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Kaum ein Computerspiel ohne Text. Als funktionale Elemente wie im Spielmenü sind sie beinahe unverzichtbar.

© Oliver Berg/dpa

Die ganz anderen PC-Games: Am Anfang war der Text

Von Logbüchern und Chatzeilen bis zur Weltliteratur: Warum für manche PC-Spiele das Lesen unerlässlich ist.

Videospiele sind durchdrungen von Text. Von der Skriptzeile des Systemcodes bis zum Text im Spielmenü. Aber damit nicht genug. In vielen Spielen wird exzessiv geschmökert. Das Rollenspiel-Genre etwa lässt sich ohne Bücher gar nicht denken. Spiele wie „Pillars of Eternity“, „Divinity: Original Sin“ sowie Klassiker wie „Baldur’s Gate“ oder „Planescape Torment“ haben eines gemeinsam: Bücherfreunde fühlen sich hier ganz zu Hause.

In Spielen wird also gelesen, was das Zeug hält. Welche Rolle haben Lesen und Literatur in Games aber eigentlich? Es gibt magische Bücher, die bestimmte Fertigkeiten freischalten. Oder Textschnipsel und Zettelfragmente, die auf Aufgaben verweisen. Und häufig ist Lesen notwendig, um im Spiel weiterzukommen.

Manche Bücher sind in Spielen freilich auch schlicht und einfach eben nur das: Bücher. Voller anekdotenreicher Kurzgeschichten, wirrer Notizen, schräger Reime. Einige Spiele nehmen direkt Bezug auf Weltliteratur. Wie etwa „Metamorphosis“, eine Spieleadaption von Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Oder „A Year Walk“, in der der Spieler immer wieder Textfragmente nordischer Mythologie zu lesen bekommt.

Am Anfang war das Computerspielgenre der Interaktiven Fiktion. Handlung und Spielumgebung werden dabei komplett durch Text dargestellt. Weltweit populär wurde das Genre mit Meilensteinen wie „Zork“ im Jahr 1980. Diese textbasierte Interaktive Fiktion herrschte bis Ende der 1980er-Jahre, danach wurde das Genre von grafischen Adventures wie „Maniac Mansion“ abgelöst.

Das Genre lebt bis heute weiter und bringt immer wieder neue Indie-Perlen textfokussierten Gamings hervor. Wie das eben erschienene „Stilstand“ des Kopenhagener Studios Niila Games, das von der Einsamkeit der Moderne erzählt. Oder das Spiel „Emily Is Away“, das eine tragische Geschichte von Distanzierung und Vereinsamung zwischen Freunden nur per Chatdialog entfaltet und in dem deutlich wird, wie schmerzhaft laut das sein kann, was zwischen den Zeilen steht.

Von der Spielmechanik zum Spielspaß

Aber auch in Spielen, die nicht mehr hauptsächlich über Text agieren, nehmen Texte weiterhin eine tragende Rolle ein. In storylastigen Spielen, in denen die Narration einen besonderen Stellenwert einnimmt, ist der Lese-Anteil tendenziell höher. Aber: In den meisten Games kommt man zumindest um ein Minimum an Lesebereitschaft nicht herum. Spielmenü, Charakterstatistiken und sonstige Benutzeroberflächen sind auf Text angewiesen. Quests werden in Rollenspielen immer noch in Logbüchern gesammelt. Texte spielen in diesem Kontext eine schlicht funktionale Rolle. Die Texte sind spielmechanisch notwendig. Das Lesen wird hier zur Notwendigkeit. Das Spiel zwingt den Spieler gewissermaßen zur Lektüre.

Aber natürlich sind nicht alle Texte in Spielen in diesem Sinne funktional. Oft genug liest man in Spielen nicht, weil man muss. Sondern, weil man kann. Das ist die andere Rolle von Texten in Spielen. Viele Bücher, Textfragmente und Dialogzeilen haben keine wirklich spielrelevante Bedeutung. Aber sie zu lesen macht Spaß. Es unterhält.

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Ein Beispiel ist „Divinity: Original Sin 2“. Darin kann der Held die Fähigkeit erlernen, mit Tieren zu sprechen. Und was all die Hühner, Ochsen, Eichhörnchen und gestrandeten Haifische (!) am Wegrand des Abenteuers zu erzählen haben, ist für den Spielfortschritt nicht notwendig. Aber allemal lesenswert. Oder damals in Sierras „King’s Quest VII: The Princeless Bride“. Im morbiden Ooga Booga Land konnte man Spielstunden damit zubringen, sämtliche Epitaphe auf den zahllosen Gräbern zu lesen. Und war damit nicht nur gut beschäftigt, sondern auch gut unterhalten: „Graf Griesgram, der hässliche Alte / Rutscht aus, in den Graben er knallte / Die Familie frohlockt, weil so viel er verbockt / Das Freudengeschrei weithin hallte.“ Hier steht der Text für sich selbst und ist nicht der Spielfunktion untergeordnet.

Games wie „The Longing“ verwenden Literaturklassiker in ganz anderem Kontext. Die Texte dienen dazu, sich die Zeit zu vertreiben.
Games wie „The Longing“ verwenden Literaturklassiker in ganz anderem Kontext. Die Texte dienen dazu, sich die Zeit zu vertreiben.

© Promo

Texte wirken also einerseits als funktionales und andererseits als zerstreuendes Element in Spielen. Die Grenzen sind durchlässig. Einige Spiele vereinen beides produktiv. Etwa „The Longing“. In diesem Idle-Game des Stuttgarter Studio Seufz wartet der Spieler 400 Tage in Echtzeit darauf, seinen schlafenden König zu erwecken. Einzige Aufgabe ist es, die Zeit rumzukriegen. Dabei hilft, richtig, Lesen! Literaturklassiker wie „Moby Dick“ und „Also sprach Zarathustra“ können in Gänze am Bildschirm gelesen werden.

Damit die Zeit schneller vergeht

Das Lesen ist aber nicht einfach nur mehr oder weniger unterhaltsamer In-Game-Zeitvertreib. Sondern hat auch eine funktionale Rolle. Anselm Pyta von Studio Seufz erklärt: „Das Lesen in ,The Longing‘ hat einen Gameplay-Faktor, da die Zeit beim Lesen schneller vergeht. Dadurch kann man bestimmte Wartezeiten im Spiel verkürzen, wenn man will. Man kann das Spiel aber auch einfach nur wie einen Kindle verwenden und schlicht die Bücher genießen.“

Lesen in doppeltem Auftrag quasi. Lesen als spielmechanisches Element. Und Lesen als Zeitvertreib – im Spiel ebenso wie im echten Leben. Aber „The Longing“ setzt noch einen drauf: „Manchmal sind Notizen der Spielfigur ans Ende eines Buches angefügt, bei der sie ihre Meinung zu dem Werk kundtut. Am Ende von ,Also sprach Zarathustra‘ sinniert sie etwa: Wenn ich das hier lese, regt sich in mir der Wille, meine eigene Höhle zu verlassen. Ich frage mich, ob es einen Weg nach draußen gibt?“, erklärt Pyta.

Der spielerische Sinn dahinter? „Die Figur reflektiert über das gelesene Buch und gibt dadurch auch dem Spieler einen Hinweis auf einen möglichen Lösungsweg.“ Damit hat das Lesen in „The Longing“ nicht nur einen spielmechanischen Zweck. Sondern, wie Pyta bemerkt: „Dadurch wird Literatur als lebensverändernd und inspirierend inszeniert.“

Literatur und Lesen in Spielen können tatsächlich integrales Spielelement sein. Und zugleich etwas aussagen, das über das Spiel hinausweist. Wie in „The Longing“. Lesen im Spiel kann Lesen fürs Leben sein.

Nora Beyer

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