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Der Richter von Mahmud Raqi in seinem Amtszimmer.

© Martin Gerner

Korruption in Afghanistan: Mord-Prozess in Mahmud Raqi

Richter gelten in Afghanistan als so korrupt wie Polizisten. Daher besuchen unabhängige Beobachter Verhandlungen. Zum Beispiel: ein Mordfall in der Provinz Kapisa. Ein Ortstermin.

Langsam gewinnen wir an Höhe. Der Kessel von Kabul liegt hinter uns. Im Anstieg zur Shomali-Ebene zeichnet sich über der Stadt ein Film ab aus staubgetränkten Abgasen, beißenden Schwaden aus Holzkohleöfen und Sandpartikeln, die man knirschend auf den Zähnen schmecken kann, wenn nur etwas Zeit vergeht. Mit jedem Höhenmeter weicht der Geruch modernder Abfälle langsam frischerer Luft. Bald fahren wir auf der vierspurigen Landstraße vorbei an ausladenden Obst- und Gemüsefeldern, auf denen Männer wie Frauen in bunter Kleidung arbeiten.

Mahmud Raqi (manchmal auch Mahmood Raqi oder Mahmood-i-Raqi) heißt unser Ziel, die Hauptstadt der Provinz Kapisa. Auf den meisten UN-Karten, die Afghanistan in abgestuften Rottönen in Landstreifen mit hoher, mittlerer und geringfügiger Gefahr aufteilen, ist der Ort nicht verzeichnet. Aus deutscher Sicht ist Mahmud Raqi eine Art No Man’s Land. Gelegen zwischen Kabul und dem Norden, dort, wo der sogenannte deutsche Verantwortungsbereich anfängt.

Nach einer knappen Autostunde, bei Charikar, wechselt unser Wagen von der geteerten Straße auf eine Schotterpiste. Eine Tankstelle an der Wegbiegung, in Wirklichkeit ein kleiner Kiosk aus wenigen Brettern, bietet Benzin in abgefüllten Plastikflaschen, recycelte Coca-Cola-Behälter. Auf der anderen Seite sammelt eine Gruppe Kinder die gleichen Plastikflaschen aus dem Straßengraben auf. Vorbeirasende Autofahrer werfen den Müll achtlos aus dem Fenster. Die Jungen lassen die Plastikflaschen behände in einen Jutesack gleiten, den sie mit einer Hand auf dem Rücken tragen. Zu Hause werden sie die Flaschen in der Mitte durchschneiden und darin Zucker, Rosinen oder eingemachtes Gemüse verwahren. Die übrigen Flaschen tauschen sie am Kiosk gegen ein paar Süßigkeiten.

Man kann viele solcher Szenen beobachten an den Wegegabelungen, die von der Ringroad abgehen. Die große Umgehungsstraße verbindet Kabul mit den Städten Mazar im Norden, Herat im Westen und Kandahar im Süden.

„Where the road ends, the Taliban begins“, hat ein US-amerikanischer Oberbefehlshaber vor Jahren ein fragwürdiges Bonmot geprägt. Nicht gesagt hat er dabei: Zwischen der Straße und den Taliban lebt die Masse der afghanischen Bevölkerung. Der Bezirk Mahmud Raqi zählt rund 56 000 Einwohner, so eine aktuelle Schätzung. Genaue Statistiken gibt es nicht. Ein landesweiter Zensus verschiebt sich jetzt schon seit mehreren Jahren, auch aus Gründen der Sicherheit.

„How are you?“, ruft ein Junge am Straßenrand und schwenkt seinen Arm, den Sack mit Plastikflaschen in der anderen Hand. Der Anblick Fremder ist ein Ereignis für die Kleinen. Ausländer, die mit dem Auto unterwegs sind, bekommen sie immer seltener zu sehen. Weniger wegen des Teilabzugs der internationalen Truppen. Vielmehr herrscht Vorsicht, nicht zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein: Diplomaten, ausländische Helfer und Berater fliegen häufiger so weit wie möglich mit dem Flugzeug an ihr Ziel. Die Masse der afghanischen Mitarbeiter fährt nach wie vor zu Land. Parallelgesellschaften.

„Dusdi“, Diebe, nennen die Menschen in Kapisa unwillkommene Wegelagerer, die es zu allen Zeiten in Afghanistans Bergen gegeben hat. Andere nennen sie Taliban, weil sie wie die Aufständischen bewaffnet sind und an unliebsamen Orten auftauchen können.

Die Schotterpiste schüttelt uns hin und her, immer wieder durch kratertiefe Ausbuchtungen. Vorbei an Berghängen ohne Grün, kleinen Wasserläufen mit Holzbrücken im Tal und Herden aus landestypischen Fettschwanz-Schafen. Eine Weile vergeht, da erreicht unseren Fahrer eine SMS. Er stellt das Radio leise. „Unser Büro in Kabul schreibt, dass sich gerade ein Attentäter im Nachbarbezirk vor einer Polizeistation in die Luft gesprengt hat.“ Er dreht es wieder laut. Die Nachrichten bestätigen den Vorfall im Nachbarbezirk Tagab. Dort gibt es regelmäßige Taliban-Aktivitäten. 20 Kilometer Luftlinie sind es von hier und unserem Ziel, dem Gericht in Kapisa. Wir vergewissern uns über Telefon. Dann setzen wir die Fahrt fort. Hindurch unter einem Schild als kleiner Triumphbogen. „Willkommen in Mahmud Raqi“. Stein- und Lehmhäuser, alte und neue, stehen weit verstreut an Berghängen und in der Ebene. Pulsierend ist es nur entlang des staubigen Basars an der Straße. Männer in Turban, ohne Socken und in Gummischuhen kaufen hier ein und plaudern. Ein Pulk junger Schulmädchen in Uniform und mit Kopftuch geht an ihnen vorbei.

Wir erreichen einen Schlagbaum auf einer Anhöhe im Zentrum. Sicherheitskontrolle. Unsere Körper werden gescannt. Hinter dem Schlagbaum ein Camp der afghanischen Polizei, Büros des Gouverneurs und die örtlichen Behörden von Mahmud Raqi. Meterhohe Betonwände davor als Schutz. Nicht so am Eingang des Gerichtsgebäude. Ein älterer Mann am Stock, gefolgt von zwei Frauen in Burka, kommt uns entgegen.

In Kapisa war zuletzt 2012 französisches Isaf-Kontingent stationiert. Dann erschoss ein afghanischer Soldat fünf französische Armeeangehörige und verletzte 15 teilweise schwer. Nicolas Sarkozy, damals Präsident, beeilte sich daraufhin mit dem Abzug aus Kapisa. Auch gemeinsame Patrouillen mit der afghanischen Armee wurden eingestellt. Misstrauen löste Zusammenarbeit ab.

Mehr als ein Jahr später gibt es so etwas wie die Reste des französischen Erbes: eine Anzahl afghanischer Gefängnisinsassen. Häftlinge, die keine Taliban sind, sondern auch bei den Taliban in Haft gesessen haben. Den Franzosen fielen sie bei Einsätzen gegen Aufständische, zusammen mit afghanischen Sicherheitskräften, in die Hände.

Auch der Mann, der heute vor Gericht steht, gehört dazu. Jetzt wird ihm von Staates wegen der Prozess gemacht. Barfuß, mit Handschellen und Perhan Tambon, der üblichen Landestracht, wird der mutmaßliche Täter in den Raum geführt. Zwei Menschen soll er ermordet haben in einem Streit, der eskaliert ist. Verhandelt wird im Arbeitszimmer des Dorfrichters. Es ist eng. Der Richter sitzt mit ernster Miene hinter einer dicken Schreibtischplatte. Alle anderen um ihn herum versinken in braunen Plüschsofas. Der Staatsanwalt hält einen Stapel Akten zwischen den Händen. Ein Polizist, der müde dreinschaut, bewacht den Angeklagten von der Seite. Man hat ihm die Handschellen bei Eintritt in den Raum gelöst. Sie baumeln jetzt von seiner Hüfte.

Was ist normal vor Gericht in Afghanistan?

Der Richter von Mahmud Raqi in seinem Amtszimmer.
Der Richter von Mahmud Raqi in seinem Amtszimmer.

© Martin Gerner

Tee wird serviert. „Nur weil Sie da sind“, murmelt der Richter, „normalerweise gibt es das nicht während der Verhandlung.“ Was ist normal vor Gericht in Afghanistan? Laut Integrity Watch Afghanistan (IWA), einer unabhängigen Initiative in Kabul, deren Arbeit ich mir heute anschauen will, ist die afghanische Justiz neben der Polizei die korrupteste Instanz des Landes.

Die Gründe für das Fehlen einer dritten Gewalt sind vielfältig. Präsident Karsai hat die Schlüsselstellen im Justizwesen, darunter das Oberste Gericht, mit Gefolgsleuten besetzt. Auch das höchste Gremium aus Geistlichen, die Ulema, die die Regierung in Rechtsfragen berät, ist Karzai eng verbunden. Ein weit verbreitetes Unrechtsbewusstsein ist die Folge von 30 Jahren Krieg. Urteile gelten als käuflich. Auch Freikäufe aus der Haft soll es geben. Nicht immer, aber immer wieder reden die Menschen darüber: Kleine und große, gewendete und altgestrige Kriegsfürsten arrangieren sich gegen Bares oder mittels Waffengewalt mit Behörden und Justiz. Ebenso die neureichen Eliten. Der Staat ist in der afghanischen Provinz nur eine von mehreren Instanzen.

Mehr als 100 Fälle illegaler Landnahme aus dem Umkreis der Regierung Karsai notiert der jüngste Fortschrittsbericht Afghanistan der Bundesregierung. Bisher, so heißt es dort weiter, sei gegen keinen der Landnehmer Anklage ergangen. Ehemalige Mudschahedin-Führer, die im Parlament den Ton angeben, sind durch das Gesetz faktisch amnestiert. Afghanische Medien und Öffentlichkeit thematisieren die Korruption. Bisher sind sie aber nicht in der Lage, eine wirkliche Rolle als vierte Gewalt zu spielen.

Mahmud Raqi, Zeichen der Hoffnungslosigkeit, so hat es den Anschein. Oder gibt es Veränderungen, die dem flüchtigen Beobachter entgehen? Die Stimme des Dorfrichters holt mich aus meinen Gedanken zurück. Sein adrettes Auftreten suggeriert Autorität. Schwarze Weste, gut gekämmte Frisur, gegeltes Haar. Hat er sich zurechtgemacht, ist er gar milde gestimmt, weil ein ausländischer Reporter anwesend ist? An der Decke rotiert ein Ventilator. Der Richter taxiert alle mit kritischem Blick. Der Staatsanwalt stockt, als er die Anklage verliest. Fließend zu lesen vermag er nicht. Die Anklageschrift ist mit der Hand geschrieben. Darauf violette Daumenabdrücke, mutmaßlichen Zeugen abgenommen.

Der Angeklagte fängt an über den Streit mit seinen Baupartnern zu erzählen. Von Täuschung und persönlicher Berufsehre ist die Rede. Auch Geld ist wohl mit im Spiel. Der Angeklagte bittet, dass in seiner Muttersprache, Paschtu, fortgefahren wird. Dem Persischen kann er nicht so gut folgen. Dann erzählt er seine Version der Tat. Der Richter schüttelt den Kopf. Dem Opfer sei in den Rachen geschossen worden, korrigiert er den Angeklagten, er könne die Schüsse unmöglich erwidert haben. Nochmals erhebt der Staatsanwalt das Wort. Er verlangt schließlich, dass der Angeklagte gehängt werde. Afghanisches Recht erlaubt dies.

Von einem der Plüschsofas mischt sich ein älterer Mann ein. Welche Zeugen bisher vernommen worden seien, möchte er wissen. Und unter welchen Umständen diese ihre Aussagen gemacht hätten? Neben ihm machen drei weitere Männer sich aufmerksam Notizen. Sie sind Teil einer Gruppe von Beobachtern. Ihre Aufgabe ist es, sämtliche Verhandlungen vor Gericht in Kapisa zu verfolgen. Integrity Watch will so der Korruption in der Provinz den Kampf ansagen.

Die Beobachter sind allesamt anerkannte Personen aus dem Ort: zwei Schura-Vorsitzende, ein Schuldirektor, ein Arzt. Alle arbeiteten sie ehrenamtlich, betonen sie. „Häufig fehlt es hier vor Gericht an Pflichtverteidigern für die Angeklagten. Oder es findet keine ordentliche Spurensicherung durch die Polizei statt. Auch wichtige Zeugen bleiben außen vor“, meint einer von ihnen. „Wir beobachten die Verfahren vor Gericht, damit es keine Übertretungen gibt“, sagt ein anderer, „damit Richter nicht eigenmächtig entscheiden und es die Chance auf ein ordentliches Verfahren gibt.“

Seit zwei Jahren unternimmt IWA den Feldversuch für mehr Transparenz bei den Gerichten. Neben Kapisa noch in der Provinz Bamian. „Bisher haben sich viele Menschen im Bezirk nicht getraut, vor Gericht zu ziehen“, meint ein Dritter. „Für die einen ist der stundenlange Anfahrtsweg durch Berg und Tal zu beschwerlich, andere erwarten kein faires Verfahren und fürchten die Kosten.“

Aber man verzeichne erste Erfolge, behauptet Ali Mashalafroz, Leiter des IWA-Büros in Kapisa. „Neuerdings“, erzählt er, „nehmen die Bürger kilometerlange Wege mit dem Esel oder Motorrad in Kauf, um ihren Fall vorzutragen.“ Er schränkt ein: „Das Ganze ist für die örtlichen Justizbehörden noch ungewohnt. Manchmal versichern sie sich in Kabul, ob unsere Beobachter-Mission zulässig ist.“

Das Arbeitsgerät der Beobachter, das dem Gericht Respekt einflößen soll, besteht aus Papier. Ein dreiseitiger Bogen mit 21 Fragen. Darauf tragen die Beobachter alles ein, was sich im Büro des Richters abspielt. „Wurden Dokumente der örtlichen Polizei herangezogen?“, lautet eine Frage. „Gab es ein gerichtsmedizinisches Gutachten?“ Die Beobachter sind sich der Bedeutung ihrer Aufzeichnungen bewusst. Hier, tief im Land, gab es bis dato keine Öffentlichkeit vor Gericht, und nur in Ausnahmefällen Medienvertreter. Die vier mit Stift und Papier sind so etwas wie die Engel der Gerechtigkeit in einem Meer aus Machenschaften und Willkür.

Jeder Papierbogen der Beobachter zu den Verfahren vor Gericht gelangt binnen ein, zwei Wochen nach Kabul. Dort werden die Antworten ausgewertet. Auf diese Art, so hoffen die internationalen Geldgeber, die IWA finanzieren, lasse sich vor Abzug des Westens doch noch ein Stück Recht und Ordnung in die afghanische Provinz bringen.

Der Richter darf kein Interview geben

Der Richter von Mahmud Raqi in seinem Amtszimmer.
Der Richter von Mahmud Raqi in seinem Amtszimmer.

© Martin Gerner

Es geht um Hoffnung. Viel Hoffnung zwischen 3000 Meter hohen Bergen, mäandernden Flussläufen und bewaffneten Aufständischen. Letztere sind auch stark, weil örtliche Behörden und Ämter den Bürgern Mal um Mal widerrechtlich Gelder abpressen und sie so vorführen. (In Kapisa wie in Kunduz, wo deutsches Militär und zivile Hilfe hingelangt, hat man über die Jahre immer wieder von Taliban-Schnellgerichten gehört. Mitunter, so heißt es, urteilten diese rascher und nähmen keine Schmiergelder für ihre Dienste.)

Wohlgemerkt: Mahmud Raqi kennt, wie der Rest des Landes, auch zahlreiche Instanzen ziviler Streitschlichtung. So versammeln Shuras und Jirgas im Streitfall Älteste und anerkannte Personen aus dem Dorf, die schlichten, noch bevor ein Gericht angerufen wird. Auch das hat Tradition und ist bewährter Bürgersinn.

Eine Stunde ist vergangen. Von der Taille des Angeklagten baumeln noch die Handschellen. Die Verhandlung wird auf den Nachmittag vertagt. Der Richter sagt das geplante Interview ab. „Keine Erlaubnis vom Höchsten Gericht in Kabul.“

Auch das Mittagessen dehnt sich. Warten. Die Wiederaufnahme des Verfahrens verzögert sich. Taktiert der Richter, damit der ausländische Reporter nicht alle Missstände des afghanischen Justizwesens aus erster Hand zu sehen bekommt ?

Wir müssen zurück: Vor Dunkelheit auf der geteerten Straße Richtung Kabul zu sein, ist die sichere Variante. Welcher Eindruck von den ausländischen Truppen bleibe, frage ich einen der Beobachter. „Kein guter“, meint er und erwähnt zivile Opfer, Unschuldige, die bei nächtlichen Einsätzen im Anti-Terrorkampf zu Tode kamen. Auch das gehört zum Kriegsalltag.

In Kabul angekommen, meldet sich Ali Mashalafroz vom Büro in Kapisa auf dem Handy. Der Angeklagte müsse für 18 Jahre hinter Gitter, habe der Richter entschieden. Der Todesstrafe sei er entkommen. Gerechtigkeit? Ist das Urteil dem Einwirken der Beobachter geschuldet? Die Hilfsgelder für das Programm des „Communal Trial Monitoring“ laufen in diesem Jahr aus. „Neue Gelder sind beantragt“, sagt Yama Torabi, der Leiter des Kabuler IWA-Büros, „wir hoffen, dass es weiterläuft.“ Bleiben 34 der 36 Provinzen von Afghanistan, in denen es noch keine Beobachter gibt. Eine Frage von Jahren. Und doch bewegt sich etwas.

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