zum Hauptinhalt
Jens Mühling.

© Mike Wolff

Kolumne: Jens Mühling lernt Türkisch: „Melankoli“ heißt „Melancholie“

Der kurdische Verkäufer im Kiosk an der Yorckstraße spielt in seinen Nachtschichten manchmal traurige Lieder auf der Saz. Wenn ich mir spätabends noch ein Bier hole und ihn beim Musizieren antreffe, höre ich ihm gerne eine Weile zu.

Meist bleibe ich dann vor dem Kühlschrank stehen und mime käuferische Unentschlossenheit, bis ein Lied zu Ende ist, damit der Mann sein Spiel nicht für mich unterbrechen muss. Die meisten anderen Stammkunden halten es genauso, manchmal drücken wir uns zu fünft vor dem Kühlschrank herum. In meinem Kopf ist der Klang der türkischen Laute inzwischen fest mit dem Anblick deutscher Bieretiketten verbunden.

In eines dieser melancholischen Abendkonzerte schlich sich neulich eine politische Note, die mit der türkischen Parlamentswahl am heutigen Sonntag zu tun hat. Mit leuchtenden Augen erzählte mir der Verkäufer in einer Pause zwischen zwei Liedern von Selahattin Demirtaş. Der ist erstens der schärfste politische Herausforderer des amtierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und zweitens ein nicht untalentierter Saz-Spieler und Sänger. Googeln Sie mal „Demirtaş saz çalıyor“, das bedeutet „Demirtaş spielt Saz“, und man findet im Netz ein paar schöne Videos von Fernsehauftritten des musizierenden Oppositionellen. Wenn er spielt, klingt es genau so melancholisch wie bei den Abendkonzerten im Yorckstraßen-Kiosk. Inzwischen muss ich Demirtaş nur in den Nachrichten sehen, um sofort akuten Bierdurst zu bekommen.

Im Unterschied zu mir hat Präsident Erdoğan, wie mir der kurdische Verkäufer erzählte, für das musische Talent seines politischen Widersachers nicht viel übrig. Als ihn Journalisten bei einem Wahlkampfauftritt auf Selahattin Demirtaş ansprachen, erklärte Erdoğan kurz angebunden, er habe „zu diesem Popstar“ nichts zu sagen.

Auf die abschätzige Bemerkung des Präsidenten reagierte wiederum Demirtaş mit einem Wortspiel, das mir der kurdische Verkäufer erst auf einen Zettel schreiben musste, bevor ich es verstand: „Ben çaldığımı söylüyorum, siz çaldığınızı söyleyebiliyor musunuz?“

Der Satz spielt mit der Doppelbedeutung des Verbs „çalmak“, das sich auf Deutsch sowohl mit „spielen“ als auch mit „stehlen“ wiedergeben lässt. Frei übersetzt bedeutet die rhetorische Frage, die auf die Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan abzielt: „Ich kann sagen, was ich spiele – aber können Sie sagen, was Sie stehlen?“ Eine abgewandelte Form des Wortspiels verwenden Demirtaş und seine Anhänger als Wahlkampfslogan, der sich auf zwei Arten lesen lässt: „Ein Präsident, der nur Saz spielt“, oder: „Ein Präsident, der nicht klaut“.

Der kurdische Verkäufer aus der Yorckstraße hat seine Stimme schon vor ein paar Wochen abgegeben, in der türkischen Botschaft, per Briefwahl. Schon allein aus musikalischer Verbundenheit, von Saz-Spieler zu Saz-Spieler sozusagen, hat er für die „Halkların Demokratik Partisi“ gestimmt, die „Demokratische Völkerpartei“ von Selahattin Demirtaş. Bei seiner Wahlentscheidung hat aber auch eine Rolle gespielt, dass er Erdoğan nicht ausstehen kann.

Als Journalist muss man bei Erdoğan vorsichtig sein, der Mann reagiert empfindlich auf Kritik, gerade erst hat er persönlich Strafanzeige gegen den Chefredakteur eines Magazins gestellt, dessen Berichterstattung ihm nicht passte. Als Außenstehender bin ich auch gar nicht sicher, ob ich von der Sache genug verstehe, bestimmt ist die türkische Politik ähnlich schwer zu begreifen wie die Vierteltonmelodik der Saz. Ich kann nur sagen, dass beides mich in melancholische Stimmung versetzt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false