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Zwei Visionäre: Willy Brandt mit US-Präsident John F. Kennedy bei dessen Besuch in Berlin 1963.

© dpa

Arte-Doku über Willy Brandt: Der Gegenwärtige

Würdigung zum 100. Geburtstag: Eine Arte-Dokumentation versucht, den Politiker Willy Brandt zu fassen. Mit einer Fülle an Zeitzeugen und Videodokumenten gelingt das recht gut - allerdings gibt es auch Leerstellen.

Fotograf Konrad Rufus Müller hält zwei Aufnahmen in die Kamera: Willy Brandt im karierten Hemd, aus vollem Halse lachend – ein Bild der Lebensfreude. Daneben Willy Brandt auf einer Bank sitzend, den gesenkten Kopf auf den Griff seines Wanderstocks gestützt – ein Bild, das genau das Gegenteil ausdrückt. Müller erinnert sich an die Situation. Ungefähr 30 Leute seien bei einer Wanderung um Brandt herumgestanden. Niemand habe sich getraut, ihn anzusprechen. „Du kannst ihn auch nicht in den Arm nehmen“, sagt Müller, der bei der Vergegenwärtigung dieser Szene unwillkürlich in die Gegenwartsform wechselt. Das passiert auch Wibke Bruhns, die Brandt einst für eine „Stern“-Reportage in den Familienurlaub begleiten durfte. Brandt habe die Leute nicht an sich herangelassen, sagt sie: „Über Ängste oder so etwas kannst du mit ihm nicht reden.“

Vielleicht ist Willy Brandt wirklich noch „gegenwärtig“, weil sich ihm bis heute viele Menschen verbunden fühlen. Nüchterner gesagt: Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler hat die Nachkriegspolitik entscheidend geprägt und viele Menschen für sich eingenommen. Und natürlich beteiligt sich auch das Fernsehen an dem Gedenken an Willy Brandt, der am 18. Dezember 100 Jahre alt geworden wäre. Autor André Schäfer zeigt in seinem Dokumentarfilm „Willy Brandt“ die „Klassiker“, ohne die es nicht geht: Das „Mehr Demokratie wagen“-Zitat, den Kniefall von Warschau, die Verleihung des Friedensnobelpreises.

Aber seine Auswahl an Archivmaterial setzt auch Eckpunkte, die Brandts Politikverständnis und seine visionären Ziele zum Ausdruck bringen: Sein prophetischer Satz „Der Tag wird kommen, an dem das Brandenburger Tor nicht mehr an der Grenze liegt“, gesprochen als Berlins Regierender Bürgermeister bei der 1.-Mai-Kundgebung 1959. Oder sein Werben für die Ostverträge im Bundestag, bei dem er „die Freundschaft mit den Völkern des Ostens“ beschwört und rhetorisch fragt: „Ist das nichts?“

Brandt setzte Emotionen frei, die hier in manchen Ausschnitten mit den Händen zu greifen sind, etwa bei Gerd Ruges Reportage vom DDR-Besuch in Erfurt 1970 oder beim Begeisterungssturm im Bundestag, als 1972 der Misstrauensantrag von CDU/CSU gescheitert war. Der Reiz des Originals ist ein Trumpf, den das Medium ausspielen kann, der Reiz der unmittelbaren Begegnung ein anderer. Wenn Egon Bahr den legendären Satz Herbert Wehners vor der SPD-Fraktion zitiert („Willy, du weißt, wir alle lieben dich“) und dabei dessen schnarrende Art imitiert, weiß man, wie viel Abneigung unter Parteifreunden herrschen kann.

Schäfer montiert das Archivmaterial mit Interviews, er hat eine stolze Zahl von – man darf wohl sagen: Brandt durchweg wohlgesonnenen – Wegbegleitern vor die Kamera geholt: Bahr, der langjährige Vertraute, und Redenschreiber Klaus Harpprecht bilden die Fixpunkte. Dazu Brandt-Sohn Peter, der ehemalige SPD-Chef Franz Müntefering, der Historiker Bernd Rother sowie einige Journalistinnen und Journalisten.

In der Analyse und der Genauigkeit bleibt der Film allerdings hinter manchem zurück, was hier und da schon zu lesen war. Über die Jahre im Widerstand und die Anfänge von Brandts politischer Karriere in Berlin geht Schäfer in großen Sprüngen hinweg. Und in der Deutung des Kanzler-Rücktritts folgt der Film etwas zu brav der Darstellung von Bahr und Harpprecht, dass einzig Wehner der böse Bube gewesen sei, der Brandts Pläne nach der gewonnenen Wahl 1972 buchstäblich in der Aktentasche verschwinden ließ. Brandt-Nachfolger Helmut Schmidt wird nicht nur nicht interviewt – von ihm ist auffallend wenig die Rede. Thomas Gehringer

„Willy Brandt“; Arte, Dienstag, um 20 Uhr 15; ARD, 17. 12., 22 Uhr 45

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