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Debatte um Breivik-"Manifest": Tagesspiegel.de tappt in die Falle

In der Tagesspiegel-Redaktion wurde kontrovers diskutiert, ob das Breivik-"Manifest" veröffentlicht werden soll. Sara Schurmann argumentiert hier gegen eine Veröffentlichung.

Die Attentate in Norwegen waren nicht die Tat eines verwirrten Amokläufers, da sind sich die Medien weitgehend einig, auch der Tagesspiegel. Anders Behring Breivik nutzt bewusst eine terroristische Strategie: Der Tod der Opfer an sich hat keine Bedeutung für seinen Plan. Die Anschläge in Oslo und Utöya, Morde an 76 Menschen, hatten allein ein Ziel – Aufmerksamkeit für seine terroristischen Schriften zu wecken. Und Tagesspiegel.de tappt in die Falle und stellt das Pamphlet als PDF auf seine eigene Seite. Breivik allein kann damit das Wort an die Öffentlichkeit richten, was ihm die norwegische Justiz kurz zuvor beim Hafterlass verwehrt hat.

Die Tat war lange geplant, die Botschaften bewusst und gezielt im Internet gestreut. Das Facebook-Profil und der Twitter-Account von Breivik wurden erst wenige Tage vor den Anschlägen erstellt und von ihm mit Informationen und Botschaften bestückt, damit Journalisten sie nach der Tat finden. Seine Schrift „2083. A European Declaration of Independence“ hatte er nur Stunden vor dem Terrorakt per Email an norwegische Medien gesendet und, wie der Tagesspiegel berichtet, an amerikanische und europäische Rechtsextremisten. Breivik wollte, dass seine extremistischen und fundamentalistischen Gedanken eine breite Öffentlichkeit bekommt. Mit seiner Propaganda will er die europäischen Rechtspopulisten einen und Nachahmer motivieren, seinem Beispiel zu folgen. Mit seiner Tat will er beweisen, dass Widerstand gegen die aus seiner Sicht verblendeten Regierungen möglich ist. Eine Anleitung dafür bietet sein sogenanntes „Manifest“. Bei Tagesspiegel.de kann es nun jeder herunterladen und sich durch die über 1500 Seiten klicken – mit detaillierten Anleitung zum Bombenbau, zum Kampftraining und zur Vorbereitung von Attentaten.

Finden könnte es jeder Mensch mit Internetzugang auch so. Was einmal im Internet veröffentlicht wurde, ist kaum mehr zu löschen. Und das ist vernünftig. Die Öffentlichkeit soll und muss sich mit dem Attentat und seinen Hintergründen auseinandersetzten.

Journalisten haben aber nicht nur eine Chronistenpflicht. Es ist klar, dass sie über Terroranschläge und politische Extreme berichten müssen. Die Öffentlichkeit hat ein Interesse und Recht davon zu erfahren und sie muss sich selbst eine Meinung zu diesen Themen bilden. Heikle Themen dürfen nicht zensiert oder totgeschwiegen werden. Dabei helfen die pluralistischen deutschen Medien – und das Internet, das weitere Quellen aus der ganzen Welt bereithält. Jeder, der möchte, wird die Schrift Breiviks finden, jeder Fanatiker aber auch jeder normale Bürger. Aber es ist ein Hohn für die Opfer der Anschläge und ein Triumph für den Attentäter, dass ihm eine deutsche Zeitung hilft, sein Propagandaziel so problemlos zu erreichen.

Muss die Schrift Breiviks zur Meinungsbildung über den Server einer deutschen Tageszeitung bereitgestellt werden? Die Journalisten müssen das Manuskript ohne Frage sichten, es in ihren Artikel zitieren, auch im Wortlaut, und es vor allem einordnen. Sie müssen die pseudowissenschaftlichen Analysen des Terroristen auseinandernehmen und durchleuchten, wobei es sich um wahre gesellschaftliche Probleme handelt – und wo um reine Propaganda.

Aber sie müssen und dürfen dem Terroristen Breivik keine Plattform bieten, um seine Hetze gegen Muslime und seine diskriminierenden Ansichten zur Stellung der Frau in der Gesellschaft „zu erklären“ – und das gerade weil er das Leben so vieler Menschen zerstört hat. Einem Vergewaltiger oder Kindermörder würde man diese Gelegenheit nicht geben.

Der arabische Fernsehsender Al Jazeera wurde nach den Anschlägen vom 11. September 2011 oft dafür kritisiert, dass er die Videobotschaften Osama bin Ladens ausgestrahlt hat. Diese seien immer im Rahmen einer Kommentierung durch mehrere unterschiedliche Experten veröffentlicht worden, begründete der verantwortliche Chefredakteur Ibrahim Helal diesen Schritt bei den Mainzer Tagen der Fernsehkritik des ZDF im Jahr 2002. Nach einer Interviewanfrage des Senders bei Osama bin Laden, habe dieser einen Reporter in sein geheimes Lager bringen lassen und ihn gezwungen, seine Botschaft zu filmen. Die Gelegenheit eigene Fragen zu stellen, hatte der Journalist nicht. Bin Laden habe dem Sender die Wahl gelassen, das gesamte Video zu senden oder nichts. Al Jazeera strahlte das Video nicht aus, um sich nicht zum Sprachrohr von al-Qaida zu machen. Der Tagesspiegel hätte sich mit dem „Manifest“ Breiviks auseinandersetzen können, ohne seine menschenverachtende Hetzschrift selbst zu veröffentlichen.

An den Schluss des Dokuments hat Breivik Fotos von sich gestellt, auf denen er sich bewusst inszeniert und heroisiert - als männlich, adrett und als Kämpfer, in Uniform, in Taucherkampfausrüstung und mit Gasmaske. Viele deutsche Medien zeigen diese Bilder ohne auf die bewusste Selbstdarstellung zu verweisen, als hätten die Fotos Neuigkeitswert an sich. Hübsch anzusehen auch auf der Internetseite des Tagesspiegel. Die Leser sind sicher in der Lage, sich ein eigenes Bild von der Propaganda zu machen und sie als diese zu entlarven. Aber ohne den Kratzer der journalistischen Einordnung strahlen die inszenierten Hochglanzfotos um einiges zu hell.

Tagesspiegel.de hat das Breivik-"Manifest" zugänglich gemacht. Die Gründe dafür sowie eine Erwiderung auf Gegenargumente finden Sie hier.

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