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Erinnerungen an die Gegenwart: Erdogan und der König von Popo

Gibt es ein Land, in dem ein Klavier verhaftet werden kann und Hausfrauen verboten wird, auf ihre Kochtöpfe zu schlagen?

Gibt es ein Gericht, das Demonstranten zu 67 Jahren Gefängnis verurteilt und einen Polizisten freispricht, der einen Mann erschossen hat? Kann eine Regierung ernsthaft einen Theaterautor beschuldigen, er habe den Terrorismus vorbereitet?

Man müsste die Türkei Absurdistan nennen, denn welches Land macht solche ungewollten Komplimente für die Wirkungskraft moderner Dramatik oder droht Hausfrauen mit Antiterrorgesetzen?

Ich habe so eine ältere Frau fast jeden Abend in Istanbul beobachtet, wie sie um 21 Uhr, wenn die Menschen zu den Kundgebungen auf die Straße liefen, auf einem winzigen Balkon mit einem Kochlöffel so lange auf ihre Eisenpfanne schlug, bis einer der Demonstranten zu ihr hoch schaute und winkte. Dann zog sie sich mit einem Lächeln in ihre Wohnung zurück.

Von diesen Frauen gab es Tausende in Istanbul, man nannte sie liebevoll die „Pot and Pan-Gang“, aber nun trauen sie sich nicht mehr. Mehmet Ali Alabora, ein junger türkischer Theaterautor, hält sich versteckt, seit ihn Ministerpräsident Erdogan diffamiert und die Zeitung „Yeni Safak“ auf die schwarze Liste gesetzt hat. Zuletzt geschah dies 2007 mit dem armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, der später erschossen wurde.

Alaboras Theaterstück handelt von einem fiktiven Land „Pinima“, in dem der Präsident alles verbietet. Ein vagabundierender Pianist darf nicht mehr spielen, darum beginnt er zu singen. Und er besingt die Menschen, was sie tun können, um zu berichten, was in „Pinima“ geschieht.

Alabora konnte da noch gar nichts wissen vom wirklichen Pianisten, der im Juni sein Instrument auf den Taksim-Platz rollte und so lange spielte, bis sein Klavier beschlagnahmt wurde.

Fünf Menschen wurden seit Beginn der Protestbewegungen erschossen; 8000 verletzt, Ärzte, die helfen wollten, verhaftet; Hunderte ins Gefängnis gebracht und Anwälte, die sie verteidigen wollten, ebenso verhaftet. Der Polizist, der Ethem Sarisülük am 1. Juni in Ankara in den Kopf schoss, wurde freigesprochen. Erst behauptete das Gericht, ein Stein eines Demonstranten habe Sarisülük getroffen, dann, als das Video auftauchte, es sei Notwehr gewesen. Vom Tod des Studenten Ali Ismail Korkmaz gab es ebenfalls ein Video, von einer Hotelkamera mitgeschnitten, als der 19-Jährige auf der Flucht vor der Polizei war. Mittlerweile fehlen 18 Minuten auf dem Band.

Vor wenigen Tagen verkündete Erdogan, er wolle die englische Tageszeitung „Times“ verklagen, weil sie sich von Hollywoodgrößen wie Sean Penn und David Lynch bezahlen lasse, damit diese die Regierung eines Landes anklagen dürfen, von dem sie nicht mal wüssten, wo es auf der Landkarte liege.

Wäre Shakespeare auf so eine Figur wie Erdogan gekommen? King Lear ist von Herrschsucht und Eitelkeit geblendet, findet aber zur inneren Erkenntnis, was bei Erdogan ausgeschlossen scheint. Richard III. bringt alles um, was sich ihm in den Weg stellt, aber er weiß, dass er ein Schurke ist, was Erdogan keineswegs zu wissen scheint. Er hält sich für einen großen König.

Vielleicht sollte man in der Türkei Büchner spielen: „Leonce und Lena“. Der König von Popo hat den Kontakt zu seinen Kindern im Reich verloren, aber er hält ständig dumme Reden: „Der Mensch muss denken und ich muss für meine Untertanen denken, denn sie denken nicht.“

Erdogan denkt wirklich, dass er in so einem Land regiert. Und wer selbst denkt, der muss eben verhaftet werden.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Esther Kogelboom und Jens Mühling.

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