zum Hauptinhalt
Auf der Lauer, auf der Mauer. Tristan (Ludwig Simon, v.l.n.r.), Zazie (Michelle Barhel), Hagen (Daniel Friedl), Lea (Luise Befort) und Rahim (Mohamed Issa) werden gleich einem Papierhersteller auf die Pelle rücken.

© dpa

Deutsche Netflix-Serie "Wir sind die Welle": Sie stellen alles in Frage

Das passt aber sowas von zu „Extinction Rebellion“ und Greta Thunberg: die deutsche Netflix-Serie „Wir sind die Welle“.

„Machen statt labern“, fordert Tristan (Ludwig Simon) von seinen Mitstreitern. Und er legt nach: „Taten statt Träume“. Da ist die Welle schon am Rollen, hat es Aktionen gegeben. Sexistische Werbung wird übersprayt, desgleichen die Wahlwerbung für die rechtsextreme Partei NFD. In einem Bekleidungsshop werden angeblich unverkäufliche Designerklamotten, die vernichtet werden sollen, damit die Preise schön oben bleiben, geklaut und an Bedürftige verteilt. Ein Papierhersteller wird von der Giftkloake seines Unternehmens überspült, einem Autohaus die SUV-Parade versaut, indem plötzlich auftretende Dämpfe den Kunden die Luft zum Atmen nehmen.

Jede Aktion wird dokumentiert und als Video ins Netz gestellt, geht viral, eine Jugendbewegung affiziert und irritiert die Kleinstadt. „Wir machen eine Welle“, steht bald an der Fensterfront des Geschwister-Scholl-Gymnasiums, wo sich eine Fünferbande zusammenfindet: Tristan, der rätselhafte neue Schüler, Lea (Luise Befort), „Prinzessin“ aus reichem Elternhaus mit Tennisfaible und Jura-Freund, die wutgeladene Zazie (Michelle Barthel), der ungelenke Bauernsohn Hagen (Daniel Friedl), Rahim (Mohamed Issa), der dagegen ankämpft, dass seine hilflosen Eltern von Investoren aus der Wohnung geschmissen werden.

Bis auf Lea haben alle „Welle“-Mitglieder Grund zur Kritik an den Verhältnissen, erst zur verbalen, dann zur tatsächlichen Rebellion, der Welt muss eine Welle gemacht werden. Der Welt, wie sie von den Erwachsenen und den Eltern gemacht wurde, regiert und bestimmt wird. Was gut daran ist? Wenig bis nichts, wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt.

Dynamik nimmt zu, Eigendynamik ebenso

Was als Idealismus beginnt, verwandelt sich, immer befeuert von Tristan, der lange verheimlicht, dass er Freigänger im Jugendknast ist, in immer kühnere Taten. Die Dynamik nimmt zu, dito die Eigendynamik, zur Störung der Verhältnisse kommen Sachbeschädigung und Eingriffe in fremder Leute Leben. Hatte sich der SUV-Verkäufer nicht nach oben geschuftet, gibt der brutale Schlachthof nicht Menschen Arbeit und Brot?

Die Netflix-Serie, sie ist das sechste deutsche Original, will das Für und Wider nicht ausführlich debattieren. Seine Aktivisten sagen, es sei genug geredet worden – und Reden hat nichts geändert. Es muss agiert werden, wenn Veränderung erreicht werden soll. Wie es schon im Eingangsmonolog heißt: „Wir stellen alles in Frage. Weil es höchste Zeit dafür ist. Und wenn wir euch damit Angst machen: umso besser. Ihr hattet alle genug Zeit – und habt sie verschwendet.“ Es geht um das Wachrütteln einer vermachteten Gesellschaft.

Die Macher von „Wir sind die Welle“ haben das große Glück (oder das geschickte Kalkül), sich mit ihrem Produkt im Zeitstrahl zu befinden. Sehr frei inspiriert vom Erfolgsroman „Die Welle“ von Morton Rhue und seiner erfolgreichen Verfilmung mit Jürgen Vogel lösen sich die Autoren um Head-Autor Jan Berger, lösen sich die Producer, zu denen auch „Welle“-Produzent Dennis Gansel gehört, vom Schulexperiment und schieben all die drängenden Themen, die Jugendliche umtreiben, in den Vordergrund. Dazu hatten Gansel und sein Team im Entstehungsprozess Schüler befragt.

Die sechs Folgen wollen spannend unterhalten. Die wenigen Gesprächsversuche zwischen Jugendlichen und Erwachsenen scheitern allesamt, insbesondere in der Familie von Lea. Die Fünferbande einigt sich schier argumentationsfrei auf die Ziele ihrer Aktionen, die Feinde sind blitzschnell erkannt; beides hat etwas von Rechthaberei.

Wie gefährlich ist Gruppendynamik?

Konflikte bleiben nicht aus: Soll der Kreis erweitert werden, ist die große Attacke der vielen auf den Schlachthof zwar eine spektakuläre, doch eine fragwürdige Aktion? Wo ein Zweck, sind da alle Mittel gerechtfertigt? Auch Gewalt? Wie verteilen sich Liebe und Sympathie, wo Tristan so cool agieren und wie der junge Robert Redford lächeln kann? Und wie gefährlich, unberechenbar ist Gruppendynamik?

Anca Miruna Lazarescu und Mark Monheim haben die sechs Episoden zu gleichen Teilen inszeniert. „Jung“ möchte man die Regiearbeit nennen, spielerisch in der Aktion-Action, authentisch beim Antrieb der Jugendlichen. Hier zeigt sich Entwicklung in den Biographien, gerade bei Lea, die sich von der Mitläuferin zur eigenständigen Akteurin wandelt. Die „Welle“-Mitglieder mögen individuell nicht überreich akzentuiert sein, doch Ungeduld und Verzweiflung, Entschlossenheit und Wut sind die glaubhaft ausgedrückten Werte in diesen Personen. Die „Welle“ macht eine Welle. Das will gespielt sein, das wird gespielt.

Die Jugendlichen hätten stärkere Gegenspieler verdient, so bescheiden sind die Erwachsenen akzentuiert. Da waren die Autoren tätig, als seien sie Holzschnitzer von Beruf. Brachial simpel sind die Herrscher dieser Welt, exemplifiziert im Kommissar Paul Serner (Robert Schupp) oder im NFD-Parteivorsitzenden Horst Berndt (Stephan Grossmann). Einfältig agieren sie so sehr, dass sich die Frage aufdrängt, wie sie eigentlich zu ihren Machtpositionen gekommen sind.

Hier macht die Produktion ihren einzigen großen Fehler, der auch die Neonazi-Gegenspieler zur Welle erfasst: Sie minimiert, ja reduziert die herrschende Generation und die Neonazis auf Doofmänner- und Dooffrauen-Niveau. Die haben aber mehr Kraft und Raffinesse und Machtwillen, als ihnen die Serienmacher zugestehen wollen.

Nicht mehr Kritik soll sein, sonst wird’s Gemecker. „Wir sind die Welle“ ist eine Tat, quasi die Serie zu „Extinction Rebellion“ und zu Greta Thunberg.

„Wir sind die Welle“, Netflix, sechs Folgen, verfügbar ab 1. November

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false