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Elena Senft schaltet nie ab: Der wundersame Kampf um Kinokarten

Bei manchen Dingen hat man den Anschluss verpasst.

Ich zum Beispiel weiß nicht, wie man die Benzinpistole an der Zapfsäule so einhakt, dass das Auto betankt wird, das Benzin anschließend von selbst aufhört zu fließen, während man die gewonnene Zeit dafür nutzt, die Windschutzscheibe von Insektenleichen zu reinigen. Nach 16 Jahren Führerscheinbesitz ist es mir zu peinlich, mir diesen Handgriff, den scheinbar jeder Mensch beherrscht, erklären zu lassen.

Außerdem: Ich habe einen Bürokollegen, den ich nicht fragen kann, was sein Beruf ist. Denn wir sitzen uns seit Monaten jeden Tag gegenüber und ich habe diverse Exkurse über lästige Projekte mit verständnisvollem Nicken quittiert, so als wüsste ich genau, wovon er spricht. In Wirklichkeit habe ich keinen Schimmer, was der Mann macht. Fragen geht nicht mehr. Das dritte Beispiel ist brandaktuell: Ich verstehe nicht, wie ich an Kinokarten für die Berlinale komme.

Das ist der Hauptgrund dafür, dass ich kaum Filme während der Berlinale gucke. Es scheint ein kompliziertes Unterfangen zu sein, für das man sich ganze Tage freihalten muss und keine Angst vor körperlichen Auseinandersetzungen haben darf.

Genau kann ich es nicht sagen, fragen kann ich leider auch nicht mehr. Zumal ich mit Drehbüchern mein Geld verdiene und bereits seit Jahren so tue, als sei die Berlinale für mich eine Pflichtveranstaltung. Ich sehe Berlinale-Filme also nur dann, wenn gehetzte Freunde oder Bekannte anrufen und mit hinausgeknödelter Stimme ins Telefon brüllen, dass sie eine Karte übrig hätten, wenn ich jetzt, also jetzt sofort, stante pede, subito, losführe, um sie in Empfang zu nehmen.

Ich habe nur eine vage Ahnung davon, was diese Leute durchgemacht haben, ob sie am Potsdamer Platz zelten mussten, aber im Hintergrund sind oft Schreie zu hören. Bei der Übergabe der Karte haben diese Bekannten zerrauftes Haar, eiskalte Hände und tragen widerstandsfähiges Schuhwerk. Während der Vorstellung schlafen sie oft vor Erschöpfung ein. Diese Beobachtungen dürften nur die Spitze des Eisbergs seien. Mir scheint es nicht lohnenswert, Teil des Karten-Kampfs zu werden.

Viele Menschen gucken sich ja vorwiegend deswegen Filme bei renommierten Festivals an, weil sie dann als besonders ambitionierte Kinogänger gelten, und um endlich mal unter ihresgleichen in Ruhe und zivilisiert einen Film zu sehen, ohne dass räudiges Spaßkinovolk mit Popcorn wirft oder die Schuhe auszieht, um die Füße links und rechts neben dem Kopf des Vordermannes auf dem Sitz abzulegen. Diesen Zahn zumindest sollte man allen Menschen ziehen. Denn in etwa genauso schlimm wie das gemeine Publikum, das ununterbrochen Softdrinks aufstößt und pro Film 13-mal aufs Klo geht, sind Cineasten. Viel wichtiger als Amüsement ist bei ihnen der ständig zu erbringende Beweis dafür, dass sie in der Lage sind, Intertextualität und sehr subtilen Witz zu verstehen.

Den Goldenen Bären verdient sich im Grunde unter Cineasten derjenige, der bei einer versteckten Pointe als Einziger in einem Kinosaal lacht und es sich dann auch nicht nehmen lässt, seiner Partnerin so etwas wie „Anspielung aus der Göttlichen Komödie“ laut zuzuraunen, so dass es auch die letzte Reihe hört. Wie viel erholsamer ist ein Nachbar, der krachend jede Dialogpause mit dem Zerbeißen von Nachos füllt, als einer, der sich ernst rüberbeugt und behauptet, er sei froh, dass das serbokroatische Kino endlich wieder zu sich gefunden hat.

Genug Gründe also, um die nächsten zwei Wochen nicht ins Kino zu gehen. In Wirklichkeit aber warte ich sehnsüchtig darauf, dass jemand anruft und mich mitnimmt.

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