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Wir sind auch mal Vertriebene. Die überlange „Lindenstraße“-Jubiläumsfolge am Sonntag (ARD, 18 Uhr 50) wird live gespielt und gesendet. Das erste Mal in der 30-jährigen Geschichte der Familienserie. Hier proben Lisa Dagdelen (Sontje Peplow, links), Helga Beimer (Marie-Luise Marjan) und Klaus Beimer (Moritz A. Sachs) ihren Live-Auftritt.

© WDR/Steven Mahner

30 Jahre "Lindenstraße": Wir haben es schön miteinander

Ein Leben ohne „Lindenstraße“? Das ist möglich, aber sinnlos. Gedanken zum 30-jährigen Jubiläum der ARD-Familienserie.

Na, bitte. Wer sagt denn, dass Hans W. Geißendörfer, dem Vater der „Lindenstraße“, und seinem Autorenteam die passenden Ideen ausgehen? Am Ende eines Jahres, in dem die Themen Flüchtlinge und Heimatlosigkeit so bestimmend waren, sitzt Mutter Beimer fast auf der Straße – genau 30 Jahre nach ihrem Einzug in Deutschlands berühmteste Fernsehkulisse. Aus der Lindenstraße 3 sollen schicke Eigentumswohnungen gemacht werden, japanische Investoren wollen zuschlagen. Die Adoptivtochter des ebenfalls seit Beginn der „Lindenstraße“ mitwirkenden Doktor Dressler soll das Haus mit der Nummer 3, wo die Beimers, Zenkers und Zieglers ihre Mietwohnung haben, verkaufen.

Gut, der Bogen von Hunderttausenden von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet Syrien, die nach Deutschland strömen, zum kleinbürgerlichen Glück und Elend der Familie Beimer ist weit gespannt. Viele der einst 15 Millionen „Lindenstraßen“-Zuschauer haben sowieso schon länger nicht mehr am Sonntagabend vorbeigeschaut.  Sie dürften verblüfft sein, wenn sie am heutigen Sonntag zur Jubiläumssendung kurz vor 19 Uhr das Erste einschalten. Nicht nur, weil es bei den Beimers, Dressler und Co. zurzeit ans Eingemachte geht, an ihre plüschigen Mietwohnungen, sondern auch, weil sich die Produktion zu 30 Jahren „Lindenstraße“ etwas Besonderes hat einfallen lassen.

Die Jubiläumsfolge wird live produziert

Diese Folge 1559 wird live ausgestrahlt. Zum 30. Jubiläum spielt das „Lindenstraßen“-Ensemble erstmals eine ganze Folge 1:1, auch die Filmmusik wird live eingespielt. Statt mit zwei wird die Folge mit zwölf Kameras gefilmt, die Regie schaltet für 26 Szenen zwischen sechs Kulissen hin und her. Eine Reminiszenz an das frühe Fernsehspiel, mit modernster Technik und multimedial vernetzt, wie der WDR stolz verkündet. Die Folge spielt am selben Tag, an dem sie auch ausgestrahlt wird (nicht am Donnerstag der Woche, wie seit 30 Jahren). Aktuelle Ereignisse vom Tag sollen noch in die Sendungen eingebaut werden – ein kreativer Kniff auch, um die Aufmerksamkeit wieder zu erhöhen.

Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die in Köln gedrehte, in München spielende „Lindenstraße“ am Montag Gesprächsthema im Büro war. Mittlerweile muss man sich unter Kollegen fast schämen, wenn man zugibt, „Lindenstraße“-Gucker zu sein. Von einst fast 15 Millionen Zuschauern ist ein Sechstel im Boot geblieben; zuletzt schalteten 2,5 Millionen Menschen ein. Beim 25-jährigen Bestehen hatte die Zuschauerzahl bei vier Millionen gelegen. Kann das lange gut gehen? Der WDR verwies bei den großen Presseterminen zum „Lindenstraße“-Jubiläum darauf, dass der aktuelle Vertrag bis zum nächsten Jahr läuft. ARD-Programmdirektor Volker Herres hört sich aber nicht so an, als ob er an ein baldiges Auslaufen der Serie denkt. „Neben ,Tatort’ und ,Tagesschau’ zählt sie zu unseren bekanntesten Marken.“

Recht hat er. Ein Sonntagabend ohne „Lindenstraße“ wäre tatsächlich wie ein Samstagnachmittag ohne Fußball-Bundesliga oder ein Weihnachtsfernsehprogramm ohne die Frank-Capra-Tragikomödie „Ist das Leben nicht schön?“ mit James Stewart. So wie sich dort, in der Kleinstadt Bedford Falls, ein gewisser Kleinbürger George Bailey wünscht, er wäre nie geboren, und Selbstmord begehen will, vom Engel Clarence aber daran gehindert wird, indem dieser ihm zeigt, wie das Leben in der Kleinstadt ohne George Bailey verlaufen wäre, so ist es die „Lindenstraße“ gewesen, die ein paar Millionen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten einmal die Woche ein Licht ins Fenster gestellt hat, sodass die harten, politisch-gesellschaftlichen Themen Aids, Rechtsextremismus, militanter Islamismus, Rassismus, Atomenergie oder Gewalt in der Ehe eine Art kritisch-unterhaltsamer (meistens sozialdemokratisch eingefärbter) Ableitung erfuhren.

Gut, das klingt jetzt ein bisschen naiv, ein bisschen einfach. Aber das ist das Fernsehen ja auch, beziehungsweise dessen Funktion: ein fester Ort, eine feste Zeit, mit Ritualen und Wandlungen, die ihre eigene – im Falle der „Lindenstraße“ sogar realistische – Ordnung haben, in der alle Probleme und Widersprüche auf wundersame Weise aufgehoben werden oder zumindest für 28 Minuten aufgehoben sind. Auch in der „Lindenstraße“ übrigens wird das deutsche Weihnachtsfest schon seit Längerem nicht mehr nur als heile Welt, als große Zusammenführung inszeniert, sondern als Fest der Spaltungen und Spiegelungen. Zeitgemäßes Highstyle-Serienfernsehen wie „Deutschland 83“? Das sieht anders aus, kann aber auch woanders laufen, bei RTL.

In der "Lindenstraße" werden keine Tabus mehr gebrochen

Sicher, ein Problem der „Lindenstraße“ ist, dass sie keine Tabus mehr brechen kann, was in den Anfangsjahren ein Erfolgsrezept war. Da gab es noch keine Smartphones, kein Internet, kein Facebook, Privat-TV steckte in den Kinderschuhen. 1990 küssten sich die Figuren Carsten Flöter und Robert Enge, der erste Kuss zwischen Schwulen im deutschen Fernsehen löste eine Welle an Reaktionen aus. Vorher hatten der Tod der Figur Benno Zimmermann an Aids für Diskussionen gesorgt. Auch das Abdriften von Klausi Beimer in die rechte Szene während der Asyldebatte mit brennenden Flüchtlingsheimen Anfang der 1990er Jahre lief noch heiß, spätere Geschichten zu Kindesmissbrauch oder zum Islam Konvertierten mit Terrorverbindungen verpufften eher. Dass in der „Lindenstraße“ im vergangenen Jahr gestritten wurde, ob eine Moschee in der Straße gebaut werden kann, bekamen nur noch die Stammzuschauer mit.

Dafür scheint der familiäre Zusammenhalt von Darstellern und Mitwirkenden stabiler zu werden. Der 74-jährige Hans W. Geißendörfer holte Tochter Hana mit ins Boot, die auch als Produzentin fungiert. Im Tagesspiegel-Interview kündigten sie an, dass das Thema Flüchtlinge demnächst in die Serie kommt. Sie hätten nur ein einziges Vorbild – das sei die Wirklichkeit. Längst sind ja Fiktion und Wirklichkeit bei der „Lindenstraße“ miteinander verwoben. Irene Fischer, die die Anna Ziegler spielt, schreibt die Drehbücher. Sie ist auch mit Dominikus Probst, einem der Regisseure der Serie, verheiratet. Vielleicht kann die Autorin ihren eigenen Auszug und den von Mutter Beimer verhindern. Die sprach vergangenen Sonntag aus, was ein Fan beim etwaigen Serienende denkt: „Wir hatten es so schön miteinander. Warum kann die Zukunft nicht bleiben, wie sie war?“

„Lindenstraße“, Sonntag, ARD, 18 Uhr 50

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