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Christian Lindner im Studio von „Anne Will“

© imago images/Jürgen Heinrich

„Anne Will“ über Steuerpolitik: Plötzlich ging es nur noch um die hohen Mieten

Thema bei Anne Will war eigentlich, wie der Milliardenüberschuss des Staates genutzt werden könnte. Dann gab eine Bemerkung dem Talk eine Wende.

Das Einkommen stagniert, die Lebenshaltung wird immer teurer: So sieht die Realität für viele Bürger aus. Ein Milliarden-Überschuss im deutschen Bundeshaushalt könnte dafür genutzt werden, um etwa die Steuerlast zu senken. Anne Will fragte deshalb in ihrem Talk am Sonntagabend: Wird jetzt die Mittelschicht entlastet?

Ralph Brinkhaus, Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, legte es offenbar nicht darauf an, auf dem Bildschirm besonders volksnah zu wirken. Der Politiker, der süffisant lächelnd betonte, „dass Deutschland ein gutes Land ist, auch wenn es einigen schlecht geht“, verspricht sich mehr von Investitionen und Strukturhilfen denn von Entlastungen der Bürger.

Diese Zuwendungen fließen unter anderem in die Automobilindustrie, die Landwirtschaft und den Verteidigungsetat – den Brinkhaus gleich zweimal hervorhob.

Für FDP-Chef Christian Lindner ein ziemliches Unding: Milliardenbeträge verschwänden erstens auch in „Geldgräbern“ – dazu zählte er neben immer noch nicht eröffneten Berliner Großflughafen Flughafen BER auch den Kohleausstieg. Außerdem bräuchten Bürger auch „private Spielräume“ – die sich aber den meisten nur dann eröffnen, wenn „genug netto vom brutto bleibt“. Ein Klassiker der FDP.

Walter-Borjans bei „Anne Will“: „Denn auch Investitionen sind für die Bürger“

Auch Norbert Walter-Borjans, seit Dezember 2019 Parteivorsitzender der SPD, sähe mittlere und kleinere Einkommen gern entlastet – auch um die Kauf- und damit die Wirtschaftskraft zu erhalten. Andererseits will seine Partei ebenfalls investieren – in Schulen und Infrastruktur, „denn auch Investitionen sind für die Bürger“.

Anette Dowideit, Journalistin der „Welt“, hatte einen etwas differenzierteren Blick. Sie hat ein Buch über die deutsche Mittelschicht und deren Sorgen geschrieben. Das Problem sei nicht nur das Geld, betonte sie, sondern die zunehmende Unsicherheit, in der Menschen leben würden. Jeder zweite neu ausgestellte Arbeitsvertrag in Deutschland ist befristet, daher hätten auch Personen mit einer Anstellung das Gefühl „nicht mehr anzukommen“.

Vorbei die Zeiten, in denen man sorglos ein Eigenheim abbezahlen konnte, weil man sicher war, bis zur Rente im Betrieb zu bleiben. Stattdessen fragen sich viele Menschen laut Dowideit: „Wofür zahle ich das alles?“ Insbesondere wenn trotz staatlicher Milliarden-Investitionen die Straßen immer noch schlecht, die Schulen marode und das Internet langsam ist.

„Das ist wie auf dem Basar“

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands und selbst Mitglied der Linkspartei, versuchte es mit einem anderen Ansatz: Steuersenkungen würden der Mittelschicht und auch Geringverdienern wenig nützen. Sinnvoller wäre eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. Zudem plädierte er für eine Erneuerung des Rentensystems, in das irgendwann alle einzahlen sollten: auch Beamte und Politiker.

Für so tiefgreifenden Maßnahmen bräuchte es aber einen genauen Plan, den würden aber die Verantwortlichen laut Schneider nicht liefern: „Das ist wie auf dem Basar. Der eine sagt: 'Gib mir fünf Milliarden für dies', der andere sagt 'Gib mir was für Schulen'“. Besonders Union-Strahlemann Ralph Brinkhaus war von Schneiders Aussagen nicht sonderlich begeistert: „Sie sagen seit 20 Jahren in Talks, wie schlecht alles ist!“

„Sie können nicht alles schönreden“

Schneider konterte: „Sie können nicht alles schönreden oder wegreden.“ Sogar Angehörige von Berufen, die noch vor wenigen Jahrzehnten als völlig krisensicher galten, gehen mittlerweile Zweit- und Drittjobs nach. Etwa Polizisten in Bayern oder Hamburg, die sich als Pizzalieferanten oder Security-Mitarbeiter etwas dazuverdienen.

Unter anderem, weil das Gehalt für die Miete nicht mehr reicht. Eine Erkenntnis, die dem Talk eine neue Wendung gab: Plötzlich ging es nicht mehr darum, wie die Politik konkret die Mittelschicht entlasten soll – sondern wie, wo und zu welchem Preis diese Mittelschicht künftig überhaupt wohnen wird.

Ralph Brinkhaus' Antwort zur Wohnungsnot lautet in erster Linie „bauen, bauen, bauen“, auch die Mietpreisbremse in den Großstädten „wirke natürlich“. Aufmerksamen Zuschauern dürfte seine Einschränkung „teilweise“ aufgefallen sein.

„Anne Will“: Ballungsräume, die „austrocknen“ könnten

Die Alternative zum teuren Wohnen in der Stadt scheint das Leben auf dem Land zu sein, glaubt Journalistin Anette Dowideit: Allerdings könnte das bedeuten, dass die Ballungsräume „austrocknen“.

Soll heißen: dass bald niemand mehr dort wohnt, der die Stadt mit seiner Arbeitskraft am Laufen hält – Feuerwehrmänner, Polizisten, Krankenpfleger und Erzieherinnen.

Lindner und die armen Gutverdiener

„Und fast jeder vierte Beschäftigte in der Industrie zahlt den Spitzensteuersatz“, rechnete Christian Lindner vor: Der beginnt bei einem Jahreseinkommen von knapp über 57.000 Euro, also dem Doppelten des deutschen Durchschnittseinkommens. Noch 1980 musste man das Fünffache des Durchschnittseinkommens verdienen, um überhaupt für den Spitzensteuersatz in Frage zu kommen.

„Ich glaube, wenn jemand das Doppelte des Durchschnittseinkommens verdient, ist er noch nicht in der Champagneretage der Gesellschaft angekommen“, bilanzierte Lindner.

Das Fazit der Runde fiel gemischt aus. Auf dem Papier wollen alle gerne entlasten, konkret ist wenig zu erwarten, insbesondere nicht von Seiten der Union – wie auch Lindner zu Brinkhaus meinte: „Steuerentlastung ist keine ihrer Prioritäten“. Ralph Brinkhaus zumindest hat derzeit tatsächlich andere Verpflichtungen: Er teilte der Runde und den Mittelschichts-Zuschauern mit, er sei derzeit Redner auf „sehr vielen Neujahrsempfängen“.

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