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Ausnahmezustand: Das Team um LKA-Ermittlerin Ursula Thern (Nina Kunzendorf, links) soll die Familie von Simon Dreher (Benjamin Sadler, hinten) schützen. Konflikte sind dabei unvermeidlich.

© ARD Degeto/Christiane Pausch

ARD-Drama "Das Programm": Leben im Zeugenschutzprogramm

Das spannende Krimi-Drama "Das Programm" mit Nina Kunzendorf und Benjamin Sadler zeigt, was es heißt, sich einem Zeugenschutzprogramm anzuvertrauen. Heute um 20.15 Uhr, ARD.

Zeugenschutzprogramm. Hat man schon mal gehört. Die Polizei kümmert sich um Menschen, die in einem sehr wichtigen Prozess aussagen wollen, und zwar so, dass die Zeugen ihre Aussagen überleben. So oder ähnlich soll ein Zeugenschutzprogramm funktionieren. Wer auch immer es ganz genau wissen will, für den ist „Das Programm“ Pflicht. Zuschauerpflicht ist der Film sowieso. Der Til-Schweiger-„Tatort“ war halt, was solch ein Film sein will, eine Einbahnstraße der Gewalt, Eskalation und Emotion bis hin zum blutigen Elfmeterschießen. Peng, und du bist tot.

Geht auch cleverer, viel cleverer. Auch „Das Programm“ spielt in Hamburg, auch hier sitzt ein Schwerstkrimineller ein. Philip Darankow (Wladimir Tarasjanz) wartet auf seinen Prozess. Aus der U-Haft heraus lässt er den Belastungszeugen Victor Miro (Heiner Lauterbach) mitsamt Personenschutz in die Luft sprengen. Jetzt braucht das LKA einen neuen Kronzeugen – und findet ihn in dem Banker Simon Dreher (Benjamin Sadler). Dreher ist in Darankows Geldwäsche verwickelt. Dreher wendet und windet sich, erst als auf ihn geschossen wird, stimmt er dem Plan von LKA-Beamtin Ursula Thern (Nina Kunzendorf) zu: Seine gesamte Familie – Frau Rieke (Stephanie Japp), Tochter Lona (Paula Kalenberg) und Sohn Anton (Daan Lennard Liebrenz) – geht mit ins Zeugenschutzprogramm.

Hier beginnt die kluge Informationspolitik von Autor Holger Karsten Schmidt. Szene für Szene, Sequenz für Sequenz erfahren die Drehers und damit die Zuschauer, was das bedeutet: der Abbruch bisherigen Lebens, der Aufbruch in ein neues, aus den Drehers werden die Schmidts, Identitäten werden komplett ausgetauscht. Rieke Dreher wollte mit dem Segellehrer Rolf Kahles (Kai Scheve) in Portugal ein neues Leben anfangen, Tochter Lona hat sich mit dem Musiker David Wendt (Ludwig Blochberger) verlobt. Statt Hamburg Südtirol, statt Freunden, Verwandten, Affären und Verlobten nur noch das LKA-Team aus Thern, Nadja Lenz (Alwara Höfels) und Mario Kreutzer (Carlo Ljubek). Eine ungleiche Zweckgemeinschaft ist das: Während die Beschützer auch intimste Geheimnisse der Beschützten kennen, wissen diese fast nichts über die Beschützer. Und alle wissen: Das Programm dauert nur so lange, wie Simon Dreher lebt. In dieser Drucksituation müssen individuelle wie familiäre Konflikte aufbrechen, als allen klar wird, dass Simon Dreher den Lebensstandard der Familie mit illegalen „Berater“–Tätigkeiten finanziert hat. Was hält die Familie aus, die Loyalität untereinander, wie halten die Mitglieder die Aufgabe von Lebensträumen aus, akzeptieren sie den neuen Lebenssinn, zumal das Leben jetzt von einer fremden, alles bestimmenden Macht dirigiert und kontrolliert wird?

Simon Dreher spielt sein Doppelspiel offensichtlich weiter, er gibt kaum prozessdienliche Informationen weiter. Ermittlerin Thern, des Katz-und-Maus-Spiels überdrüssig, arrangiert die Gegenüberstellung mit einer anderen Belastungszeugin. Allen Sicherheitsmaßnahmen zum Trotz kommt es zur Schießerei mit der Darankow-Truppe. Heißt: Der Gangster hat einen Informanten im Zeugenschutzprogramm. Jetzt muss sich Dreher entscheiden, ob er gegen Darankow aussagt – was die Gefahr für sich, die Familie und die LKA-Leute erhöht. „Das Programm“ wechselt aufs nächste Spannungslevel. Und die 180 Minuten entwickeln eine Sogkraft sondergleichen fürs Publikum. „Das Programm“ entfaltet existenzielle Absolutheit, Ereignisse und Entscheidungen werden unumkehrbar, alle Figuren müssen zusehen, wie sie und ob sie auf der schiefen Ebene standfest agieren können.

Nina Kunzendorf spielt die Beamtin kalt wie einen Kühlschrank

Und Ursula Thern fühlt sich herausgefordert. So präzis wie cool achtet sie auf die Einhaltung des Programm-Codes („Wer die Regeln nicht einhält, für den gibt es keine Garantie“), Bedenken werden mit strengen Argumenten beiseitegeschoben. Nina Kunzendorf spielt die LKA-Beamtin kühlschrankkalt, es bleibt in der Schwebe, ob ihre Figur mehr dem Fall oder mehr den involvierten Personen zugetan ist. Sachlich im Grundton, funktional im Agieren, das auch Unmenschliche eines Zeugenschutzprogramms – hier wird es Mensch! Und als alleinerziehende Mutter ist sie sowieso einer, aber ein anderer.

Der Film leistet über die Situation narrative Basisarbeit und über die Personage emotionalen Nahkampf. Vor allem Tochter Lona steht hier im Zentrum. Sie will David nicht einweihen, denn dann müsste er seinen Musiker-Lebenstraum aufgeben. Paula Kalenberg agiert direkt, unvermittelt, ergriffen, doch nicht überwältigt von der Entwicklung. Die Figur kommt dem Zuschauer sehr nahe, näher als Simon Dreher, von Benjamin Sadler in der Spur gehalten zwischen geldgierigem Banker, verantwortungsvollem Vater und Zeugen der Anklage; Sadler zeigt ökonomisches Spiel.

Oh ja, „Das Programm“ versammelt auch im weiteren Figurenkranz ein großartiges Ensemble, Stephanie Japp als Mutter und Ehefrau, Alwara Höfels und Carlo Ljubek als Personenschützer akzentuieren Ausnahmezustand und Anspannung, es gilt das menschlich verständliche wie das psychologisch glaubwürdige Maß.

„Das Programm“ verliert sich nicht in Nebenplots. Autor Schmidt entwirft ein Rätselspiel, kein Labyrinth, Regisseur Till Endemann zieht einen doppelten roten Faden durchs Geschehen – Drama und Krimi, und das im angemessenen Mischungsverhältnis. Seine Filmsprache ist dabei klar, notwendigerweise, wo die Figuren schon hell-dunkel changieren. „Das Programm“ ist Hochspannung und ein Höhepunkt im noch frühen Fiktionsjahr 2016.

„Das Programm“, ARD, Montag, um 20 Uhr 15

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