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Es leuchtet auf der Deutschlandkarte, wenn irgendwo in der Republik ein neuer Tweet abgesetzt wurde.

© Tarik Barri

Daten-Sinfonie: Wulff fiept

Wie aus Twitter-Nachrichten Musik wird. Das "Tweetscapes"-Projekt wurde im Berliner Club Berghain vorgestellt.

Eine Presseschau im Radio hört sich eigentlich immer gleich an, nämlich so: Ein Moderator verliest ein oder zwei Absätze aus vier oder fünf Zeitungsartikeln, die am Vortag geschrieben wurden. Es kann aber auch schneller gehen, in Echtzeit. Das Projekt „Tweetscapes“, das am Dienstagabend im Berliner Club Berghain vorgestellt wurde, ist eine Art Live-Presseschau, zumindest für „Twitter“-Daten.

Grundlage ist ein Programm, das den Datenstrom, den der Kurznachrichtendienst erzeugt, in Töne umwandelt. Die neue Presseschau tickert, gluckert, raschelt, fiept, dröhnt, klappert, zischt: jede einzelne Nachricht (von den Nutzern „Tweet“ genannt) wird hörbar, je nach Thema generiert das Programm einen anderen Ton. Versenden die Nutzer viele Smileys, ist die Grundstimmung der Soundcollage heiter, Anti-Smileys mit heruntergezogenen Mundwinkeln lassen die Twitter-Sinfonie eher düster erklingen.

Hinter „Tweetscapes“ stehen der Klangkünstler Anselm Venezian Nehls und der Informatiker Thomas Hermann. Nehls mischte am Dienstagabend die Töne hinterm DJ-Pult, Hermann erklärte, wie er sich als Sonifikationsforscher der Verklanglichung von Daten widmet und damit ein relativ neues Forschungsfeld erschlossen hat.

Von der Sonifikation profitieren vor allem, aber nicht nur, blinde Menschen. Indem visuelle Daten ein hörbares Pendant bekommen, können sie „Grafiken“ erfahren. „Tweetscapes“ ist damit so etwas wie eine Tagcloud für Blinde. Nur ist die Tonfolge nicht voraussetzungslos zu lesen. „Man braucht Hörexpertise“, sagt Hermann, und zieht den Vergleich zum Arzt, der lernt, ein Stethoskop einzusetzen. Der Hörer muss wissen, für welche Information welches Geräusch steht.

Um den Zuhörern im Berghain den Einstieg zu erleichtern, wurde eine Grafik an die rissige Betonwand projiziert. Zu sehen war eine dunkle Deutschlandkarte, mit unzähligen Leuchtaugen, die immer dann zwinkerten, wenn irgendwo in der Republik ein neuer Tweet abgesetzt wurde. Alle mit einem sogenannten hashtag „#“ gezeichneten Oberthemen erschienen als Worte auf der Karte: „wulff“, „rabatt“, „ausbildungsplatz“, „syrien“, „brustvergrößerung“. Zusammen mit den Tönen ergibt sich daraus eine hypnotisierende Nachrichtenerfahrung, wobei das Klangerlebnis den Informationswert noch übertrifft.

Aber das ist gewollt, die Sonifikation braucht erst einmal ein Publikum. Das soll künftig via Radio erreicht werden. Im „Deutschlandradio Kultur“ ist „Tweetscapes“ ab sofort zu hören und Auftakt einer Sonifikations-Serie. Bald könnte eine „Wettervorhörsage“ folgen. Eine solche hatte Hermann schon 2003 entwickelt und im Bielefelder Lokalradio getestet – mit positiver Resonanz: tröpfelte es im Radio, griffen die Hörer instinktiv zum Regenschirm.

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