären Meinungsäußerungen, oft sind sie sexuell aufgeladen oder verwenden Fäkalsprache. Es gibt jedoch auch erfreulich viele, die ernsthaft zum Nachdenken anregen wollen. Im Café Luzia in der Oranienstraße steht mit schwarzem Edding auf Kachel: „Wenn dir etwas gefällt, analysiere es nicht, sondern tanze dazu“.

Da kann man eine Weile drüber nachdenken.

Die Pioniere der Klospruchforschung

Sind Klosprüche also gar kein Vandalismus, sondern eine eigene Literaturgattung? Der Volkskundler Alan Dundes prägte im kalifornischen Berkeley 1966 ein Synonym für Klospruchkunst, das im Angelsächsischen noch heute gebraucht wird: Latrinalia. Historiker glauben, dass schon die frühen Hochkulturen Latrinenwände verzierten. Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum deuten darauf hin. Als Pionier der deutschsprachigen Klospruchforschung hat sich der Wiener Psychologe Norbert Siegl hervorgetan. Sein Werk „Geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Häufigkeit und thematischer Inhalte bei Toilettengraffiti“ gilt als kanonisch. Sprüche der Männer geraten inhaltlich aggressiver und zynischer, behauptet Siegl. Außerdem fänden auf Herrenklos häufiger „Eingriffe in die Inschriften anderer“ statt. Ein Befund, der sich beim Rundgang durch Berliner Toilettenlandschaften nicht bestätigt: Auch auf Frauenklos werden unliebsame Sprüche übermalt, durch Hinzufügen einzelner Buchstaben ins Gegenteil verkehrt oder durch hämische Kommentare diskreditiert. „Wir sind alle schön“, hinterließ ein weiblicher Gast der Neuköllner Kneipe „Oblomow“ in Englisch an der Wand. Jemand anders ergänzte: „Ich wette, das hat eine fette Frau geschrieben“.

Wer sich nur lange genug mit der Materie beschäftigt, zwischendurch innehält und die Feinheiten wertzuschätzen lernt, der mag sich die Frage stellen, ob nicht das Anbringen, sondern das Entfernen von Klosprüchen durch Reinigungskräfte die eigentliche Barbarei ist. Im nordrhein-westfälischen Lippstadt gibt es eine urige Kneipe namens „Schwarzes Schaf“. Dort steht an einer Toilettenwand geschrieben: „Klowände überstreichen ist wie Bücher verbrennen“. Ein Zweiter hat daneben gesetzt: „Ja schon. Aber Klowände beschmieren ist nicht wie Bücher schreiben.“

Haben Sie auch einen Lieblings-Klospruch? Fotografieren Sie in Toiletten von Berliner Restaurants, Cafés oder Kneipen und schicken Sie das Ergebnis an sonntag@tagesspiegel.de. Die besten Einsendungen veröffentlichen wir im Internet.

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