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Enno Lenze auf der E 40 Richtung Kiew.

© privat

Augenzeugenbericht aus Kiews Vororten: „Überall lagen ermordete Zivilisten“

Schon die Zufahrtsstraße in den Ort Butscha war mit Leichen gepflastert. Uniformen trugen die Toten nicht. Ein Berliner Krisenreporter berichtet.

Von Enno Lenze

Die russischen Soldaten haben sich gar keine Mühe gegeben, ihre Kriegsverbrechen zu vertuschen. Sie haben die Leichen der getöteten Zivilisten einfach auf den Straßen liegen lassen. Die Körper der Toten, die vor uns lagen, trugen keine Uniformen. Einige waren, der Größe nach zu urteilen, vermutlich Kinder. Es ist eindeutig, wer hier ermordet wurde: keine Soldaten.

Als mein Bekannter und ich am Samstag an der Abzweigung nach Butscha vorbeikamen, wussten wir noch nichts von der Dimension des Verbrechens, das sich in diesem westlichen Vorort von Kiew ereignet hatte. Wir wollten Schutzwesten und Helme in die Hauptstadt bringen, und die E40, eine zweispurige Schnellstraße in Ost-West-Richtung, war erst kurz zuvor vom Militär freigegeben worden. „Ihr könnt hier entlang“, hatte ein Soldat zu uns gesagt. „Aber seid schön vorsichtig. Ihr gehört zu den ersten, die diese Strecke wieder befahren.“

Die Straße war tatsächlich noch ein Trümmerfeld, überall lagen Autowracks, manche waren offensichtlich von Panzern überrollt worden. Ob sich noch Leichen in den Wageninneren befanden, war unklar.

Zivilisten suchten vergeblich Schutz

Wir sind recht langsam gefahren. Wegen der Minen, die hier und da noch herumlagen. Die haben wir dann in sicherem Abstand umkurvt. Manchmal haben wir am Straßenrand angehalten, um uns ein Bild davon machen zu können, was passiert ist. An einer Stelle stand zum Beispiel ein Kleinwagen, ein Lada. Hinter dem Wagen hatten Zivilisten Schutz vor Beschuss gesucht. Aber die Kugeln der Maschinengewehre haben das Metall durchschlagen und die Menschen getötet.

Die E40 führt 200 Kilometer von Lwiw ganz im Westen des Landes bis nach Kiew. Je näher wir an die Hauptstadt heran kamen, desto verwüsteter schien die Umgebung. Wobei manche Gebäude schwer zerstört waren, und die nebendran hatten keinen Kratzer an der Fassade. Da hatten die Bewohner einfach Glück, dass die Artillerie sie nicht getroffen hat.

Zerschossenes Gebäude nahe Kiew.
Zerschossenes Gebäude nahe Kiew.

© Enno Lenze

Direkt hinter dem Dorf Myla, fünf Kilometer vor der Stadtgrenze Kiews, zweigte dann eine Straße von der E40 nach links ab. Von hier geht es nach Butscha. Überall lagen Leichen herum. Rechts eine, links eine, in der Mitte eine. Manche waren verkohlt, manchen fehlten Arme oder Beine. Für Außenstehende mag das seltsam klingen, aber: Wenn Leichen extrem entstellt sind, also im Grunde kaum noch als Menschen erkennbar sind, dann ist ihr Anblick etwas leichter zu ertragen.

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Wer solche Kriegsverbrechen sieht, hat kein Verständnis für Menschen, die gerade weit weg, zum Beispiel in Deutschland, sitzen und in irgendeiner Weise diese schrecklichen Taten relativieren oder gar rechtfertigen wollen. Das ist indiskutabel. Nein, Wladimir Putin muss ganz sicher keine Zivilisten umbringen lassen, weil er Angst vor der Nato hat.

In Kiew habe ich mit anderen Kriegsreportern gesprochen. Ihre Erlebnisse sind ebenfalls drastisch. Sie berichten von Menschen, die zu Tode geprügelt und in Abwasserrohre gesteckt wurden. Oder die gefesselt wurden und denen dann in den Rücken geschossen wurde. Die Journalisten haben auch Folterkammern von innen gesehen.

Ein improvisiertes Verkehrsschild auf dem Mittelstreifen.
Ein improvisiertes Verkehrsschild auf dem Mittelstreifen.

© Enno Lenze

Die Ukrainer, mit denen ich gesprochen habe, waren teilweise nicht gut auf die deutsche Regierung zu sprechen. Während die Amerikaner und Briten massiv helfen, nimmt man von deutscher Seite eher Rumgeeiere wahr. Jedenfalls nichts, auf das man sich in der jetzigen Notlage verlassen könnte.

Das Trümmerfeld auf der Schnellstraße E40 wird nun zügig aufgeräumt. Als ich an diesem Montag, zwei Tage nach meiner Anreise, wieder über die Schnellstraße fahre, sind bereits keine Leichen mehr zu sehen. Bis spätestens Mittwoch, heißt es, soll die gesamte Fahrbahn vom Schrott der verkohlten Autos und Panzer befreit sein.

Kiew selbst erinnert mich an eine mittelalterliche Festung, so stark gesichert ist die Stadt mittlerweile. Es gibt eine Panzersperre hinter der nächsten, dazu Maschinengewehr-Positionen in regelmäßigen Abständen, und schweres Baugerät fungiert als Straßensperren. Über mehrere Kilometer zieht sich dieser Verteidigungsring hin. Und in den umliegenden Hochhäusern finden sich gute Schusspositionen für die panzerbrechenden Raketenwerfer.

Die Straßen sind noch relativ leer, die meisten Geschäfte geschlossen. Aber ich spüre hier viel Optimismus. Die ukrainischen Soldaten sind froh, dass die Russen mit ihrem Angriffsplan auf Kiew gescheitert sind. Ein Soldat hat mit uns Späße gemacht. Als wir auf halber Strecke Richtung Kiew einen Checkpoint erreichten, fragte er uns: „Wie lautet das Passwort?“ Wir waren überfordert, niemand hatte uns vorab ein Passwort mitgeteilt. Wir schauten uns irritiert an und wussten nicht, was wir sagen sollten. Der Soldat löste dann auf: „Slawa Ukrajini!“ Übersetzung: „Lang lebe die Ukraine!“

Enno Lenze, 39, ist häufig in Krisengebieten unterwegs. Er ist auch Direktor des Museums „Berlin Story Bunker“. Protokoll: Sebastian Leber

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