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Medien: Die Höchststrafe

Das Reality-TV belügt die Realität. Die Zuschauer haben diese Schamlosigkeit erkannt und schalten ab

Warum zeigen die eigentlich so was nicht mehr im Fernsehen: Früher – als sowieso alles besser war – da lief in schöner Regelmäßigkeit der Film „La Boum – die Fete“ in der ARD; darin geht es um eine 13-jährige Französin, gespielt von Sophie Marceau, die sich verliebt und am Ende einen Jungen küsst. Hört sich nach nix an, ist aber tatsächlich ein kleiner, großer Film über die erste Sehnsucht und war für das Flirtverhalten einer ganzen Generation ein entscheidender Film – auf den echten „Feten“ lief der Soundtrack des Filmes mit dem Hit von Richard Sanderson, in dem er singt: „Dreams are my reality“ – Träume sind meine Realität. Das war im Sommer 1980.

Das ist im Herbst 2004: Die Realität im deutschen Fernsehen sind Reality-Formate, sie heißen „The Swan“, „Big Boss“, „Popstars“, „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ und immer noch „Big Brother“. Aber diese Realität scheint für die Zuschauer kein Traum, sondern ein Albtraum zu sein: In der aktuellen Ausgabe des „Stern“ veröffentlicht das Magazin eine Forsa-Umfrage, nach der nur zehn Prozent der Fernsehzuschauer in Zukunft genau so viele Reality-Shows sehen wollen wie zurzeit. 21 Prozent wollen weniger Shows und 64 Prozent wollen gar keine mehr. Warum lag dann die Einschaltquote für „Ich bin ein Star – holt mich hier raus“ bei teilweise über 25 Prozent?

Erkennt der Zuschauer, dass die Sendung handwerklich gut gemacht ist? Schätzt er die von Gagautoren aufgeschriebenen Sätze der Moderatoren Dirk Bach und Sonja Zietlow? Will er Rache für all das, was ihm bisher von Carsten Spengemann oder Nadja Abd el Farrag angetan wurde?

Es scheint, als sei es schwierig zu ahnen, was der Zuschauer mag – was er nicht mag, begreifen die Programmmacher dagegen recht schnell. Nach nur einer Folge setzte Pro 7 die Sendung „Hire or Fire“ ab, in der ein Mann namens John De Mol Bewerbern einen Job als Kreativer im Fernsehen versprach, wenn sie sich einigermaßen schlau anstellen. Der Name der Sendung klang aber irgendwie nach Drogenmissbrauch. Kein Mensch kennt John de Mol, und was ein Kreativer beim Fernsehen macht, scheint den meisten schleierhaft zu sein. Ein ähnliches Schicksal widerfährt gerade der Unfugsendung „Der Tag der Ehre – Entscheidung im Boxring“. Die erste Show wollte am 14. November auf Pro 7 fast niemand sehen – was nicht ganz unverständlich ist, wenn man dabei zugucken soll, wie sich erwachsene Männer wegen nichts und wieder nichts verkloppen, und dabei von den Sympathieträgern Dariusz Michalczewski und Graciano Rocchigiani trainiert werden. Sieben Folgen waren geplant, es werden nun insgesamt vier, jede weitere ist ein Schlag ins Gesicht. Das haben auch die Zuschauer erkannt: Am Sonntag schalteten noch 1,08 Millionen den „Tag der Ehre – Entscheidung im Boxring“ ein.

Ein Schlag in die Magengrube ist „Big Boss“ mit Rainer Calmund. Die Sendung funktioniert im Prinzip so wie „Hire or Fire“, aber immerhin zeigt RTL heute die fünfte Folge, die letzte Folge wollten 2,96 Millionen Zuschauer sehen, das entspricht einem Marktanteil von 8,9 Prozent. Das ist wenig, aber immer noch zu viel, denn es bedeutet, dass sich tatsächlich fast drei Millionen Menschen freiwillig anschauen, wie sich ein Haufen unsympathischer Streber damit abmüht, Aufgaben zu erfüllen, wie eine Tagesreise nach Amsterdam zu organisieren. Leider ist es nicht einmal lustig dabei zuzusehen, wie sich die Mitglieder der Teams hinterher, getrieben von Karrieregeilheit und Geltungssucht, gegenseitig die Schuld zuweisen. Es ist schlichtweg widerlich, Menschen dabei zu beobachten, wie nach und nach alles Menschliche von ihnen abfällt, nur um von einem ehemaligen Fußballmanager, den man außerhalb des Rheinlandes schwer versteht, gelobt zu werden. Außerdem sehen die Kandidaten so aus, als wären sie auch in der Generalüberholungsserie „The Swan“ gut aufgehoben, die danach auf Pro 7 läuft. Aber da würden ihnen noch weniger Menschen beim Scheitern am Leben zuschauen – vergangene Woche waren es 2,31 Millionen, die Verona Pooth beim Moderierenüben ertragen haben.

Das Schlimme an dieser Sendung sind nicht die Operationen; sich über Schönheits-OPs aufzuregen, ist ähnlich sinnvoll, wie sich über das Wetter zu beschweren. Das Schlimme ist die dramaturgische Öde, die Austauschbarkeit der Frauen, die handwerklichen Fehler, die Vorstellung von Schönheit. Und diese unerträgliche Langeweile. Oder ist es am Ende doch genau so? Die Realität? Das wahre Leben? Nein, das ist es eben nicht. Das wahre Leben ist spannender, grausamer, vor allem aber ist es ehrlicher. Und die Zuschauer beginnen es zum Glück zu ahnen.

Warum zeigen die eigentlich so was nicht im Fernsehen: Vor ein paar Tagen in Berlin, Unter den Linden, im Café Einstein. Im wahren Leben trifft man hier manchmal die, die das Fernsehen machen, die Büros von ARD, ZDF, RTL und all den anderen sind nicht weit. An einem Tisch sitzen ein paar Männer und ein paar Frauen, Mitte 30, sie reden über Charts, über die ZDF-Telenovela „Bianca“, über Kontinuität im Programm. Einer sagt, dass die Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, die nach wie vor ein großer Erfolg ist, nur zwei Mal ausgefallen sei, seitdem sie läuft. Ein anderer bringt es auf eine Formel. Er sagt: „Fuck bin Laden. We are television.“ Und das bedeutet: Egal, was passiert, was die Menschen bewegt, wie es draußen in der Welt aussieht – wir senden. Und zwar was wir wollen.

Diese Formel, diese Arroganz, diese Wirklichkeitsfeindlichkeit, das ist nicht der Traum der Fernsehmacher. Es ist die Realität.

„Big Boss“, 20 Uhr 15, RTL

„The Swan – Endlich schön“, Pro 7,

21 Uhr 50

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