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Die Krimiautorin Sabine Thiesler

© Christian Thiel

Krimi-Autorin Sabine Thiesler im Interview: „Das Potenzial zum Mörder hat jeder“

Sabine Thiesler schrieb Pointen für Harald Juhnke und trat mit Wolfgang Gruner auf. Warum sie Berlin den Rücken kehrte und heute vor dem Mittelmeer warnt.

Von Andreas Austilat

Frau Thiesler, wir treffen uns in Pisa, ist Ihr Haus weit entfernt?

Ungefähr zweieinhalb Stunden. In Italien sagt man: quasi um die Ecke.

Auf einem Foto sah ich Sie auf Ihrer Terrasse neben einem ziemlich großen Rottweiler sitzen ...

Wir haben sogar zwei. Ganz liebe Schmusehunde. Sie wissen nicht, dass sie Rottweiler sind, und wir haben es ihnen nicht verraten.

Der Blick von Ihrem Berg soll fantastisch sein. Allerdings liegt das Haus auch sehr einsam. Fürchten Sie sich manchmal da oben?

Ich fürchte mich vor vielem, weil ich so eine extrem kriminelle Fantasie habe. Daher kommen ja auch die Ideen zu meinen Büchern. Nehmen Sie eine einsame Straße, Sie finden die vielleicht romantisch. Ich stelle mir vor, wie mich ein gespanntes Drahtseil zum Anhalten zwingen würde. So in der Art. Und da ich solche Gedanken habe, fürchte ich mich eben mehr als andere. Aber auf meinem Berg fühle ich mich sicher.

Sie haben in den letzten acht Jahren 1,7 Millionen Krimis verkauft ...

… ja, im deutschsprachigen Raum. Allein mein Roman „Der Kindersammler“ ist in 15 Sprachen übersetzt worden.

Alle spielen in der Toskana. Und es kommt vor, dass der vermeintliche Hauptdarsteller ziemlich schnell aus seinem erfolgreichen Leben gerissen wird. Ganz schön gemein.

Das ist es, was mich interessiert: wie es passieren kann, dass ein Normalbürger zum Mörder wird. Das Potenzial dazu hat doch jeder. Das ist das Spannende. In meinem aktuellen Thriller „Versunken“ wollte ich die Geschichte eines Mannes erzählen, der alles verloren hat und sich nur dadurch retten kann, dass er einen anderen umbringt und dessen Identität annimmt. Und ganz nebenbei sind solche Geschichten eine gute Therapie gegen die Angst, von der wir gerade sprachen.

Seit wann haben Sie diese Neigung zur kriminellen Fantasie?

Die hatte ich schon als Kind. Vielleicht weil meine Eltern mich vor allem Möglichen gewarnt haben. Ich bin im Dunkeln nur unter Androhung der Todesstrafe zum Mülleimer auf den Hof gegangen. Und ganz schlimm wurde es, nachdem ich als Kind eine Folge „Aktenzeichen XY“ gesehen hatte, in der eine Frau in den Keller ging, um irgendwelche Vorräte zu holen. Die Frau tauchte nie wieder auf. Und der Keller sah aus wie unserer.

Einmal lassen Sie eine Frau ihren Mann unter dem Olivenbaum hinter der Terrasse vergraben. Sind Sie glücklich verheiratet?

Seit 35 Jahren. Aber schon auf unserer Hochzeitsreise in Griechenland haben wir uns am Strand überlegt, wenn einer von uns den anderen umbringen will, und er hat ein dickes Motiv, wie schafft man das? Wie plant man den perfekten Mord?

Die Autorin Patricia Highsmith schreibt wie Sie aus der Perspektive des Täters. Nur ist ihr Tom Ripley nicht nur böse, er kommt auch noch immer davon.

Natürlich ist es reizvoll, in der Fantasie Grenzen übertreten zu dürfen, in den Kopf von jemandem zu schlüpfen, der anders denkt, als man es in der Realität darf. Ich will jedoch, dass beim Leser keine Fragen offenbleiben. Das finde ich extrem frustrierend. Meistens jedenfalls. Beim „Kindersammler“ wollte ich den Mörder davonkommen lassen.

Einen Kindermörder?

Ich dachte, der ist eine charismatische Figur, da könnte es eventuell eine Fortsetzung geben. So etwas wie „Das Schweigen der Lämmer“. In diesem einzigen Fall hat der Verlag gesagt, nein, das hält kein Leser aus, der muss weg.

Hatten Sie selbst schon mal das Verlangen, auszubrechen, etwas Verrücktes zu tun?

So einsam zu wohnen, wie wir das tun, ist ja schon nicht ganz normal. Die Italiener könnten so nicht leben. Die möchten, wenn sie aus der Tür heraustreten, sofort anfangen, mit den Nachbarn zu reden, und möglichst in fünf Schritten die nächste Bar oder den nächsten Bäcker erreichen. Wenn uns Italiener besuchen, sagen sie: „Complimenti, che bello!“, und insgeheim denken sie: „Oddio, bin ich froh, dass ich hier nicht leben muss!“

"Das Berlinische ist meine Leidenschaft"

Die Krimiautorin Sabine Thiesler
Die Krimiautorin Sabine Thiesler

© Christian Thiel

War die Toskana ein Sehnsuchtsort für Sie?

Wir machten hier eigentlich nur Ferien. Durch Zufall stießen wir auf eine romantische, einsame Mühle, die ich dann auch für mein Buch „Der Kindersammler“ benutzt habe. Irgendwann überlegten wir, ob wir hier nicht immer leben wollen, denn schreiben kann ich ja überall.

Sie hatten damals in Berlin eine erfolgreiche Karriere. Sie waren erst bei dem legendären Kabarett „Die Stachelschweine“ …

Anderthalb Jahre. Da war Wolfgang Gruner alias „Otto Schruppke“ noch Chef und Zugpferd. Seine Soloauftritte, mit denen er jeden Abend die Tagespolitik kommentierte, waren einfach sensationell.

Haben Sie auf der Bühne auch so berlinert wie Wolfgang Gruner? Das hört man jetzt nicht so.

Vielleicht ist es hier in Italien etwas verschüttet. Das Berlinische ist meine Leidenschaft. Ich habe sehr viele Theaterstücke im Berlinischen der 20er Jahre geschrieben. Und Kleists „Zerbrochenen Krug“, der bekanntlich im Versmaß ist, hab ich ins Berlinische übersetzt. Die Freie Universität nahm meine Version als Vorlage für Dialektstudien.

Sie haben fürs Fernsehen auch „Drei Damen vom Grill“ geschrieben. Was war die Idee dahinter?

Da stehen drei Frauen aus drei Generationen hinterm Tresen und verkaufen die berühmte Berliner Currywurst. Es ging um die Eskapaden in den Familien dieser drei Frauen. Ich habe 40 Folgen geschrieben, darunter alle mit Harald Juhnke.

Haben Sie auch mit ihm zusammengearbeitet?

Ich kannte ihn privat nicht. Aber er war einer der genialsten Schauspieler, die ich je erlebt habe. Niemand verkaufte meine Pointen besser. Brigitte Mira hat zum Beispiel gern am Ende noch ein „Ja“ oder ein „Nein“ angehängt. Und dann ist die Pointe kaputt. Trotzdem war auch die Mira natürlich eine großartige „Dame vom Grill“.

Ihr Mann hat von 1991 bis 1998 das Hansa-Theater in Berlin geleitet, die Bühne ist heute geschlossen.

Leider. Wir waren seinerzeit das erfolgreichste Theater Deutschlands, immer ausverkauft. Und mein Stück „Hochzeit bei Zickenschulze“ war eine Sternstunde, eine Berliner Posse mit Gesang.

Für die Berliner „TheaterGemeinde“ war Ihr „Zickenschulze“ die Aufführung des Jahres. Die „Berliner Zeitung“ schrieb: „Höhen des Irrsinns, wie sie Frank Castorf nur mit viel Aufwand erreichen könnte“. Der Tagesspiegel: „Deftiges, gut gemachtes Volkstheater“. Warum haben Sie das aufgegeben?

Wir hätten allein den „Zickenschulze“ zehn Jahre lang vor ausverkauftem Haus spielen können, es war nur nicht möglich. Da gab es anderweitige Verträge. Außerdem veränderte sich die politische Bühne, Rot-Grün stellte dann den Senat, und Berliner Mundarttheater wurde nicht mehr besonders geschätzt. Es gab Streit, auch um Subventionen. Darauf hat mein Mann gesagt, wenn wir hier nicht mehr gewollt sind, gehen wir eben.

In Ihren Büchern ist Wut durchaus ein Thema. Das ist ein Ihnen nicht unbekanntes Gefühl?

Ich denke, da geht es mehr um Hass. Bei meinen Protagonisten sitzen die Gefühle tiefer. Wut ist oberflächlich und spontan. Aber natürlich ist mir das nicht fremd. Ich bin schon ab und an wütend, dann raste ich aus, fange an zu schreien und zu schimpfen, was manchmal sehr befreiend ist. Das war das Erste, was ich auf Italienisch konnte.

Wenn Sie an Ihren Abschied von Berlin damals denken, empfinden Sie dann Wut?

Schauen Sie, Hamburg liebt sein Ohnesorg-Theater, da wird jedes Stück vom NDR aufgezeichnet. Berlin liebte sein Volkstheater nicht. Wir haben das Berlin der 20er Jahre in so vielen Stücken aufleben lassen, glauben Sie, der SFB, wie er damals noch hieß, wäre mal zu uns gekommen? Die haben gesagt, nein, so etwas zeichnen wir nicht auf. Die sind noch nicht einmal gucken gekommen. Obwohl unser Publikum getobt hat vor Begeisterung. Das regt einen schon auf.

Sie haben für den „Tatort“ von Radio Bremen die Kommissarin Inga Lürsen erfunden, jedoch nur die erste Folge geschrieben. Gab es da ebenfalls Streit?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja auch noch „Polizeirufe“ geschrieben.

Mit Jaecki Schwarz als Kommissar für den MDR. Bei einem wollten Sie, dass man Ihren Namen aus dem Abspann tilgt.

Da wurde das Drehbuch umgeschrieben, ohne mich zu fragen, Pointen wurden rausgestrichen, Sätze gesprochen, die nicht von mir waren, ich habe den Film gar nicht wiedererkannt. Aber das sind doch ganz alte Geschichten, die hatte ich schon völlig vergessen.

Die Einsamkeit der Toskana war Balsam."Ich will dem Mörder in den Kopf gucken"

Die Krimiautorin Sabine Thiesler
Die Krimiautorin Sabine Thiesler

© Christian Thiel

Es war wunderbar. Bücherschreiben ist Freiheit pur, ohne dass ein Produzent im Geist die Kosten addiert hat. Ich mochte diese Ermittlergeschichten nicht mehr. Da liegt eine tote Frau im Wald, die Spurensicherung kommt, dann wird gefragt, wer ist es wohl gewesen? Anschließend Gespräche mit Freunden und Familie, die falsche Spur, und zum Schluss gibt es die Szene in einem alten Industriegelände mit Verfolgungsjagd. Das finde ich langweilig. Mich interessieren Psychothriller, ich will dem Mörder in den Kopf gucken.

Die Krimiautorin Donna Leon lebt auch in Italien. Sie hat sich vertraglich zusichern lassen, dass ihre Bücher hier nicht erscheinen dürfen.

Ich kann mir denken, warum. In einem meiner Romane gibt es bei uns im Ort einen einzigen Baustoffhändler, den Bürgermeister und den Pfarrer, die es alle mit derselben Frau treiben. Da dachte ich, als das auf Italienisch erschien, jetzt kommt der echte Baustoffhändler und ich kriege ein Problem. Er kam dann wirklich und fand das großartig, was ich aus ihm gemacht habe. Die Italiener wären bestimmt auch stolz auf Donna Leon, sie würden sie lieben.

Im Frühjahr erschien „Basta Amore“, ein Buch, in dem Sie mit Italien abrechnen. Gibt es das auch auf Italienisch?

Das ist doch keine Abrechnung. Ich erzähle vielmehr auf humorvolle Weise, wie kurios es im italienischen Alltag zuweilen zugeht. Die Italiener waren früher stolz auf ihr Land, da hätten sie mich für die leiseste Kritik gevierteilt. Heute würden sie mich dankbar und weinend in die Arme schließen, weil sie selber unter der Situation leiden. Bella Italia war das Traumland auch für Italiener, und niemand wollte irgendwo anders hin. Jetzt lernen die Kinder Deutsch in der Schule. Und sogar der Elektriker fragt mich: „Wie kann ich das machen, dass ich nach Deutschland komme?“

Sie schildern, wie man in Italien eine Woche braucht, um ein Einschreiben aufzugeben, Jahre, um mit der Elektrizitätsgesellschaft klarzukommen …

… hören Sie auf! Mit der Elektrizitätsgesellschaft geht es gerade wieder los!

Was war denn Ihre schlimmste Erfahrung?

Vielleicht dieses kleine Büro, das ich angebaut habe. Wenn wir unser Anwesen verkaufen wollen, muss das eingetragen sein. Das zu legalisieren, hat mich zwei Jahre gekostet, in denen ich dreimal in der Woche auf dem Amt war und tausende Euro ausgegeben habe. Wir mussten für diese acht Quadratmeter Büro zwei Parkplätze nachweisen und angeben, wo das Abwasser hingeht. Was für Abwasser? Da ist gar kein Anschluss. Und was für Parkplätze? Ich habe so viel Platz, ich könnte einen Antrag auf ein Parkhaus stellen. Das ist der Wahnsinn. Aber jetzt habe ich die Bescheinigung.

Mit dem neuen Ministerpräsidenten Matteo Renzi wird es nun besser?

Ich habe den Eindruck, der wird nicht ernst genommen. Die Schlamperei geht doch wieder los. Natürlich war das richtig, was sein Vorgänger Monti gemacht hat, dieser extreme Sparkurs und die Verfolgung der Schwarzarbeit nach den Berlusconi-Jahren. Doch die Italiener haben darüber ihre fröhliche Offenheit verloren. Früher sah man sich einmal an der Wursttheke und alle waren gleich „amici“. Heute denkt jeder an sich und es geht nur noch ums Geld.

Italienische Luxusmarken boomen nach wie vor. Trotzdem klagt Patricio Bertelli, Prada-Geschäftsführer, der Inlandsmarkt sei praktisch zusammengebrochen. Die Italiener kaufen nur noch das Nötigste.

Prada tragen die Touristen. Den berühmten italienischen Chic sehe ich nicht. Hier auf dem Land kleiden sich die Leute auf dem Wochenmarkt ein, da gibt es Hosen für drei Euro. Leider sehen die auch so aus. Es ist traurig.

Mal ehrlich: Ihnen fehlt die Currywurst!

Um Himmels willen, ich esse sowieso kaum Fleisch, Schwein schon gar nicht. Nein, wenn es ums Essen geht, wird mir künftig einiges fehlen. Es ist wirklich grandios, welchen herrlichen Wein und welch fantastisches Öl man hier kaufen kann. Wenn Olivenernte ist und dieses trübe, dicke Öl kommt, das kennt man so in Deutschland gar nicht. Dann zusammen mit Knoblauch auf geröstetem Brot, mit ein bisschen Salz … das ist der Hammer. Selbst im Supermarkt gibt es meist nur das, was in Italien gerade geerntet wird. Frisch und aus der Region, das ist für mich positiver Patriotismus. Es wird nicht leicht, sich von allem hier zu trennen, trotzdem sitzen wir auf gepackten Koffern.

Ihr jüngster Krimi spielt auf einem Boot. Ist das Ihre neue Sehnsucht?

Wir haben tatsächlich ein Motorboot. Und vieles in dem neuen Buch ist selbst erlebt. So ein Boot ist für einen Thriller eine interessante Konstellation …

... hatten Sie auch schon mal einen Passagier, der sich als böse erwies?

Nein, wir fahren immer nur zu zweit und nehmen keine Fremden mit. Wussten Sie übrigens, dass es im Mittelmeer 50 Haiarten gibt, unter anderem auch den Weißen Hai? Ich bin beim Recherchieren auf eine Karte gestoßen, da war jeder Hai-Zwischenfall mit einem roten Punkt markiert. Das ganze Mittelmeer ist voll mit roten Punkten! Ich gehe da nie mehr schwimmen.

Ich dachte, Ihre kriminelle Fantasie wäre so eine Art Therapie gegen Ihre Ängste!

Das stimmt, nur in dem Fall kann das nicht funktionieren, weil die Gefahren auf dem Meer real sind. Sturm bleibt Sturm, da bekommen Sie Angst, die nicht therapierbar ist. Wenn Sie nach meiner neuen Sehnsucht fragen, wir wollen zurück nach Deutschland, an die Nordsee. Ich vermisse nach 14 Jahren in Italien die deutsche Sprache – und ein bisschen auch die deutsche Bürokratie. Sie ist so wunderbar berechenbar – ein Traum.

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