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Die Zukunft der Gesellschaft: Die Mechanismen von Computerspielen dringen immer weiter in den Alltag vor.

© dpa

Computerspiele und Gesellschaft: Wir wollen doch nur spielen

Gamestage und Computerspielpreis: Die Woche steht im Zeichen der "Spielifizierung", der zunehmenden Durchdringung der Gesellschaft mit PC-Spielen. Aber was macht die mit unserer Gesellschaft?

Die digitalen Ureinwohner sind unter uns. Sie jagen Datenschnipsel mit Smartphones, sie sammeln Freunde in sozialen Netzwerken. Und mit ihnen sind auch Computer- und Videospiele mitten in der deutschen Gesellschaft angekommen. Spätestens seit dem Gameboy wächst jede neue Generation mit besserer, leichter zugänglicher digitaler Unterhaltung auf. Von Smartphonespielen wie Angry Birds bis zum aufwendigen Vielspielererlebnis World of Warcraft auf dem PC: Es wird gespielt – und zwar immer mobiler und sozialer.

1,99 Milliarden Euro Umsatz machte die Branche mit digitalen Spielen 2011, teilt der Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware mit. Das sind 3,5 Prozent mehr als 2010. Jeder dritte Deutsche über zehn Jahre spielt mehrmals im Monat. Langsam löschen sich die gängigen Klischees aus dem kulturellen Gedächtnis, besonders das vom Gamer als pickeligem Nerd ohne Freunde, der bleich vor dem Bildschirm sitzt, noch bei Mutti wohnt und sich von Pizzaresten ernährt. Mittlerweile führen Symphonieorchester Konzerte mit Computerspielmusik auf, Theatermacher bringen digitale Spiele erfolgreich auf die analoge Bühne. Junge Menschen studieren Game Design und haben sehr gute Chancen auf einem wachsenden Arbeitsmarkt. E-Sportler können vor allem in Asien gut davon leben, auf Computerspiel-Wettkämpfen gegeneinander anzutreten.

Zwar gibt es bislang keine Lehrstühle für vergleichende Computerspiel-Interpretation, doch werden sie vor allem für Sozial- und Kulturwissenschaften zunehmend zum Thema. Ein gesellschaftliches Randphänomen sind die digitalen Spiele längst nicht mehr. Man könnte sogar sagen: So wie sie haben alle unsere Kulturgüter begonnen. Romane wurden verachtet, Avantgardekunst verlacht, Filme verdammt. Heute gehören sie alle zum Kanon der Hochkultur. Computerspiele sind auf dem besten Weg dorthin: 1997 wurde das bislang einzige Computerspielemuseum in Deutschland eröffnet, in dem die Daddel-Exponate allerdings keinen Staub ansetzen. Im Gegensatz zu so mancher Kunstrichtung sind Computerspiele noch quicklebendig – und prägen die Gesellschaft immer stärker.

Digitale Spiele durchdringen zunehmend unseren Alltag

„Gamification“, also „Spielifizierung“, nennen Experten das Durchdringen des Alltags mit digitalen Spielen und ihren Prinzipien. „Wir spielen in immer mehr gesellschaftlichen Kontexten“, fasst Computerspielforscher Christoph Klimmt das Phänomen zusammen. Die Grenzen zwischen Spielwelt und Alltagswelt lösten sich dabei zunehmend auf. Klimmt zufolge gibt es dafür vor allem zwei Ursachen: Erstens wachsen immer mehr Menschen mit Computerspielen auf, sowohl Jungen als auch Mädchen. Für sie ist die digitale Unterhaltung so normal wie Kartenspiele für ihre Eltern und Großeltern. Zweitens sind die Deutschen immer stärker und mobiler vernetzt, können jederzeit und fast überall mit anderen spielen.

Dabei kann es um Lernen gehen, um Sport oder um soziale Interaktion – jeder Lebensbereich kann spielerisch spannender werden. Die technologische Entwicklung geht damit buchstäblich Hand in Hand, denn anstatt Programmierbefehle in eine Tastatur zu hämmern, wird die digitale Welt aus Einsen und Nullen mit Touchscreens und 3-D immer anfassbarer, dinglicher, „echter“.

Zukunft der Computerspiele - zwei Seiten einer fiktiven Medaille

Die Industrie hat dieses gigantische Potenzial längst erkannt. Zum einen erweitert sie den Markt mit immer neuen Spiele-Modellen – momentan mit sogenannten „Freemium Games“. Die sind als Basisversion zwar kostenlos, doch müssen bestimmte Extras im Spiel bezahlt werden. Zum anderen können Spiel, Spaß und Spannung Kunden und Konsumenten prima motivieren. Noch steckt die Umsetzung in den Kinderschuhen, doch abgestufte Belohnungssysteme wie Kundenkarten gibt es längst. In Zukunft könnten beispielsweise Marktforschungsunternehmen ihre Internet-Fragebögen mit Minispielen ausstatten, damit mehr Menschen antworten. Arbeitgeber könnten das Spiel-Prinzip bald für die Mitarbeitermotivation nutzen, sagt Andreas Lange, der Leiter des Deutschen Computerspielemuseums. Hochmotivierte Menschmaschinen, die sich durch Spaß an der Sache so richtig ausbeuten lassen – für Lange ist das nicht erstrebenswert. Anderseits würden sich wahrscheinlich viele Arbeitnehmer über aufgepeppte Routineaufgaben freuen.

Blickt man etwas fabulierend in die Zukunft, tun sich Visionen von Himmel und Hölle auf: Schulklassen, die mit 3-D-Brillen einen Ausflug in die Urzeit unternehmen und dabei alles über Dinosaurier lernen. Digitale Parallelwelten, in denen aus Arbeitslosen intergalaktische Firmenmagnaten werden – und die damit dann ihren realen Lebensunterhalt verdienen. Der Triumph des glücklichen Homo ludens, des spielenden Menschen. Auf der dunklen Seite der fiktiven Medaille: Sucht, Eskapismus und totalitäre Systeme. Ein verrottender Planet, dessen letzte Bewohner sich in bunte Spielwelten flüchten. Unaufhörlich motivierte Menschen, die extrem effizient alles zu Tode schuften. Spiele, in denen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion fatal verwischen, wie es in den Filmen „Existenz“ und „The Game“ gezeigt wird.

So utopisch oder dystopisch wird es de facto wohl nicht werden. Auch die hysterische Killerspieldebatte ist mittlerweile abgeflacht. Dass der norwegische Rechtsterrorist und Massenmörder Anders Breivik das Fantasy-Onlinespiel World of Warcraft spielte, gar mit dem Ego-Shooter „Call of Duty“ das Zielen trainierte, hat bislang fast nirgendwo zu reflexartigem Spiele-Bashing geführt. Das zeigt, dass uns der Umgang mit Spielen immer vertrauter wird.

Ernsthafte Spiele

Dennoch ist klar, dass viele das Spiel-Prinzip für ihre Interessen instrumentalisieren möchten. Das muss nicht schlecht sein. Mit den sogenannten „serious games“ werden Spiele zu Pädagogen, Fitnesstrainern, Psychologen. „Dieser Markt blüht gerade so richtig auf“, sagt Museumsleiter Lange. Zwei Beispiele, die online spielbar sind: Bei „Darfur is Dying“ übernimmt der Spielende die Rolle eines sudanesischen Flüchtlings. Er muss Wasser holen und dabei aufpassen, dass ihn die Miliz nicht erwischt. Das Spiel soll auf die problematischen Verhältnisse im Sudan aufmerksam machen. Bei „Re-Mission“ können krebskranke Kinder und Jugendliche Tumorzellen abknallen. Das Ballerspiel soll ihnen dabei helfen, ihre Krankheit psychisch zu bewältigen. Auch Spiele, die der Gesundheit dienen, gehören dazu. Es gibt Spielekonsolen, vor denen man auf Punktejagd umherhüpft, um fit zu werden. Der Spielende nimmt mit dem Körper Einfluss auf das Spielgeschehen, indem eine Kamera die Bewegungen filmt oder ein Kasten auf dem Boden Gewichtsverlagerungen misst, und diese ihre Daten an die Konsole funken. Doch was wir zur Zeit erleben, ist nur der Anfang. Wie wird es in zwanzig Jahren aussehen?

Andreas Lange blickt der verspielten Zukunft optimistisch entgegen: „Das wird ein großer Innovationsschub mit spannenden neuen Spielen, die mehr Menschen zusammenbringen werden.“ Er findet die Entwicklung essenziell für die mediale Gesellschaft. „Wir dürfen wieder mitspielen“, sagt er. Denn ein riesiger Teil unserer Umwelt sei für uns in den letzten Jahrzehnten kaum zugänglich gewesen: die Massenmedien, vorneweg das Fernsehen. Sie machten die weite Welt zwar erlebbar, doch nur durch passive Berieselung. Weder konnten die Menschen in das Programm eingreifen noch selbst an Handlungen teilnehmen. Bei Computerspielen ist das anders. Wir können selbst entscheiden, was geschieht. Dadurch fühlen wir uns nicht nur besser, sondern gewöhnen uns auch daran, mitzubestimmen. Gut für uns, gut für die Demokratie. Vielleicht ist es ja die digitale Mitmachfreude, die den Piraten ihren momentanen Rückenwind verschafft? Wird die Spielifizierung Fluch oder Segen? Lange ist sich sicher: „Wir müssen den Umgang mit Computerspielen noch lernen.“

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