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Comic-Idee als Verschwörungsmythos. Zunehmend steigert sich Synchronsprecherin Mia (Victoria Schulz) in den Charakter von Kimiko hinein.

© Hannes Hubach

Comic-Verfilmung "Electric Girl": Unter Strom

Wie Victoria Schulz sich in "Electric Girl" in eigenen und fremden Texten und Bildern verliert, aber den Kopf immer oben behält.

Mia (Victoria Schulz) ist die gute Laune in Person. Als Barkeeperin hat sie für jeden Gast ein Lächeln, nach Feierabend feiert sie das Leben weiter, tanzend im Club mit ihrer Freundin Lissy (Svenja Jung). Studentin Mia ist nicht ohne Grund im Glücksrausch: Gerade hat sie die Zusage für einen tollen Job bekommen – als Synchronsprecherin der Titelheldin einer japanischen Anime-Serie. Zehn Staffeln!

Mia strahlt übers ganze Gesicht, ist ständig in Bewegung und im Film „Electric Girl“ von Ziska Riemann (Drehbuch, Regie) von Anfang an buchstäblich „unter Strom“. Dass die Sicherung rausfliegt, als sie in der Bar den maroden Stecker zieht, ist nicht verwunderlich.

Das andere, eigentliche „elektrische Mädchen“ ist Kimiko, die Superheldin in der japanischen Anime-Serie. Riemann, die selbst Comic-Zeichnerin ist, baut ab und zu animierte Trickszenen ein, ohne sie in den Mittelpunkt zu rücken. Kimiko ist eine junge Frau mit blauen Haaren und gelbem Mantel, die Japan vor zerstörerischen Dämonen retten muss. „Die Zukunft so vieler Menschen liegt in meinen Händen. Ich darf nicht versagen“, sieht und hört man Mia alias Kimiko zu Beginn im Tonstudio sagen.

Schon bald steigert sich Mia in die Vorstellung hinein, Kimiko zu sein. Eine Superheldin mit Superkräften. Nur sie kann die Dämonen sehen, die in Stromleitungen und W-Lan-Netzen lauern und die Menschen durch Magnetfelder manipulieren. Die Comic-Idee könnte auch als 1a-Verschwörungsmythos durchgehen.

Riemanns Film legt es nicht auf Gesellschaftskritik an, sondern auf eine rauschhafte Reise zwischen Wahn und Wirklichkeit. Mia, das manische Energiebündel, verwandelt sich in ihrer Hamburger Welt zum „Electric Girl“ mit blauem Haar und gelbem Mantel („Electric Girl“, Arte, Donnerstag, 22 Uhr 40).

Das kann sehr komisch sein, wenn sich Mia einem Stadtrundfahrt-Bus in den Weg stellt und auf dem Oberdeck einer Gruppe japanischer Touristen begegnet. Sie wirft einen Mann auf dem Bahnsteig zu Boden, während sich die einfahrende U-Bahn nähert, und schafft es damit als gefeierte Retterin auf die Titelseite einer Boulevardzeitung.

Ein rücksichtsloser, egomanischer Trip

Allerdings setzt Mia durch ihr zunehmend unberechenbares Verhalten den Job als Synchronsprecherin aufs Spiel. Außerdem blendet sie wegen ihrer manischen Psychose die familiäre Tragödie um ihren sterbenskranken Vater aus. Dann wird aus ihrem sympathischen Glücksrausch ein rücksichtsloser, egomanischer Trip.

In Riemanns drittem Langfilm sind die Grenzen zwischen Animation, Fantasy und Wirklichkeit fließend. Da kann es passieren, dass Mia bei einer Party vom Hausdach hüpft und unerklärlicherweise putzmunter auf der Feuerleiter des Nachbargebäudes auftaucht. Dass die Manipulationen der Dämonen – in Mias Wahrnehmung – auch in Hamburg wirken, schlägt sich in Bild- und Toneffekten nieder.

Wie Hauptdarstellerin Victoria Schulz als Mia durch den Film wirbelt, sich in eigenen und fremden Texten und Bildern verliert, aber den Kopf immer oben behält, ist bewegend und mitreißend. In dieses surreale Szenario passt durchaus, dass Mia ausgerechnet den verlotterten Nachbarn Kristof aus dem Erdgeschoss als ihren Co-Helden auserwählt.

Dieser Kristof hat sich ebenfalls, wenn auch auf andere Weise, aus dem realen Leben verabschiedet. Eine schöne Rolle für Hans-Jochen Wagner: Anfangs muss er als Jammerlappen im Unterhemd, der von Mias Energie schwer genervt ist, nur schweigsam herumsitzen. Dann lässt sich Kristof widerwillig in Bewegung setzen, und am Ende weiß man nicht, wer da mehr gerettet wurde.

Die eigentümliche Geschichte einer manischen jungen Frau mündet in ein bildschönes Finale, das in dieser deutsch-belgischen Kinoproduktion wie für die große Leinwand gemacht scheint. Dort fand sie 2019 kaum Zuschauer. Nun kommt „Electric Girl“, an dessen Drehbuch auch Luci van Org mitgeschrieben hat, endlich ins Fernsehen.

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