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Der Terrorist und der Sportler. Im Gefängnis Stammheim lernen sich das Ex-RAF-Mitglied Peter-Jürgen Boock (links) und der Boxer Charly Graf kennen. Foto: NDR

© NDR

Ali von Waldhof: Knockout schlägt er sich selbst

Baracke, Ring, Knast – und Champion: Die Doku "Ein deutscher Boxer" über Charly Graf - und wie Terrorist Peter-Jürgen Boock ihn dazu brachte, der Gewalt abzuschwören.

Von Katrin Schulze

Dostojewski, Faulkner, Hesse, sie hätten für Charles Graf auch Tänzer sein können. Oder Staatschefs. Gehört hat der Boxer von ihnen noch nie, als er ins Hochsicherheitsgefängnis nach Stammheim kommt und das ehemalige Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF) Peter-Jürgen Boock kennenlernt. Boock bringt den bulligen Mann, der in jungen Jahren lieber prügelte als paukte, nicht nur zur großen Literatur, sondern auch auf einen anderen Weg. Peu à peu begreift Graf, dass Worte über dieselbe Kraft verfügen können wie Faustschläge. Und beginnt mit Anfang 30 ein neues Leben.

Dass ein Terrorist jemanden dazu animiert, der Gewalt abzuschwören, darf erstaunen. Genauso wie die gesamte Dokumentation, in der Grimme-Preis-Träger Eric Friedler viel mehr erzählt als das Leben eines Sportlers. „Ein deutscher Boxer“ ist eine Geschichte über einen Lebenskampf. Über jemanden, der schon als Außenseiter geboren wird und diese Rolle, auch wegen seiner Hautfarbe, einfach nicht mehr loswerden will.

Als Sohn einer ungelernten deutschen Arbeiterin und eines US-amerikanischen Soldaten wächst Charles Graf, der von allen nur Charly gerufen wird, in den sogenannten Benz-Baracken in Waldhof am Rande Mannheims auf, wo „physische Präsenz Trumpf war“, wie Graf Jahre später erzählt. Der kleine Charly lernt schnell, wie man sich in der Gegend durchboxt, und beginnt mehr aus dieser Tatsache zu machen. Er zieht sich Boxhandschuhe über und trainiert. „Ali von Waldhof“ werden sie Graf bald nennen, weil er ähnlich dynamisch und elegant durch den Ring tänzelt wie der große Muhammad Ali – und weil er schnell Erfolge holt. Der junge Charly Graf aus dem Mannheimer Ghetto gilt als eines der aussichtsreichsten deutschen Boxtalente.

Doch er vermasselt es. Denn vom Milieu in Mannheim trennen kann er sich nicht. Dort findet er die Anerkennung, die ihm bis dato versagt war, wegen Zuhälterei und Glücksspiels landet er immer wieder im Gefängnis. „Man kann niemanden resozialisieren, der in der Vergangenheit nicht sozialisiert war. Ich war ein hochgradiger egoistischer, asozialer Mensch“, erzählt Graf rückblickend. Manchmal fällt es ihm ein bisschen schwer die Geschehnisse von damals in Worte zu kleiden, wenn er die Orte besucht, die ihn prägten. Aber es sind gerade Begegnungen, die diese Dokumentation von anderen ihrer Art unterscheidet.

Der ehemalige Boxer spürt seiner Vergangenheit nicht nur nach, er trifft sie auch. Mit seinem Lieblingskünstler Konstantin Wecker singt er, mit RAF-Terrorist Boock gerät er auf einer Holzbank vor den Gefängnismauern ins Plaudern und mit dem Mann, dem er früher auf dem Schulweg das Essen abnahm, albert er heute herum. Doch er geht auch zurück zu seiner Kindheit, dorthin, wo früher die Baracken standen. Und er geht zurück in den Knast.

Nachdem Graf zu Beginn der achtziger Jahre den Aufstand gegenüber Wärtern geprobt hat, wird er nach Stammheim verlegt – wo er auf Boock trifft. „Wenn mir jemand zehn Jahre vorher gesagt hätte: Du wirst mal im siebten Stock in Stammheim mit einem Menschen aus dem Mannheimer Milieu, der da als Zuhälter und Geldeintreiber tätig war, ins Gespräch kommen und deine Runden laufen, hätte ich gesagt: Und sonst noch was?“, erzählt Boock. „Es war schon eine sehr auseinanderklaffende Biografie, die da jeder mitbrachte.“ Hier der Boxer aus dem Ghetto, dort der Linksextreme. Freunde werden sie trotzdem.

Boock ist es schließlich, der Graf zum Lesen bringt und ihn auch überredet, das weiterzuverfolgen, was er am besten kann: Boxen. Mit massivem Übergewicht fängt Charles Graf wieder mit dem Training an. Er läuft und läuft. Ernst nimmt ihn so richtig trotzdem niemand, als er ankündigt, einen echten Kampf bestreiten zu wollen. Doch es kommt zu einem bis heute einzigartigen Comeback. Aus dem Ludwigsburger Knast heraus, in dem er inzwischen einsitzt, gewinnt Charly Graf 1984 ohne professionelles Training die Deutsche Meisterschaft im Schwergewicht. Ein Jahr später tritt er wieder an, verliert aber unter mysteriösen Umständen gegen einen gewissen Thomas Classen – Schiebung wittern viele.

Nach der dubiosen Niederlage beendet Graf die Boxkarriere und verlässt Mannheim, seinen Lebenskampf aber erklärt er für gewonnen. Innerhalb von zwölf Jahren ist aus dem Zuhälter ein Viehtreiber im Allgäu geworden. Das mag ein wenig zu schön klingen, doch Regisseur Eric Friedler verzichtet in der Dokumentation auf allzu viel Drama und Pathos. Nur ganz am Ende wird die Geschichte auf einmal überraschend emotional.

„Ein deutscher Boxer“, ARD 23 Uhr 45

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