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Medien: Das Boßdorf-Dilemma

Die ARD entscheidet über die Zukunft ihres Sportkoordinators – und über ihr journalistisches Profil

Nehmen wir an, die Indizienfülle sei zur erdrückenden Beweiskette geschlossen worden: Listen, Verträge, Geldströme und alle Besuche bei Dr. Fuentes seien dokumentiert, der große Jan Ullrich per TV-Dokumentation zweifelsfrei des Dopings überführt. Natürlich darf er noch Stellung nehmen, wird mit den Fakten konfrontiert. Wer soll das tun? Der ARD-Sportkoordinator?

Selbst wenn Hagen Boßdorf sich inzwischen darin übt, den investigativen Doping-Aufklärer zu geben – er ist befangen. Von „Große Schleife, die Zweite – Tour de France 97“ über „Mein Tour-Tagebuch – Tour de France 1998“ bis zu „Ganz oder gar nicht. Meine Geschichte“ – immer wieder hat Boßdorf dem wenig eloquenten Ullrich als Ko-Autor geholfen. Erste Doping-Beschuldigungen hat Ullrich zur anonymen Verabreichung illegaler Rauschmittel in einer Disko umgedeutet. Oder kam die Idee von seinem Ko-Autor? Selbst wenn Boßdorf nun Ullrich hart angehen würde, wirkte das nicht erst recht wie der Verrat an einem Freund, um der eigenen Karriere willen?

Nehmen wir ein sportpolitisches Thema. Eben hat das Innenministerium dem Eislaufverband Gelder gesperrt, weil dieser darauf beharrt, den Stasi-belasteten Trainer Ingo Steuer zu beschäftigen. Nur als Parodie ist ein Interview Boßdorfs zum Thema denkbar. Boßdorf ist so Stasi-belastet, dass der NDR es vorzog, ihn nicht zum Sportchef zu bestellen. Nun wird sich niemand anmaßen, ex post über die Ost-Biografie eines ambitionierten jungen Mannes zu richten. Es geht nicht um das Recht der Berufsausübung, sondern um die Verlängerung des bis zum 31.3.07 geltenden Vertrags, der Boßdorf als Sportkoordinator und führenden ARD-Repräsentanten ausweist. Das ist eine der Entscheidungen, die die ab heute in Schwerin tagende ARD-Hauptversammlung aus Intendanten und Gremienvorsitzenden zu treffen hat.

Wie viele andere mochte Hagen Boßdorf sich nur scheibchenweise erinnern. Die ARD-Intendanten missbilligten per Beschluss seine unvollständigen Auskünfte. Durch Gutachten des SED-Forschers Jochen Staadt, Dokumente und Einlassungen aller Seiten hat das Bild dieser Zeit inzwischen Konturen erhalten. Ehrgeizig war der attraktive, breitschultrige Handballer. Er wollte Sportjournalist werden, herumkommen in der Welt. Gedient hat er beim Elite-Wachregiment Feliks Dzierszynski, vermutlich vorwiegend als „Funkstudio-Reporter der Politabteilung“. Es gibt einen Vorgang „IM Florian Werfer“, konspirative Treffen mit der Stasi sind belegt. Mal gab es etwas Geld. Vieles deutet darauf hin, dass die Stasi diesen „Florian Werfer“ ausersehen hatte als eine Art Romeo mit Westkontakt zu einer Göttinger Studentin, deren Zukunft womöglich in einem Bundesministerium lag. Obwohl Boßdorf es anders beschworen hat, deuten Indizien darauf hin, dass er auch die private Post dieser als „Adel“ geführten Person gemeinsam mit der Stasi durchsah und entsprechend abgestimmt antwortete. Er aber will keinen Verrat begangen haben.

Dieses große Wort „Verrat“ hält der Mann, der die Birthler-Behörde als „Jagdverein gegen Ostdeutsche“ bezeichnete, wofür er sich flugs wieder entschuldigte, für Sportreportagen vor. Als der deutsche Radler Jens Voigt es während einer schweren Alpenetappe wagte, den taktischen Anweisungen seines dänischen Arbeitgebers Folge zu leisten, echauffierte sich Boßdorf: „Also, was der Jens Voigt da macht, das ist wirklich wie Verrat an einem Freund.“ Das Radsport-Knäuel kann man von verschiedenen Seiten aufrollen: Wer für „besondere Berichterstattungsmöglichkeiten“ aus dem Gebührentopf 195 000 Euro im Jahr bekommt, kann davon natürlich gut 35 000 Euro – so die Behauptung des Dopingjägers Prof. Werner Franke über Jan Ullrich – in „verbotene Substanzen“ investieren und einen Ko-Autor anheuern, der in Nebentätigkeit das eigene Team in Bonn präsentierte, die T-Com-ViP-Lounge im Münchener Stadion unterhielt und hauptamtlich die „unabhängige“ ARD-Sportberichterstattung verantwortet.

Mit schwungvollem „Mea Culpa“ haben ARD-Obere, namentlich Programmchef Günter Struve, Boßdorf nun zumindest von der Verantwortung für die Sonderzahlung an Ullrich freigesprochen. Sie sei ein Fehler gewesen. Aber war sie die einzige? Gab es nicht zusätzlich zum Team-Sponsoring mindestens noch einen Einzel-Vertrag mit Ullrich-Berater Rudi Pevenage? Struve braucht Boßdorf. Nirgendwo sonst kann man so simpel Quote kaufen wie durch Sportrechte. Boßdorf hält Struve den Rücken frei. Er setzt sich kraftvoll durch gegen regionale Sportchefs. Er beackert das versumpfte Feld aus teuren Sportrechten und damit verknüpften Gegenleistungen, Medienpartnerschaften und Sponsoring. Soll man auf diese Stelle einen aufrechten Anti-Doping-Journalisten setzen, der es ernst meint mit journalistischer Distanz? Die ARD muss sich entscheiden. Aus Gründen der Selbstachtung. Ist das System zu einer Korrektur fähig? Dabei geht es nicht um den Charakter Hagen Boßdorfs. Es geht um das journalistische Profil, um Senden in öffentlichem Auftrag.

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