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Medien: Dienen und bedient werden

„Abenteuer 1900“: Mit 16 Folgen unternimmt die ARD-Serie eine Zeitreise in ein preußisches Gutshaus

Svenja steckt eigentlich in den Vorbereitungen für ihr Abitur, doch im Frühjahr 2004 lebt und arbeitet sie für zwei Monate als Hausmädchen auf einem Gutshof in Mecklenburg-Vorpommern – und zwar unter den Bedingungen des Jahres 1900. Das heißt: kein Telefon, keine Dusche, keine Wimperntusche, kein Fernsehen und keine Schokolade. Dafür 16 Stunden am Tag Böden schrubben, Wasser schleppen, Schuhe putzen und Nachttöpfe leeren. Die größte Herausforderung in dieser Zeit sei gewesen, sich in einer eisenharten Hierarchie ganz unten einzuordnen. So wie sie wurden 20 Menschen, die sich vorher nicht kannten, Teil eines Geschichts-Experiments mit dem Titel „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“. Neben dem Hausmädchen waren Posten als Kutscher, Hauslehrer, Stallbursche, Gouvernante, Mamsell und natürlich als Gutsherr zu vergeben.

Nach dem Grimme-Preis-gekrönten „Schwarzwaldhaus“ vor zwei Jahren, bei dem eine Berliner Familie auf einem Bauernhof im Stil von 1900 überleben musste, lag es nahe, eine weitere Variation des Themas Zeitreise zu inszenieren. Dass Regisseur Volker Heise und der Produktionsfirma zero film, die mit dem „Schwarzwaldhaus“ einen Quotenhit gelandet hatten, erneut ein bezauberndes Stück Fernsehen mit 16 Folgen gelingen würde, war dabei nicht abzusehen. Mancher befürchtete, dass die Konfrontation zwischen reicher Herrschaft und armem Gesinde eine Art „Big Brother“ für Geschichtsbeflissene werden würde. Doch außer den Klassenunterschieden und der inszenierten Realität haben beide Formate nichts gemeinsam. „Abenteuer 1900“ besticht durch seine vorzügliche Ausstattung und durch die perfekte Verwandlung der Teilnehmer.

Ein geradezu magischer Moment stellt sich etwa ein, wenn die Protagonisten – wie bereits beim Bauernhof-Projekt – in der so genannten Zeitschleuse aus ihren praktischen Anoraks und T-Shirts in lange Röcke, Schürzen und Puffärmelblusen schlüpfen, neue Frisuren erhalten und sich gestärkte Hauben, Kopftücher oder Hüte aufsetzen. Abgesehen davon, dass fast alle sofort zehn Jahre älter aussehen, strahlen sie auch auf einmal eine besondere Würde aus.Ein anderer wesentlicher Unterschied zu „Big Brother“ ist der arbeitsame Alltag der Bediensteten. Es ist spannender, jemandem beim Anfeuern antiker Öfen zuzusehen als beim Faulenzen auf dem Sofa; gleichzeitig entwickelt sich dadurch ein ganz anderer Respekt vor den Menschen, die sich auf diese achtwöchige Zeitreise begeben haben.

Die Leistung des Castings kann dabei nicht hoch genug eingeschätzt werden. Eine stets lachende Konditorin mit Apfelbäckchen wurde zum Küchenmädchen, eine umtriebige Berliner Gastronomin zur Mamsell und ein etwas griesgrämig-altmodischer Musiklehrer zum Hauslehrer. Und wo findet man schon ein Ärzte-Ehepaar, dessen sechs Söhne Namen wie Lennart-Eike, Rickmer-Sören und Enno-Philipp tragen? Zusammen mit ihren zwei großen Hunden geben sie eine wunderbare Gutsherrenfamilie ab.

Ein Regelheft, das klar die Aufgaben verteilte und auch die Sprachkonventionen festlegte, sorgt für authentische Umgangsformen. Das strikte Standesreglement schuf innerhalb kurzer Zeit eine echt preußische Ordnung, der sich keiner entziehen konnte. Dabei entstehen starke Emotionen, die bei einer Fernsehserie sehr willkommen sind. Svenja, das Stubenmädchen, weint, weil es die Arbeit kaum schafft, keine Zeit hat sich zu waschen und stets die Schuhe der anderen putzen muss, während die eigenen dreckig bleiben. Auch Sepp, dem Stallburschen, geht die fehlende Freizeit an die Substanz, und er malt sich wütend eine Revolution aus. „Unsere Protagonisten haben gelernt, Befehle zu geben oder Befehlen zu gehorchen, 16 Stunden am Tag zu arbeiten oder sich gepflegt zu langweilen, was auch nicht so einfach ist", sagte ARD-Programmdirektor Günter Struve bei der Vorstellung des Projekts. Und Mamsell Sarah, die das Regiment über die Bediensteten führte, erzählte: „Ein Teil meines Gesindes hat mich zeitweise gehasst.“ Verliebt hat sich hingegen niemand, bei dem enormen Arbeitspensum blieb dafür keine Zeit. Nur eine sehr charmante Szene gibt es, in der Sepp beim Blumenpflücken eine scheue Kontaktaufnahme mit dem Sommergast Karin wagt.

All das spielt sich in einer grandiosen Kulisse ab. Unter 50 Gutshäusern in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern machte Belitz nahe Güstrow das Rennen. Mit großem Aufwand wurde das Anwesen auf den Stand von 1900 zurückgebaut und ausgestattet. Dass die Tapeten für die herrschaftlichen Räume extra in Göteborg mit Druckmaschinen von 1870 angefertigt wurden, zeugt von etwas übertriebenem Perfektionismus. Der Effekt ist allerdings, dass dadurch unglaublich schöne Bilder einer ländlichen Idylle entstehen, bei denen man kaum fassen kann, dass sie ohne genaues Dialogdrehbuch, Schauspielerführung oder speziellen Lichteinsatz entstanden sind.

„Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“, ARD, ab heute Dienstag bis Freitag, um 18 Uhr 50

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