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Moritz Rinke sammelt Erinnerungen an die Gegenwart: Niedersachsen – sturmfest und erdverwachsen

Ich bin ein Niedersachse. Wenn ich irgendwann einmal im großen Niedersachsen für meine kleinen Verdienste geehrt werden sollte, dann werde ich das von einem repräsentativen niedersächsischen Balkon verkünden.

Am besten in Hannover, denn Halbhannover hat zufällig der Urgroßvater von der ersten Frau meines Vaters entworfen, der war Stararchitekt beim König. Ich würde vom Balkon zeigen und erklären, wie schön Niedersachsen ist. Die Berge im Harz, der Strand an der Nordsee, die Wälder und Wiesen dazwischen. Dann werde ich sagen, dass Niedersachsen am 20. Januar 2013 die Zukunft der Republik bestimmt hat. Die „Faz“ spricht von „Schicksal“, diese Zeitung kündigte sogar ein „Beben“ an.

Ich selbst komme aus dem Wahlkreis 60, bei uns haben die Autos das Kennzeichen OHZ, was nicht Ochsen-Hinterm-Zaun bedeutet, wie manche behauptet haben, sondern Osterholz-Scharmbeck. Der Landtagskandidat für die SPD heißt Jürgen Kück aus Ritterhude bei Worpswede. Es gab schon viele Politiker aus dem Wahlkreis 60, die Kück hießen, weil hier quasi alle Kück heißen, und sie sind auch so berühmt wie andere norddeutsche Großfamilien, zum Beispiel die Buddenbrooks.

Kück leidet aber sehr unter dem Kanzlerkandidaten. Wenn Kück nach einem Besuch beim Torftag in Ostersode die Herzen zufliegen und am nächsten Tag der Kanzlerkandidat sich zu Gehaltsfragen und Pinot Grigio äußert, dann war für Kück der Torftag umsonst. Eine niedersächsische SPD-Abgeordnete ist letzte Woche noch zur Linkspartei gewechselt, und im Wahlkreis 60 macht man sich schon Gedanken, ob nicht auch der Kanzlerkandidat schnell noch wechseln könnte. Mir wurde sogar aus dem Wahlkreis 60 ein Papier zugespielt, in dem vorgeschlagen wurde, die SPD zu spalten! In eine einerseits alte SPD wie bei Bebel und Brandt und in eine andererseits neue CPD oder SPU in der Mischung des Dazwischen, die gute Chancen hätte, der CDU von halblinks oder halbrechts das Wasser und jeden Pinot Grigio abzugraben.

Auch von dieser klugen neuen Ausrichtung der SPD durch den Wahlkreis 60 würde ich auf dem Balkon des Urgroßvaters sprechen. Und ich würde sagen, dass die „SZ“ aus München geschrieben hat, wir hätten in Niedersachsen nur Schweine und Hühner und in der Mitte döse Hannover vor sich hin. Das ist reine Polemik. Jeder weiß, dass es in Hannover die berühmte Maschsee-Connection gab, die jahrelang die Republik dominierte. Man kann darüber streiten, ob die Schweine und Hühner in dieser Zeit nicht eher direkt in der Mitte in Hannover waren, statt drumherum, aber von Dösen zu sprechen, das ist unrichtig. Bayern und München dösen, aber Niedersachsen döst nicht. Das Wendland zum Beispiel ist hochpolitisch, seit Generationen bestimmt das Wendland die lebenswichtige Atomdebatte. Und die ganzen Persönlichkeiten, die aus Niedersachsen kommen: Wilhelm Busch, Schlegel, Hannah Arendt, Otto Waalkes, Benno Ohnesorg, mein Urgroßvater, Per Mertesacker und Lena und ein Bundeskanzler, von dem man erst später begriffen hat, wie gut er war.

Nur McAllister, unser schottischer CDU-Ministerpräsident, ist noch nicht ganz so in der Materie. Er singt beflissen das Niedersachsenlied: „Wir sind die Niedersachsen, sturmfest und erdverwachsen“, und dann hat er das auch in Oldenburg gesungen, wo doch jedes Kind bei uns weiß, dass die Oldenburger anders sind, die singen: „Heil dir, O Oldenburg!“, so was kann nur einem Schotten passieren. Und so viel Wahlkampf musste jetzt noch für Kück und für meinen Wahlkreis sein.

Am Abend dann das Beben. Und ich bald auf dem Balkon.

An dieser Stelle wechseln sich ab: Elena Senft, Moritz Rinke, Christine Lemke-Matwey und Jens Mühling.

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