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Schweigegebot.  In Deutschland grassiert die Ansicht, die eigene Meinung könne nicht offen gesagt werden.

© imageBROKER/Christian Ohde

Die neurechte Mär von den "Sageverboten": Was? Was darf man nicht mehr sagen?

Im Spiel der Rechten mit ihrer sozialen „Ächtung“ fehlt die intensive, öffentliche Konfrontation. Und wenn es auf Wutbürgerdialoge hinausläuft.

Von Caroline Fetscher

Seit bald einer Woche sind die Thüringer Wahlergebnisse bekannt. Knapp ein Viertel der Stimmen in dem kleinen Bundesland fielen an die AfD, trotz oder wegen des dortigen Parteivorsitzenden Björn Höcke und dessen nationalistischem Furor. Seither tummeln sich Deuter des Phänomens ebenso vor Kameras und Mikrophonen der Medien wie AfD-Vertreter selber. Parallel dazu erklingt ein aufgebrachter Chor, der klagt, dass Leute wie diese kaum zu Wort kämen. So etwa der sächsische Anrufer bei einer Debatte im Deutschlandfunk, der den Eindruck hatte, in der Anne-Will-Runde vom Wahlabend sei der AfD-Gast oft unterbrochen oder „in die rechte Ecke gestellt“ worden. Allgemein dürfe man ja, zürnte der Hörer, nicht mehr sagen, was man denke! Zeit für mehr Dialog mit ihm blieb leider nicht, andere Hörer waren in der Warteschleife.

Was genau es ist, das „nicht mehr gesagt werden darf“? Das wäre aufschlussreich zu erfahren – ebenso wichtig wäre die Konfrontation solcher Ansichten und Auffassungen mit Debattanten, die über Faktensicherheit verfügen und das Weiterfragen nicht scheuen. Den öffentlich-rechtlichen Medien wie in den seriösen, privaten Sendern fehlt etwas wie der „Hard Talk“ der BBC im Großformat. Es fehlt die insistente und zeitintensive Auseinandersetzung mit Ansichten und Einlassungen, die meist rein suggestiv funktionieren und nur entzaubert werden, wenn reale Fronten zwischen Fakten und Fiktion sichtbar werden, hell und klar. Warum nicht: zwei, drei Stunden Streitzone mit einem exemplarischen Dutzend Erzürnter? Sie bekämen die Chance direkter Debatte mit Experten, etwa zu Verfassungsrecht und Strafrecht, Zeitgeschichte, Antisemitismus und Migrationspolitik, Großgruppenpsychologie und Mediation. Faktenchecks müsste es in der laufenden Sendung geben, sofort und zielgerichtet, wie das Feedback in XY-Ungelöst-Sendungen, bei denen Dutzende Mitarbeiter im Studio aktiv sind.

Zeit für Wutbürgerdialoge

So könnten offene Wutbürgerdialoge entstehen, und sie bräuchten Zeit. Doch Zeit ist ja da, nicht nur für endlose Quiz-Sendungen. Dutzende Stunden widmen auch die ergreifenden Langzeitbeobachtungen „Hartz aber herzlich“" auf RTL 2 den Communities in deutschen Armutssiedlungen und Plattenbauten. Da werden aufrüttelnde Biografien erzählt von Familien ohne Arbeit, ohne Lohn oder Visionen und Struktur. Politisch befragt werden die Protagonisten nie. Einen Wink geben allenfalls die Deutschlandfahnen am Balkon.

Mit Ausnahme der Bürgerplattformen vor Wahlen meiden Medien jedoch große Dialogformate, vermutlich aus Furcht, Trollen und Verschwörungsfreunden eine Bühne zu bieten, erregten Querulanten und zornig Verdrossenen. Doch genau solche laufen zu Hunderttausenden durchs Land, nicht allein in Thüringen. Sie bilden einen Großteil der Klientel des neuen Rechtspopulismus, der gerade Schnittmengen mit der Mitte entwickelt. Viele darunter haben Heißhunger nach Gehörtwerden, finden sich jedoch kaum je wieder im Dialog mit seriösen Kritikern, sondern bleiben in ihren Echokammern unter sich, bis sie zum Wahlzettel greifen.

Auf der Facebook-Seite des AfD-Sprechers Jörg Meuthen prangte diesen Sommer eine Klage über Talkshows des ersten Halbjahres, wonach „die AfD fast totgeschwiegen“ worden sei. Tatsächlich war die mit ihrer Ächtung renommierende AfD oft in Talkshows vertreten. Etwa bei „Maybrit Illner“ mit Alexander Gauland, bei „Anne Will“ mit Jörg Meuthen und Beatrix von Storch, die ebenso wie Guido Reil und Uwe Junge bei „hart aber fair“ auftrat, Auch „Maischberger“ hatte Alexander Gauland wie Meuthen im Studio. All das hindert die Anhängerschaft nicht an Kommentaren wie: „Die Talkshows sind die Nachfolger vom ,Schwarzen Kanal# aus DDR Zeiten.“ Als dürfe er, ein Konservativer, nicht aussprechen, wonach ihm ist.

Darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen?

Auf diese Weise beschweren sich wieder Unzufriedene, mit oder ohne Berufung auf die AfD, man könne seine Gedanken und Bedenken nicht mehr offen äußern oder dürfe auf bestimmte Fakten nicht hinweisen. Aus der Formel „Man wird doch wohl noch sagen dürfen, dass…“ ist „Man darf ja nichts mehr sagen!“ geworden. Erstaunlicherweise wird das oft von denen behauptet, die gerade dabei sind, etwas zu sagen.

Laut der jüngsten Shell-Jugendstudie glauben 68 Prozent der Menschen im Alter zwischen 15 und 25 der Aussage „In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden“. Vor ein paar Tagen fragte die „FAZ“: „Wo kommt man in einer Demokratie auch hin, wenn aus Angst vor sozialer Ächtung nicht mehr gestritten wird?“

Tatsächlich wird enorm viel gestritten, im Wortsinn auf allen Kanälen, denn die digitale Sphäre bietet mehr Ventile, Foren und Bühnen als je zuvor. Allerdings dringen Inhalte dieser fragmentierten Schatten-Öffentlichkeit eben kaum in die primäre, die größere mediale Öffentlichkeit ein. In der Breite sichtbare Konfrontation mit den Wildwest- und Wildost-Parolen, dem Verschwörungskosmos vieler Zeitgenossen findet kaum statt, was bei diesen wiederum den Eindruck noch verstärkt, sie müssten sich zum Munkeln im Dunkeln treffen.

Warum nicht ans Licht mit den Thesen? Und bitte mit Debatte, überall, im Fernsehen, im Radio, in der Printpresse und deren Online-Formaten. Worum geht es? In Deutschland darf man also nichts Schlechtes über Ausländer sagen? Wer ist „man“? Welche Leute sind mit „Ausländern“ gemeint? Was ist „etwas Schlechtes?“ Mario Draghi ist Italiener, seine Niedrigzinspolitik als Chef der EZB wurde viel kritisiert. Ist das „etwas Schlechtes“? Wen meinen sie denn sonst? Dürfen sie Sexualkundeunterricht nicht kritisieren, Migrationspolitik, Gendersprache? Laut einer Allensbach-Studie Anfang 2019 sieht weniger als die Hälfte – 42 Prozent – der Ostdeutschen in der Demokratie „die beste Staatsform“. Im Westen des Landes sind es fast 80 Prozent. Was meinen die Skeptiker? Was wollen sie stattdessen? Ging es ihnen in der DDR besser? Wünschen sie sich einen Kaiser oder König? Wie stellen sie sich das vor? Und wie begegnen sie realen Argumenten realer Anderer?

Die Entzauberung neurechter Phantasmen würde schneller, effektiver und spektakulärer vorankommen, sobald sagenhafte Behauptungen vom „Sageverbot“ wirklich auf Wirklichkeit stoßen. Solcher Mut wird gebraucht.

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